22. Juli 2022 Joachim Bischoff: Geld- & Kreditsteuerung löst globale Probleme nicht

EZB erhöht zum ersten Mal seit elf Jahren die Zinsen

Die Währungshüter um die Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, haben beschlossen, den sogenannten Hauptrefinanzierungssatz um einen halben Punkt auf 0,5% zu erhöhen. Dieser Zinssatz gilt, wenn sich Geschäftsbanken bei der Zentralbank Geld für einen längeren Zeitraum leihen.

Auch der sogenannte Einlagensatz wurde angehoben, und zwar von minus 0,5% auf 0,0%. Banken müssen somit nicht mehr draufzahlen, wenn sie überschüssiges Geld über Nacht bei der EZB parken.

Die Notenbank begründete diesen Schritt als Normalisierung: »Der EZB-Rat gelangte zu der Einschätzung, dass im Zuge seiner Leitzinsnormalisierung ein größerer erster Schritt angemessen ist als auf seiner letzten Sitzung signalisiert.« Zugleich machte sie deutlich, dass in den nächsten Monaten weitere Zinserhöhungen folgen werden.

Die Wende der EZB gilt als historisch, die auf eine lange Periode der Niedrigzins-Politik folgt. Bereits unmittelbar nach der Finanzkrise im Jahr 2008 gingen die Leitzinssätze drastisch in die Tiefe. Innerhalb nur eines halben Jahres senkten die Notenbanken der USA, Großbritanniens und die EZB ihre Zinssätze von vorher 4-6%t auf ein Niveau von 1% und weniger. Nur in Japan, wo der Notenbankzinssatz sich schon lange vorher zwischen 1 und 0% bewegt hatte, war der Rückgang minimal.

Ein Novum in der Finanzmarktgeschichte war also, dass nicht nur die um die Inflationsrate bereinigten realen Renditen negativ waren, sondern auch die nominalen Renditen, teilweise nahmen sogar die Nominalzinsen der Staatsanleihen in einer Reihe von OECD-Ländern negative Werte an. Für Staaten mit hoher Bonität war die Verschuldung damit zu einem profitablen Geschäft geworden.

Das gleiche gilt für den Europäischen Stabilitätsfonds ESM, der die zur Sanierung überschuldeter Staaten bestimmten Mittel inzwischen zu Negativrenditen an den Kapitalmärkten aufnehmen konnte. Die offizielle Begründung für die historische Niedrigzinspolitik war, die als Folge der Finanzkrise noch immer virulente Gefahr einer Deflation abzuwehren. Darüber hinaus sollte eine die konjunkturelle Erholung fördernde leichte Anhebung der Inflationsrate auf einen Wert von ca. 2% angestrebt werden.

Bis zum Beginn der Niedrigzinsphase galt der Grundsatz: Wer Geld verleiht, bekommt als Gegenleistung Zinsen, wer Schulden macht, muss dafür Zinsen bezahlen. Außerdem galt: Wer langfristig Geld anlegt, wird belohnt, denn dafür gab es die höchsten Zinsen. Diese ökonomischen Grundlagen wurden in der Niedrigzinsphase verändert: Schulden zu machen kostet fast nichts mehr, und wer Geld auf die hohe Kante legt, macht damit auf Dauer Verlust. Banken und große Unternehmen mussten für ihre Rücklagen sogar Negativzinsen zahlen.

Kritiker der Niedrigzinspolitik führen immer wieder an, dass Regierungen verschuldeter Staaten wenig Anlass sehen, ihren Haushalt in Ordnung zu bringen, wenn sie dafür wegen der niedrigen Zinsen kaum zur Kasse gebeten werden. Somit würden dringend notwendige Wirtschafts- und Strukturreformen verschleppt, ohne die ein langfristiger und nachhaltiger Aufschwung jedoch ausbliebe. Auf der Suche nach rentablen Anlageformen wird zudem immer mehr in Aktien und Immobilien investiert, was deren Preise in die Höhe treibt.

Verteidiger der Niedrigzinspolitik verwiesen darauf, dass die Regulationsmacht der zentralen Notenbanken nicht überhöht werden dürfe. Hinter den niedrigen Leitzinsen stecke eine Strukturveränderung der kapitalistischen Akkumulation. Die entwickelten Gesellschaften sind mittlerweile durch einen hohen Lebensstand, ein schwaches Wirtschaftswachstum und Anwachsen von anlagesuchendem Kapital, also einer Sparschwemme (saving gluts) charakterisiert.

Das enorme Angebot an Ersparnissen führte dazu, dass die Zentralbanken, die die Zinssteuerung in der Hand haben, empfanden, sie dürfen die Zinsen nicht steigen lassen. Sie müssen die Zinsen trotz gut laufender Konjunktur relativ niedrig halten. Es geht um eine sozialstaatliche Gestaltung einer Wirtschaft auf Wachstumskurs, die nun an der Schwelle zur Stagnation steht: mit sinkender Konsumnachfrage und geringem Wirtschaftswachstum.

Empirisch zeigte sich, dass das Zinsniveau bereits seit mehreren Jahrzehnten absinkt und es sich dabei um ein globales Phänomen handelt. Es könnten also auch grundlegendere Entwicklungen wie der demografische Wandel, die Verschiebung der Einkommensverteilung hin zu Beziehern hoher Einkommen und Veränderungen im privaten Vermögensaufbau und Kapitalbedarf eine Rolle spielen.

Die Ursachen für den weltweiten Fall der Zinsen sind intensiv diskutiert worden. Es existiert ein breiter Konsens, dass eine vor allem aus demografischen Gründen gestiegene Sparneigung eine Haupterklärung für diese Entwicklung sei. Dieses Argument wird von prominenten Ökonomen wie dem ehemaligen US-Finanzminister Larry Summers vertreten, der einen »chronischen Überschuss von Ersparnissen gegenüber den Investitionen« als »die Essenz der Säkularen Stagnation« versteht. Auch der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi vertrat diese These. Bereits 2005 hatte der spätere US-Notenbankchef Ben Bernanke die »globale Sparschwemme« als Haupterklärung für die niedrigen Zinsen in den USA identifiziert.

Mit der Rückkehr der hohen Inflationsraten wird die These und die expansive Geld- und Kreditpolitik in Frage gestellt. Für die Zentralbanken besteht die einzige Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass sie nur vorübergehend ist, darin, ihre Geldpolitik zu straffen und ein »normales« Niveau positiver Realzinsen anzustreben, statt sich an Theorien zu orientieren, um das anhaltend niedriges Niveau der Zinsen zu verteidigen.

Die Rekordinflation im Euroraum bewegte jetzt die Zentralbank zu dem ungewöhnlich kräftigen Straffungsmanöver: Erstmals seit dem Jahr 2000 hoben die Währungshüter die Leitzinsen um 0,5 Prozentpunkte an. In ihrer vorangegangenen Sitzung hatte die EZB lediglich eine Erhöhung um 0,25 Prozentpunkte angekündigt. Doch das wurde bereits in den vergangenen Tagen vielfach als nicht ausreichend eingeschätzt in Anbetracht der Rekordinflation von zuletzt 8,6% in der Eurozone.

Es geht also um mehr als eine Normalisierung: Die Rückkehr zu einer Bekämpfung der hohen Preissteigerungsraten kann das Ende der expansiven Kredit- und Geldpolitik eröffnen. Diese Strategie einer expansiven Geldpolitik geht zurück auf die Erfahrung aus einer weit zurückliegenden Krise – der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren. Während der Großen Depression hat der britische Ökonom John Maynard Keynes erkannt, dass der Staat Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Niedergang abwenden kann, wenn er Geld in den Wirtschaftskreislauf pumpt, dadurch die Nachfrage nach Konsumgütern steigt, die Produktion anspringt und die Arbeitslosigkeit zurückgeht.

Nach Keynes wurde es mehr und mehr möglich, den öffentlichen Sektor mit seinem Haushalt als Korrektur zur Krise und Gestaltung des Akkumulationsprozesses einzusetzen. Der Staat sollte den Überhang an Kapitalangebot abschöpfen und sich bei niedrigen Zinsen verschulden. Auf heutige Verhältnisse bezogen bedeutet das: Statt einer Haushaltspolitik der schwarzen Null soll der Staat Kapital in Bereiche fließen lassen, die für die Zukunft der Wirtschaft wichtig sind: etwa in den Ausbau des Sozialstaates, der Infrastruktur und in die Dekarbonisierung.

Nach längerem Zaudern läutet die EZB nun eine Zinswende ein und erhöht die Leitzinsen um einen halben Prozentpunkt. Immerhin: Überschuldete Euro-Staaten wie Italien, die schlecht auf steigende Zinsen vorbereitet sind, werden mit neuen Schutzmaßnahmen von den Marktkräften abzuschotten versucht. Denn gleichzeitig zur Zinserhöhung werden die Grundzüge einer neuen Schutzmaßnahme für überschuldete Mitgliedstaaten präsentiert.

Das Ziel besteht darin, eine unerwünschte Fragmentierung der Finanzierungskosten innerhalb der Euro-Familie abzuwehren. Bezeichnet wird das Werkzeug als »Transmission Protection Instrument« (TPI). Es soll sicherstellen, dass die Zinsen auf Staatsanleihen nicht allzu stark voneinander divergieren und die Geldpolitik der EZB im Währungsraum möglichst einheitlich wirkt.

Durch die Erhöhung des Leitzinses verteuern sich Kredite, was die Nachfrage abschwächt. Das hilft dabei, die Inflationsrate zu senken, senkt tendenziell aber auch das Wirtschaftswachstum. Für das laufende Jahr senkten die Notenbanken ihre Wachstumserwartung weiter signifikant ab.

Auch für die EZB wird der Kampf gegen die Inflation zum Balanceakt: Sie will die Zinsen so stark anheben, dass die Inflation ausgebremst wird – ohne dabei gleichzeitig Konjunktur und Arbeitsmarkt abzuwürgen und eine Rezession auszulösen. Und diese Feinsteuerung soll auch noch die unterschiedliche Verschuldung und Haushaltskonstellation der Mitgliedstaaten einfangen.

Wesentliche Ursachen der Preissteigerungen können die Notenbanken nur begrenzt beeinflussen. Die Unterbrechungen globaler Lieferketten und steigende Energiepreise reagieren nicht direkt auf die Leitzinsen. Auch die Folgen des Kriegs in der Ukraine und der Corona-Lockdowns in China können die Notenbanken nicht beeinflussen.

Feinsteuerung der Konjunktur ist ein hoher Anspruch, aber in der gesellschaftlichen Praxis kaum realisiert. Eine »sanfte Landung« über die Kreditsteuerung war bislang die Ausnahme. Schon jetzt haben sich viele Indikatoren der Konjunktur deutlich eingetrübt und ein Absturz in eine Rezession wird von vielen Beobachtern für unvermeidbar eingeschätzt.

Die gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse der Staaten waren bereits durch die Pandemie und die Folgen des Klimawandels erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Der Ukraine-Krieg hat diese Deformationen noch verstärkt. Wenn in China das Tempo der Akkumulation massiv heruntergefahren wird oder der Krieg in der Ukraine zentrale Handelswege blockiert, fehlt es rund um den Globus an Gütern. Fließbänder stehen still und Lieferketten sind massiv gestört, wie sich in den europäischen Häfen zeigt. Alle dies führt zur Erhöhung der Warenpreise. Die Erhöhung der Kredit- und Zinskosten ist also keineswegs ein bedeutender Beitrag zur Überwindung der Probleme.

Die Covid-Pandemie, der beschleunigte Klimawandel, das Ende der liberalen Weltordnung und der Krieg in der Ukraine markieren eine atemberaubende Kaskade von Umbrüchen. Die Rückkehr zur Geld- und Kreditsteuerung wird uns bei der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen wenig helfen.

Zurück