25. Januar 2024 Bernhard Sander: Macrons »staatsbürgerliche Wiederaufrüstung«

Fehlstart der neuen Regierung

Frankreichs neuer Premierminister Gabriel Attal und sein Kabinett aus ambitionierten Jungpolitiker*innen aus Macrons Partei »Renaissance« und vom ehemaligen Staatspräsidenten Nicola Sarkozy empfohlenen Überläufern aus der Republikaner-Partei ist dabei, durch individuelles Fehlverhalten und unbewältigte strukturelle Probleme einen veritablen Fehlstart hinzulegen.

(Update 26.1.2024) Am 25.1.24 erklärte Frankreichs Verfassungsrat einen großen Teil insbesondere der Paragrafen, die die Republikaner (LR) in den Gesetzestext hineinverhandelt hatten, für verfassungswidrig. Rund 50 Abgeordneten von Macrons Regierungskoalition votierten im Dezember gegen das Gesetz, das nur mit den Stimmen der LR verabschiedet werden konnte.

Es waren Positionen, die auch von der rechtsnationalistischen Rassemblement National Marine Le Pens (RN) vorgetragen werden, die nun im Entscheid des Conseil constitutionnel bemängelt werden: Das Recht der in Frankreich Geborenen auf die Staatsbürgerschaft, der eingeschränkte Zugang zu bestimmten Sozialhilfen, die Beschränkung des Rechts auf Familienzusammenführung für legal niedergelassene Immigranten oder auch eine Kaution für (außereuropäische) ausländische Studierende bei der Immatrikulation.

Ebenso verfassungswidrig – und das ist für die EU relevant – ist die Vorschrift, Einwanderern ohne Aufenthaltsberechtigung biometrische Daten abzunehmen, und die Festlegung von Einwanderungsquoten.

Große Teile der Bevölkerung teilen solche reaktionären Ansichten. Um die Verschärfungen rückgängig zu machen, hatte nicht nur der zuständige Innenminister sondern auch der Staatspräsident Zweifel an der Verfassungskonformität geäußert und den Rat angerufen. Der Ratsvorsitzende Laurent Fabius, ehemaliger sozialdemokratischer Ministerpräsident, wies Macron daraufhin zurecht. »Der Verfassungsrat ist keine Berufungskammer für die Entscheidungen des Parlaments.«

Sowohl RN als auch LR kritisierten den Spruch als Machtdemonstration (coup de force) und forderten eine Volksabstimmung. »Nur eine Verfassungsreform wird es ermöglichen, auf die migrantischen Herausforderungen zu reagieren, die unser Land mit voller Wucht treffen«, kommentierte Marine Le Pen. Ähnlich äußerte sich LR-Vorsitzender Eric Ciotti: »Um das Schicksal Frankreichs zu retten, brauchen wir eine Verfassungsreform«.

Emmanuel Macrons wiederholte Angebote nach Rechtsaußen führen die 5. Republik nicht aus der Radikalisierung heraus sondern erschüttern das Vertrauen in den Rechtsstaat und ermutigen diese politischen Kräfte zu weiteren Angriffen auf die Verfassung.

Auf der Pressekonferenz zum Jahresbeginn hatte der Staatspräsident zuvor seinen Plan zur »staatsbürgerlichen Wiederaufrüstung« des Landes verkündet. Doch Jupiters Stern verglüht. Macron forderte in einem TV-Live-Auftritt seine aufgereihte ministeriale Truppe auf, »das zu wagen, was wir nicht einmal mehr zu denken wagten«, ohne »Angst davor zu haben, gewisse Unzufriedenheiten zu wecken«. »Ich bin überzeugt«, dass »unsere Kinder morgen besser leben werden, als wir heute leben«, versicherte er.

Das Erziehungswesen stand im Mittelpunkt. Der Unterricht in Staatsbürgerkunde soll ab der fünften Klasse verdoppelt und ein Experiment mit einheitlicher Schulkleidung durchgeführt werden. Hundert freiwillige Schulen werden dieses Jahr daran teilnehmen, bevor sie 2026 allgemein eingeführt werden, wenn die Ergebnisse überzeugend sind. Eine Reihe von symbolträchtigen Maßnahmen setzte er ebenfalls auf die Agenda: das Absingen der Nationalhymne in der Grundschule und große Abschlussfeiern für die Abiturjahrgänge. Kein Wort, wie der Lehrkräftemangel behoben werden soll (3.000 Lehrer*innen fehlen). Der bisher freiwillige kasernierte Dienst in der Oberstufe soll verbindlich werden.

Zudem verlangt der Staatspräsident von seinen Ministern eine »demografische Aufrüstung«, da die Geburtenrate (nach Streichung vieler Familienbeihilfen) seit Jahren sinkt. Es soll ein neuer »Geburtsurlaub« eingeführt werden, der »besser bezahlt wird und es beiden Elternteilen ermöglicht, sechs Monate lang bei ihrem Kind zu sein« und den bisherigen Elternurlaub ersetzt. Bei jenen Ewiggestrigen, die Sympathien mit dem Vichy-Regime hegen (z.B. den 6% Anhänger*innen von Eric Zemmour), mag das im Vorfeld der Wahlen Sympathien bringen und bei ärmeren Familien Hoffnungen wecken, mit reaktionärer Familienpolitik könne das Haushaltseinkommen aufgebessert werden.

Der Rassemblement National begrüßte die Aufnahme dieses Themas, äußerte sich aber skeptisch über die Modalitäten der Ankündigungen von Macron. Der Sprecher der Partei, Philippe Ballard, erklärte: »Die Geburtenrate ist Alarmstufe Rot«, was die Anzahl der Geburten betreffe. »Ein Land, das Babys macht, glaubt an sich selbst und an die Zukunft, was derzeit nicht der Fall ist.« Auf der Linken und in den Frauenverbänden stoßen diese Pläne auf Widerspruch: »Demografische Aufrüstung? Der Körper der Frau ist keine Waffe [...] all diese schwülstigen Konzepte sind besorgniserregend«, meinte der LFI-Abgeordnete Alexis Corbière.

Die neue Kulturministerin Rachida Dati fiel gleich unangenehm auf, weil sie ihre Kinder auf ein reaktionär-katholisches Privatlyzeum schickt und von der Presse befragt, den Stundenausfall als Begründung angibt. Gegenüber der öffentlichen Kritik nahm der Staatspräsident, selbst Absolvent eines Jesuiten-Internats, die Ministerin in Schutz und wies jeden »Konflikt« zwischen Privatschulen und öffentlichen Schulen zurück. In Bezug auf die Einschulung von Kindern dekretierte er, dass »man Menschen nicht nach ihren individuellen Entscheidungen beurteilt«.

Der Staatschef forderte von seiner Regierung Maßnahmen, die es ermöglichen, »seinen Lebensunterhalt besser durch Arbeit zu verdienen«. An anderer Stelle war bereits von der Absenkung der Lohnersatzleistungen und der Sozialhilfe die Rede (Lohnabstandsgebot). Macron verlangte Verhandlungen in bestimmten Branchen, »damit die Lohndynamik den Anstrengungen entspricht«. Er äußerte zudem den Wunsch, dass Beamt*innen stärker »nach Leistung« bezahlt werden. Konkreter war seine Ankündigung, dass die von ihm geplante Steuersenkung für die Mittelschicht in Höhe von zwei Mrd. Euro ab 2025 erfolgen werde.

Er sagte auch, dass die Strompreise »wieder in die Norm zurückgehen«, also ansteigen werden, versicherte aber, dass sie »substanziell niedriger« bleiben würden als das, was die Verbraucher*innen in den europäischen Nachbarländern zahlen müssten. Konkret kündigte weniger Tage später der Finanzminister die Erhöhung der Stromtarife zwischen 8,6% und 9,8% an.

Emmanuelle Wargon, die der Energieregulierungskommission vorsteht, rechnet vor, dass die Abonnent*innen des Tarifs »Nebenzeiten«, d.h. diejenigen, die am meisten zur Senkung des Stromverbrauchs (und damit zu dessen Regulierung in angespannten Zeiten) beitragen, am stärksten benachteiligt werden. Für sie wird der Anstieg 9,8% betragen, was bei einem Einfamilienhaus, das von einem Paar mit zwei Kindern bewohnt wird, im Durchschnitt etwa 250 Euro netto pro Jahr ausmacht.

Die französischen Bürger*innen bezahlen die Kosten für den Preis-Schild (100 Mrd. Euro zwischen 2021 und 2023), der eine Zeit lang den Anstieg der Strom- und Gaspreise nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine begrenzt hatte. Seit Macrons Amtsantritt im Élysée-Palast ist die Rechnung damit um durchschnittlich 90 Euro gestiegen, was je nach Vertragsart einem Anstieg von 43–44% innerhalb von zwei Jahren entspricht, berichtet die Zeitschrift Politis. Le Monde meldete unterdessen, dass in den vergangenen drei Jahren die Zahl der Mindestlohnbezieher*innen von 12% auf 17% gestiegen sei (also um 41%). Für sie bedeuten die Strompreiserhöhungen erhebliche Belastungen. Die Ankündigung Macrons, die Zahl der neu zu bauenden Atomkraftwerke von sechs auf acht zu erhöhen, wird sich für diese Haushalte wohl nicht mehr spürbar auswirken.

Macron blieb alles in allem ansonsten eher unkonkret und es liegen bisher keine Kabinetts- oder gar Parlamentsvorlagen auf dem Tisch, sodass die Auseinandersetzungen erst einmal in den Talkshows und Nachrichtenportalen bleiben.


Ein mit der Verfassung z.T. unvereinbares Migrationsgesetz

Anders sieht es mit dem im Dezember verabschiedeten Migrationsgesetz aus, gegen das je nach Quelle zwischen 100.000 und 300.000 Menschen auf die Straße gingen. Sowohl die verantwortliche Ministerpräsidentin als auch Macron selbst hatten eingeräumt, dass dieses Gesetz in Teilen gegen die Verfassung verstößt. Alle warten gespannt auf den Spruch des Verfassungsrates, der von würdigen Elder Statesmen gebildeten Instanz, die darüber bald befinden wird.

Die nationalistisch-katholischen Republikaner haben die Tatsache genutzt, dass Macrons Koalition keine eigene Parlamentsmehrheit besitzt, und den Text in den Beratungen mit Forderungen aus dem Spektrum des Rassemblement National verschärft. Beispielsweise wurde die geplante prinzipielle Möglichkeit der Regularisierung von Migrant*innen ohne Aufenthaltspapiere, die in Bereichen mit sehr hohem Personaldefizit arbeiten, auf streng zu prüfende Einzelfälle begrenzt. Bei einigen Paragrafen kann man schon sicher sein, dass sie als unvereinbar mit der Verfassung gelten werden, und die bisherige Rechtslage bestehen bleibt.

So wollten die Republikaner das »Recht des Bodens« streichen, also den gesetzlichen Anspruch in Frankreich geborener Migrant*innen, mit 18 Jahren französische Staatsbürger*in zu werden. In den Augen der »Weisen«, wie die Mitglieder des Verfassungsrates oft genannt werden, dürften auch die drastischen Einschränkungen der Sozialhilfe und die faktische Aufhebung des Rechtsanspruchs auf Familienzusammenführung für bereits legal in Frankreich lebende Ausländer keine Gnade finden, weil sie unvereinbar mit den Menschenrechten sind.

Offen sind noch die Chancen für die jährlichen Quoten legaler Einwanderung, die der Gesetzestext im Zusammenhang mit einer Parlamentsdebatte zu dem Thema vorsah. Über die kostenlose staatliche Gesundheitshilfe, die den ärmsten französischen Bürger*innen und auch den Migrant*innen ohne französischen Pass zusteht, soll später in anderem Rahmen debattiert und entschieden werden. Ihre Beibehaltung war im Gesetzentwurf enthalten, musste aber auf Druck von LR entfernt werden. Das Urteil des Verfassungsrates wird nicht ohne Folgen für die Spielräume auf europäischer Ebene bleiben, wo ebenfalls mit Einwanderungsquoten hantiert wird.


Bauernproteste

Die größte Sorge wird sich allerdings die Regierung um die Bauernproteste machen, die neben zahlreichen Autobahnblockaden bereits zwei Tote gebracht haben. Auf ein Gebäude der regionalen Umweltverwaltung wurde ein Sprengstoffanschlag verübt. Scheiben gingen zu Bruch, im Parterre wurden Büros verwüstet. Der Anschlag wird einem Weinbauverband zugeschrieben.

Ursprünglich gingen die Landwirte in Frankreichs Südwesten auf die Barrikaden, weil sich in der Region die aus Spanien eingeschleppte Rinderseuche EHD ausbreitete. Sie forderten staatliche Hilfe bei der Bekämpfung der Krankheit und den Ausgleich von Verlusten. Die Nachrichten und Bilder der Bauernproteste in Deutschland und anderen europäischen Ländern dürften sie zusätzlich mobilisiert haben. Doch die Wut der rund 500.000 Bäuer*innen im größten Agrarland der EU staut sich schon seit Monaten auf, wenn nicht Jahren – und hat vielfältige Ursachen.

Verbandsvertreter weisen darauf hin, dass es zum Umwelt- und Konsumentenschutz zig Regularien zu beachten gelte, gleichzeitig schließe die EU mit Ländern wie Neuseeland, Australien oder bald mit den Mercosur-Staaten ein Freihandelsabkommen nach dem andern, die den Wettbewerb verzerrten (Soja, Rinder). Hinzukommen seit zwei Jahren die ukrainischen Dumping-Exporte von Getreide.

Dürre und Wassermangel stellen insbesondere die Bauern im Süden des Landes vor erhebliche Herausforderungen. Von Premierminister Attal fordern sie daher weniger Steuern auf den Wasserbezug und die Beibehaltung von Zuschüssen für Agrardiesel. Vor einem knappen Jahr gab es um den Bau eines Wasserreservoirs für einen Agrarverarbeiter militante Auseinandersetzungen mit Schwerverletzten und Anklagen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Von den rund 500.000 Landwirt*innen dürfte laut Landwirtschaftsminister Marc Fesneau rund ein Drittel in den kommenden zehn Jahren aufgeben. Wegen der schlechten Arbeitsbedingungen und Einkommensperspektiven fehlt oftmals Nachwuchs. Gegenüber Le Monde berichtet ein Bauer: »Mit seinem Bestand an Milch- und Fleischrindern verdiente Cyril Cottin zu Beginn seiner Tätigkeit vor 18 Jahren 1.000 Euro im Monat, heute sind es 800 Euro, ›obwohl sich die Größe meines Hofes und meine Milchproduktion verdreifacht haben‹.« Pierre Boissou, der 1.500 Schafe auf 300 Hektar Land hält, beklagt: »Uns werden die Beihilfen gekürzt: In einem Jahr verlieren wir 12.000 Euro netto. […] Wir können zwischen 1.000 und 1.500 Euro im Monat verdienen – das ist besser als das Durchschnittseinkommen, das zwischen 600 und 100 Euro liegt -, aber für 70 Stunden Arbeit pro Woche.« Michel Houellebecq hat den Abstieg der selbständigen Bauern samt eines veritablen bewaffneten Aufstandes 2019 in seinem Roman »Serotonin« eindringlich geschildert. Mittlerweile haben die Proteste auch auf Belgien übergegriffen.

In der Presse werden Parallelen zu den Gelbwesten untersucht, deren Bewegung vor fünf Jahren ebenfalls im ländlichen Raum großen Rückhalt hatte. »Macrons Euro will den Tod unserer Bauern«, behauptet Jordan Bardella, der Spitzenkandidat der EU-Liste des Rassemblement National, die aus der Wut der Bauern bei den Wahlen Kapital schlagen will.

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