26. August 2021 Joachim Bischoff/Björn Radke: Kanzlerkandidat Scholz mit Vorsprung

Finish im Wahlkampf: Die SPD holt auf

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Es ist nicht zu bestreiten: Olaf Scholz hat im politischen Wettbewerb für die Nachfolge von Angela Merkel im Kanzleramt die Nase vorn. Die spannende Frage lautet: Was sind die Gründe für diesen Aufstieg des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten.

Die in den Medien mehrheitlich verbreitete Antwort auf das »Scholz-Wunder« lautet: Der SPD-Kandidat habe vor allem keine Fehler gemacht, besser gesagt keine, die bei den Wähler:innen hängen geblieben sind. Scholz blieb erstaunlich unbeschadet, trotz seiner in den Medien breit ausgebreiteten Kritik an der politischen Verantwortung für die Cum-Ex-Affäre und den Wirecard-Skandal.

Armin Laschet (CDU) und Annalena Baerbock (Grüne) sind in der öffentlichen Diskussion massiv kritisiert worden. Bei Laschet wurde neben der politischen Profillosigkeit vor allem sein unglücklicher Auftritt in der Flutkatastrophe attackiert und Baerbock hatte sich wegen ihres geschönten Lebenslaufs und eines schlampig redigierten Wahlkampfbuches angreifbar gemacht. Die politischen Schwächen des Kandidaten Scholz in den Affären Wirecard und organisierter Steuerhinterziehung treten gegenüber den aktuellen Themen zurück. Mittlerweile dominieren andere Themen, vor allem Afghanistan und die Bewältigung der Flutkatastrophe vom Juli.

Zur politischen Erzählung eines »Scholz-Wunders« gehört auch der Aufstieg der Sozialdemokratie in den Umfragen. Nach neuesten Daten ist die SPD gut einen Monat vor der Bundestagswahl erstmals seit Jahren in einer Sonntagsfrage wieder stärkste politische Kraft in Deutschland. In einigen Umfragen kommen die Sozialdemokraten auf 23%, die Union erreicht 22%.

Grundsätzlich spiegeln Wahlumfragen nur das Meinungsbild zum Zeitpunkt der Befragung wider und sind keine Prognosen auf den Wahlausgang. Sie sind außerdem immer mit Unsicherheiten behaftet. Unter anderem erschweren nachlassende Parteibindungen und immer kurzfristigere Wahlentscheidungen den Meinungsforschungsinstituten die Gewichtung der erhobenen Daten. Dennoch markiert die erfolgreiche Aufholjagd der SPD und vor allem ihres Spitzenkandidaten auf der Zielgeraden eine Trendwende.[1]

Scholz zeigt bei der Beurteilung der Aufwärtsbewegung in den Umfragen durchweg gesellschaftliche Bodenhaftung: »Viele trauen mir zu, die nächste Regierung zu führen, und das ist ja kein einfaches Amt. Insofern bin ich sehr bewegt davon, wie viele das tun … Natürlich ist es auch etwas Besonderes zu sehen, dass sich jetzt auch die Zustimmung zur SPD erhöht.« Der Trend sei eine Ermutigung, mit großer Demut die letzten Wochen des Wahlkampfes weiterzuführen. Auch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil zeigt sich gut vier Wochen vor der Wahl zuversichtlich: Die Botschaft im Zielfinish laute: »Scholz packt das an.«

Was sind die inhaltlichen Aussagen? Angesichts der sich abzeichnenden vierten Infektionswelle der Corona-Pandemie bleibt Scholz beim bisherigen Kurs der SPD. Er wirbt für einen schnelleren Impffortschritt und befürwortet auch eine Veränderung bei den Corona Tests, die ab Mitte Oktober kostenpflichtig sein sollen: »Es sind zig Millionen Deutsche geimpft, man kann also sich bei seinen Nachbarn erkundigen, wie es war ... Und wir können jedem berichten, es ist gut ausgegangen und wir fühlen uns jetzt sicherer.«

Scholz bleibt mutig, programmatisch sattelfest und die SPD folgt ihm geschlossen. Mit diesem Langfristrezept soll auch die Pandemie ohne Impfpflicht niedergekämpft werden: »Das ist politisch von allen so getragen und ich glaube auch richtig, denn es geht ja doch darum, dass wir die Bürgerinnen und Bürger überzeugen.«

Bei der überfälligen ökologischen Transformation setzt der SPD-Kandidat auf Realismus, den er bei der Bewältigung der Corona-Pandemie und der Flutkatastrophe gleichfalls praktiziert hatte. Angesichts der Grünen-Forderung nach einem Kohleausstieg bis 2030 legt er die Priorität auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. Nur dann werde der gesetzlich festgelegte Umbau der Industrie auf CO2-Neutralität bis 2045 gelingen. Schon im ersten Jahr müsse eine neue Regierung »sofort alle Gesetze ändern, damit wir auch rechtzeitig fertig werden mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien, sonst werden nämlich alle Pläne, die wir gefasst haben, nichts werden«.

Scholz hat also eine deutliche Vorstellung von den dringendsten Zukunftsaufgaben, ähnlich wie sie von einem Großteil der Wahlbevölkerung eingeschätzt werden. Neben der Bewältigung der Pandemie –Infektionsgeschehen, wirtschaftliche und soziale Folgen – steht die Transformation der Ökonomie in Richtung auf Klimaneutralität auf der politischen Agenda.

Der SPD-Kandidat trifft die Stimmungslage, was die wichtigsten Themen sind, präzise. Im Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen war die Pandemie mehr als ein Jahr lang das mit Abstand wichtigste Thema – vor dem Klimawandel, der Migration und der Wirtschaftslage. Ende Juni bezeichneten erstmals wieder weniger als 50% der Befragten Corona als »wichtiges Problem«. Das Thema Klima hingegen hat stark an Bedeutung gewonnen.

Eigentlich wäre angesichts dieser Konstellation ein weiterer Aufstieg der Kandidatin der Grünen zu erwarten gewesen, aber die Betonung von Scholz mit den Werten Pragmatismus und Realismus überzeugen offensichtlich mehr Befragte. Die Deutschen halten zumindest in Umfragen den SPD-Mann für deutlich kompetenter als Baerbock und Laschet.

Der SPD-Finanzminister der Großen Koalition personifiziert den energischen Kampf des Staates gegen die ökonomischen Folgen der Pandemie, auch um den Preis einer enormen Erhöhung der Staatsverschuldung. Obwohl die konservativ-liberalen Wächter über einen sparsamen Umgang mit den öffentlichen Finanzen reichlich Anlass zu kritischen Nachfragen hätten, konnte sich das Thema »Einhaltung der Schuldenbremse« sich im öffentlichen Diskurs nicht festsetzen.

In der Corona-Krise, in der sich viele Deutsche offenbar nach einem starken, schützenden Staat sehnen, vermochte Olaf Scholz sein Ansehen weiter zu mehren. Mit dem Slogan »Mit Wumms aus der Krise kommen« stellte er bereits Anfang Juni des letzten Jahres das milliardenschwere Konjunkturpaket der Regierung vor.

Der Finanzminister spielt seine Rolle im Wahlkampf aus: Deutschland habe die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie gut bewältigt, auch dank Kurzarbeit und Hilfsgeldern. Nun gelte es zudem, einen 30-Milliarden-Euro-Fonds für die Opfer der Flutkatastrophe auf den Weg zu bringen.

Auch die militärisch-politische Wende in Afghanistan bringt den Kandidaten nicht aus dem Tritt. Er sei traurig über die historische Niederlage des Westens. Es sei zwar gelungen, al-Qaida zu besiegen, doch eine wehrhafte Zivilgesellschaft sei dabei nicht entstanden. »Wir können nichts von außen hereintragen, was in den Ländern selbst erkämpft werden müsste«, erklärt er das Dilemma des Westens. Nun müsse den Flüchtlingen in den Nachbarländern geholfen werden. Um dies zu tun, habe Berlin bereits erste Mittel an das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen überwiesen.

Diese Position trifft ebenfalls die Stimmung eines Großteils der Bevölkerung. In einer jüngsten Umfrage wurde die Einstellung zum Einsatz und Rückzug der Bundeswehr in Afghanistan abgefragt. Etwa die Hälfte der Bundesbürger:innen stellt das Engagement der deutschen Soldaten rückblickend nicht grundsätzlich in Frage. 41% vertreten die Meinung, dass der Einsatz richtig war, allerdings auch hätte fortgesetzt werden müssen. 10% bezeichnen Einsatz als richtig, unterstützen den Rückzug aber ebenso. Für 40% war der Einsatz dagegen von vornherein ein Fehler.

Der SPD-Kandidat Scholz überzeugt im Vergleich zu den anderen Mitbewerber:innen für die Kanzlerschaft der Berliner Republik. Mit seinen programmatischen Positionen kann sich ein Großteil der Bevölkerung arrangieren. Gleichwohl dürfte seine Kanzlerschaft – unterstellt, die die Erholung der SPD hält bis zum Wahltag an – nur dann möglich werden, wenn die SPD eine Koalition mit den Grünen und der Linkspartei einginge. Für ein solches Linksbündnis erscheint allerdings kaum ein Sozialdemokrat weniger geeignet als gerade Olaf Scholz. Und auch die Linkspartei hat innerparteilich etliche Weichen so gestellt, dass eine solche politische Option realitätsfern erscheint.

In der heißen Phase des Wahlkampfs wird neben Corona und Klimapolitik auch die Weltpolitik (Afghanistan) eine große Rolle spielen. Bis jetzt sieht es nicht so aus, als könnten die Grünen, die sich hinsichtlich Koalitionsaussagen – bis auf Ausnahmen wie Cem Özdemir – bislang zurückhalten, mit ihrer ökologischen Grundausrichtung ausreichend punkten. Umfragen sind jedoch nur eine Momentaufnahme der Stimmung im Land und lagen in letzter Zeit bei anderen Wahlen deutlich daneben. Bis zum Wahltag am 26. September kann noch einiges passieren.

Anmerkung

[1] Dies gilt auch für die gleichzeitig anstehenden Landtagswahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Nach einer aktuellen Umfrage kommt die SPD in Mecklenburg-Vorpommern auf 36%. Die mitregierende CDU stürzt regelrecht ab. Angeführt von ihrem Spitzenkandidaten Michael Sack kommt sie abgeschlagen nur noch auf 15%. Das sind 4% unter ihrem historisch schlechtesten Ergebnis von 2016. Die AfD liegt mit 17% wieder vor der Union auf Platz zwei. DIE LINKE verliert leicht und kommt auf 11%. Auch die Grünen büßen einen Prozentpunkt ein und landen bei 6%. Sie wären damit im Landtag vertreten, ebenso wie die FDP, die sich auf 8% verbessert. Gut vier Wochen vor der Wahl gewinnt die SPD auch bei Sachthemen. 41% trauen der Partei zu, die wichtigsten Aufgaben im Land zu lösen, ein Plus von zwölf Prozentpunkten. Auch hier sackt die CDU ab. Rund vier Wochen vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus haben die Sozialdemokraten ebenfalls deutlich aufgeholt und liegen nun auf Platz eins. Demnach käme die Berliner SPD mit ihrer Spitzenkandidatin Franziska Giffey auf 23% und liegt klar vor der CDU, die zwei Prozentpunkte verliert und nun bei 19% steht. Die Grünen büßen der Umfrage zufolge sogar fünf Prozentpunkte ein und landen bei 17%. DIE LINKE erreicht laut Infratest dimap unverändert 12%, die AfD legt um einen Punkt auf 11% zu, die FDP verliert einen Punkt und erreicht 8%. Die sonstigen Parteien kommen auf 10%.

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