29. November 2017 Hinrich Kuhls: Haushaltsdebatte in Britannien

Fiskalpolitik im Zeichen des Brexit

Foto: Links Philipp Hammond, rechts John McDonnell

Die Aktualisierung der Fiskal- und Wirtschaftspolitik der britischen Regierung in der Haushaltsrede des Schatzkanzlers Philipp Hammond am 22. November war in diesem Jahr von einiger Aufregung begleitet.

Ökonomische Basisdaten sowie Prognosen einiger Institute hatten vier Hauptprobleme der wirtschaftlichen Entwicklung des Vereinigten Königreichs ins Rampenlicht gehoben: Austerität, Produktivitätswachstum, Ungleichgewicht von Industrie- und Finanzsektor, Rückwirkungen des Brexit.

Schattenkanzler John McDonnell hatte eine Woche zuvor die haushaltspolitische Alternative der Labour Party als »Regierungspartei im Wartestand« vorgestellt: Statt Fortsetzung des harten Sparkurses eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben, zunächst um jährlich 17 Mrd. Pfund, gegenfinanziert durch Steuererhöhungen für sehr hohe Einkommen und bei Unternehmenssteuern. Zugleich vermerkte er seitens der Industrieverbände Zustimmung für eine Ausweitung der Staatsverschuldung zwecks Erhöhung der Ausgaben für Infrastruktur, Investitionsanreize und Qualifikationsanforderungen. [1]

Späteren Vorwürfen, er würde sich um die zusätzlichen Zinsbelastungen für neue Anleihen und Kredite einen Teufel scheren, wies McDonnell mit dem Hinweis auf das derzeitige niedrige Zinsniveau zurück. Die Beendigung der Austerität und die Ausweitung der Investitionen in die Infrastruktur und in die industrielle Basis stehe landesweit im Zentrum der wirtschaftspolitischen Debatte. »Wir werden die Auseinandersetzung über die öffentlichen Investitionen gewinnen.« (Guardian 27.11.17)

Die britische Regierung ist gehalten, ihre Haushaltsplanung an den Prognosen des Office for Budget Responsibility (OBR) auszurichten. Die Behörde hatte wenige Tage vor der Haushaltsrede ihre Prognose mit einem Paukenschlag vorgelegt. Erstmals hatte sie ihre Schätzungen zur Entwicklung der Arbeitsproduktivität grundlegend korrigiert.

»Die größte Änderung, die wir an unserer Konjunkturprognose vorgenommen haben, ist die Revision des Abwärtstrends des potenziellen Produktivitätswachstums. Da sich die bemerkenswerte Phase der Nachkrisenschwäche ausdehnt – und da verschiedene Erklärungen, die auf eine nur vorübergehende Verlangsamung hindeuten, wenig überzeugend sind –, erscheint es sinnvoll, die jüngsten Trends als Richtschnur für die nächsten Jahre stärker in den Vordergrund zu rücken. Die Diagnose für die jüngste Schwäche und die Prognose für die Zukunft sind nach wie vor mit großer Unsicherheit behaftet; wir gehen davon aus, dass sich das Produktivitätswachstum in den nächsten fünf Jahren etwas erholen wird.

Doch es wird weiterhin deutlich unter der Trendrate von vor der Krise bleiben. Wir haben den durchschnittlichen Trend des Wachstums der Produktivität um 0,7 Prozentpunkte pro Jahr nach unten korrigiert. Er steigt von 0,9% in diesem Jahr auf 1,2% im Jahr 2022. Dadurch sinkt das Produktionspotenzial in den Jahren 2021-22 um 3,0%. Das Statistische Amt schätzt, dass das Ergebnis pro Arbeitsstunde derzeit 21% unter der Extrapolation des Trends von vor der Krise liegt. Bis Anfang 2023 rechnen wir mit einer weiteren Reduktion des Trends auf 27%.« (OBR 11-2017, S. 9)



Die Produktivitätsstagnation wird nur in geringem Umfang durch die Ausweitung von Beschäftigung und Arbeitsvolumen aufgefangen. Das Wirtschaftswachstum bleibt daher schwach. Der IWF prognostiziert für das UK in diesem und im nächsten Jahr ein Wachstum von 1,5% bzw. 1,7%. Das OBR geht für 2017 ebenfalls von einem realen BIP-Wachstums von 1,5% aus, für 2018 allerdings nur noch von 1,4% und für die beiden Folgejahre nur noch von jeweils 1,3%.

Gegenüber der Prognose von November 2015 hat das OBR die Wachstumsprognosen (jeweils für den Zeitraum 2016-2020) beim Bruttoinlandsprodukt, beim privaten Konsum und vor allem bei den Unternehmensinvestitionen erheblich gesenkt, worin sich die Schere von jahrelanger Stagnation der Realeinkommen und seit dem Brexit-Votum anziehender Inflation sowie die Verunsicherung bei Unternehmensentscheidungen für Ersatz- und Zusatzinvestitionen reflektieren. Die Rücknahme der Prognose als »Wachstumskosten des Brexit« zusammenzufassen, greift zu kurz. »Vorabkosten« trifft es eher.

Smarte Haushaltsrede in düsteren Zeiten

Geringe Produktivität, geringeres Wirtschaftswachstum und geringeres Steueraufkommen sind die harten Rahmenbedingungen für die Perspektive der Staatsfinanzen. Der selbst gesetzte fiskalische Rahmen zur Fortsetzung der Austeritätspolitik ist die vom Schatzkanzler vor einem Jahr aufgestellte Fiskalregel – das britische Pendant der Schuldenbremse. Mit dieser Rahmenplanung hatte Hammond die von May anvisierten höheren Ausgaben für eine forcierte Industriepolitik im Rahmen einer leichten Kurskorrektur der harten Austeritätspolitik eingehegt. [2]

Der Anteil der Staatsschulden am BIP beläuft sich auf knapp 90%, die Staatsquote liegt bei 42%. Das Budgetdefizit ist durch die harte Austeritätspolitik innerhalb von sieben Jahren von 10% auf 3% gedrückt worden. Das Haushaltsdefizit sollte – entsprechend der Fristverlängerung aus dem letzten Jahr – bis 2020 auf weniger als 2% gesenkt werden, 2025 sollte der Haushalt ausgeglichen sein. Wegen der verschlechterten Rahmenbedingungen musste Hammond offen lassen, ob diese Ziele noch weiter in die Zukunft projiziert werden müssen. Bei diesem faktischen Eingeständnis des Scheiterns der Austeritätspolitik und der Perspektivlosigkeit ihrer Fortsetzung wird immer noch davon ausgegangen, dass es weder im Konjunkturverlauf und erst recht nicht aufgrund der Brexit-Auswirkungen zu einer Kontraktion der Wirtschaftsleistung mit negativen Wachstumsraten und in der Folge zu weiteren Restriktionen der Staatsfinanzierung kommt.

Bei den einzelnen Schwerpunktsetzungen reagierte Hammond auf die Herausforderungen, vor denen das Vereinigte Königreich steht, allerdings nur indem er allein bei einigen wenigen großen Problemen bescheidene Beträge in Aussicht stellte und sich ansonsten auf symbolische Gesten beschränkte. Das Budget ist das einer Minderheitsregierung, mit dem intern keine Angriffsflächen für die beiden Flügel der zerstrittenen Tory-Fraktion geboten werden sollten und auch nicht für die europafeindliche und nationalistische nordirische Democratic Union Party, die die Tory-Regierung stützt.

Das Gesamtvolumen des Haushalts 2018/2019 beträgt auf der Ausgabenseite auf 795 Mrd. Pfund, auf der Einnahmenseite 795 Mrd. Pfund. Die Nettokreditaufnahme wird auf 2,4% des BIP taxiert. Die höchsten zusätzlichen Finanzmittel sind für den Nationalen Gesundheitsdienst NHS, für den Brexit und für den Wohnungsbau vorgesehen.

Der NHS-Direktor Stevens hatte zur Vermeidung weiterer Einschränkungen bei den Gesundheitsdienstleistungen allein für das laufende Jahr vier Mrd. Pfund angemahnt. Neu eingestellt werden 2,8 Mrd. Pfund – allerdings über drei Jahre hinweg bis 2020. Die Mittel dienen überwiegend der Finanzierung der Neuorganisation des NHS im Rahmen der Sustainability and Transformation Partnership, mit der Krankenhäuser, ambulante Praxen, Notfalldienste und Pflegeeinrichtungen in allen 44 Regionen besser aufeinander abgestimmt werden sollen. Eine unabhängige Kommission (Naylor Review) hatte hierfür jedoch 10 Mrd. Pfund für erforderlich gehalten. Gehaltserhöhungen würde der Schatzkanzler nicht für alle, sondern nur für ausgewählte NHS-Beschäftigte befürworten.

Mit drei Mrd. Pfund für den Brexit werden die bereits angekündigten 700 Mio. Pfund aufgestockt. Die Mittel werden zwar mit Vorrang zur Verfügung gestellt, ihre Zuteilung endet aber merkwürdigerweise 2019/2020. Mit ihnen sollen neue MitarbeiterInnen und neue Ablaufsysteme im Bereich Zoll und Einwanderung finanziert werden, die ab dem ersten Tag nach dem EU-Austritt zur Verfügung stehen müssen. Hier reflektiert sich die Forderung des rechtspopulistischen Tory-Flügels, für einen ungeordneten Brexit gewappnet zu sein. Finanzmittel für den Aufbau der dann auch erforderlichen neuen ca. 35 Regulierungsbehörden sind im Haushaltsplan allerdings nicht enthalten. Schlagzeilen wie »Britische Regierung legt Milliarden beiseite für den Brexit« (FAZ) sind daher so luftig wie die vorgebliche Sorglosigkeit des Schatzkanzlers gegenüber den tatsächlich für die Brexit-Folgekosten erforderlichen Aufwendungen.

In den Mittelpunkt seiner Haushaltsrede stellte Hammond die Förderung des Wohnungsbaus. Im Jahr 2025 soll das Ziel erreicht sein, jährlich 300.000 neue Häuser und Wohnungen zu bauen, was einem Anstieg von 40% gegenüber den derzeitigen Fertigstellungen pro Jahr entspricht. Mit dieser Ankündigung greift er eine zentrale Forderung der Labour Party auf. Allerdings soll der Schwerpunkt bei der Förderung von neuen Städten im nicht weit von London entfernten Cambridge-Milton Keynes-Oxford-Korridor liegen, wie von der National Infrastructure Commission (NIC) empfohlen. Der Planungshorizont für diese Städte ist allerdings weitläufig, sodass diese Mittel nicht kurzfristig zur Verbesserung der Infrastruktur und als Konjunkturanreiz zur Verfügung stehen.

Insgesamt sind für den Wohnungsbau 44 Mrd. Pfund an Investitionen, Krediten und Bürgschaften vorgesehen, verteilt über diese und die nächste Legislaturperiode. Zugleich wird die Finanzierung der Wohnungsbaugesellschaften aus dem laufenden Haushalt herausgenommen und so die Verschuldungsquote der selbst errichteten Fiskalregel eingehalten: Das Statistische Amt zählt die überwiegend kommunalen Wohnungsbaugenossenschaften nicht mehr zum öffentlichen, sondern zum privaten Sektor, wodurch zugleich bei den Baugenossenschaften die Tore für eine höhere Verschuldung geöffnet werden.

Zur Stärkung der Verkehrsinfrastruktur erhalten vor allem die Behörden in den großstädtischen Agglomerationen im Norden Englands zusätzliche Mittel. Einige Bahnprojekte werden ebenfalls zusätzlich gefördert. Insgesamt sind hier Give-aways in Höhe von rund 2,6 Mrd. Pfund vorgesehen. Von einer abgestimmten Politik zur Erneuerung der Infrastruktur und der industriellen Basis kann dabei keine Rede sein. Dieses Manko wird auch nicht mit den Absichtserklärungen im Regierungs-Weißbuch zur Industriepolitik beseitigt, das korrespondierend wenige Tage nach der Haushaltsrede veröffentlicht worden ist.

Der Industrial Strategy Challenge Fund für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben soll zumindest in diesem Jahr mit sieben Mrd. Pfund weiter finanziert werden. Allerdings enthält der Haushaltsplan keine Aussage darüber, wodurch die Mittel, die jetzt noch von der Europäische Investitionsbank nach Britannien fließen, nach dem Brexit ersetzt werden sollen.

Die Labour Party schlägt mit der Errichtung eines Nationalen Transformationsfonds und einer Nationalen Investitionsbank – jeweils mit einem Investitionsvolumen von 250 Mrd. Pfund über einen Zeitraum von zehn Jahren ausgestattet – nicht nur eine quantitativ andere Dimension zur Erneuerung der britischen Ökonomie vor, sondern auch die Einleitung einer anderen gesellschaftlichen Entwicklung. Ob die Ausweitung der öffentlichen Investitionen zur Verbesserung der Infrastruktur, für Bildung und Gesundheit und für eine Neugewichtung von Industrie- und Finanzsektor – wie von Schattenkanzler McDonnell angekündigt – zu einem populären Feld der politischen Auseinandersetzung wird, ist noch nicht entschieden.

Die Lohnbremse für die Beschäftigten des öffentlichen Sektors ist entgegen anderslautenden Signalen aus Regierungskreisen und anders als von den Medien erwartet in der jetzigen Haushaltsrunde nicht gelockert worden. Der gesetzliche Mindestlohn wird ab April 2018 wiederum nur um das vorgeschriebene Mindestmaß auf 7,83 Pfund erhöht – und das auch nur für Beschäftigte ab 25 Jahren. Die Realeinkommen werden weiterhin unter Druck stehen. Im Kampf gegen die Austeritätspolitik der konservativen Regierung wird daher weiter die Verteidigung der Einkommenspositionen der mittleren und unteren Gruppen der Einkommensbezieher ihren dominierenden Platz haben.

Die Kosten des Brexit

Was in der Auseinandersetzung Haushalts- und Industriepolitik überrascht und beunruhigt, ist das weitgehende Ausblenden der ökonomischen, sozialen und fiskalischen Kosten des Brexit in der Budgetplanung der britischen Regierung, aber auch in der politischen und medialen Debatte über die Fiskalpolitik. Die im Haushalt zur Verfügung gestellten Mittel von bisher insgesamt 3,7 Mrd. Pfund sind kein »finanzielles Risikopuffer für einen möglichen ungeordneten Brexit«. Sie stellen nur einen Bruchteil der notwendigen Kosten dar für neues Personal und neue Ablaufsysteme bei Zoll und Grenzkontrollen und für die Errichtung neuer Regulierungsbehörden, die erforderlich sind für den geordneten harten Brexit (Austritt aus EU-Binnenmarkt und Zollunion), den die Regierung des Vereinigten Königreichs nach wie vor anstrebt, wenn auch mit der kurzen Schonfrist einer zweijährigen Übergangsperiode.

Die »Wachstumskosten des Brexit«, genauer die Kontraktionen des Gesamtreproduktionsprozesses der britischen Ökonomie und dessen Rückwirkungen auf den britischen Staatshaushalt, aber auch auf die ökonomische und politische Entwicklung in den Ländern der Europäischen Union drohen eine ganz andere Dimension anzunehmen. »Daher ist die beste Industrie- und Wachstumspolitik ein Stopp des Brexit«, so Lord Heseltine in seinem Kommentar anlässlich der Publikation des Regierungs-Weißbuchs zur industriepolitischen Strategie.

Schon als Michael Heseltine war der konservative Politiker, der in den 1980er Jahren als Verteidigungsminister dem Kabinett Thatcher und in den 1990er Jahren als stellvertretender Ministerpräsident dem Kabinett Major angehörte, stets für eine umfassende staatliche Industriepolitik eingetreten, anfangs als junger Industrie-Staatssekretär im Kabinett Heath in den Jahren von 1972 bis 1974 – also zu jener fernen Zeit, als das Vereinigte Königreich der EG als der späteren Europäischen Union beitrat. Ein Stopp des Brexit heute liegt allerdings längst außerhalb konservativer Reichweite.


[1] vgl. hierzu den Beitrag Corbynomics vor dem Härtetest. Labours Wirtschafts- und Sozialpolitik in: Sozialismus, Dezember 2017, S. 30ff.
[2] vgl. den Kommentar zur letztjährigen Haushaltsrede: Konservative Industriepolitik? Haushaltsdebatte nach der Brexit-Entscheidung, Sozialismus Online, 1.12.2016; http://www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/konservative-industriepolitik/

Literatur
Office for Budget Responsibility: Economic and Fiscal Outlook. November 2017. London; budgetresponsibility.org.uk/efo/economic-fiscal-outlook-november-2017/.
HM Treasury: Autumn Budget 2017; https://www.gov.uk/government/topical-events/autumn-budget-2017.
Institute for Government: The Budget 2017; https://www.instituteforgovernment.org.uk/autumn-budget-2017.
Department for Business, Energy & Industrial Strategy: Industrial Strategy - building a Britain fit for the future. November 2017; https://www.gov.uk/government/publications/industrial-strategy-building-a-britain-fit-for-the-future.
Matthes, Jürgen: Wachstumskosten des Brexit. Köln: IW - Institut der deutschen Wirtschaft (IW-Kurzberichte, 2017,81); https://www.iwkoeln.de/_storage/asset/371262/storage/master/file/14259568/download/IW-Kurzbericht_81_2017_Brexit.pdf

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