26. November 2023 Phil Burton-Cartledge: Frühzeitige Wahlgeschenke der Tories
Fiskalpolitische Augenwischereien in Großbritannien
Auf den ersten Blick enthält die zweite und vermutlich letzte Herbst-Regierungserklärung des britischen Finanzministers Jeremy Hunt unerwartet gute Nachrichten. Versuchen die Konservativen, die oppositionelle Labour Party zu übertrumpfen?
Traditionell wird der Staatshaushalt im Frühjahr im britischen Parlament eingebracht und in der begleitenden Regierungserklärung liegt der Schwerpunkt auf der Finanzierung des Haushalts. Im Zwischenbericht im Herbst stehen die konsumtiven Finanzmittel im Vordergrund – Bilanz, Verwendung, Ausblick.
Bereits im Januar soll eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge in Kraft treten, die Durchschnittsverdiener um 450 Pfund im Jahr entlasten wird. Rentner*innen können sich auf eine deutliche Erhöhung der staatlichen Rente freuen, die im April um 8,5% steigen wird. Die Leistungen der Grundsicherung werden an die Inflation angepasst. Das Wohngeld wurde ebenfalls erhöht, die Steuern auf alkoholische Getränke eingefroren und der Mindestlohn auf 11,44 Pfund pro Stunde angehoben, was für die am schlechtesten bezahlten Vollzeitbeschäftigten eine Lohnerhöhung von 1.800 Pfund pro Jahr bedeutet.
Was ist aus der Konservativen Partei geworden? Versucht Schatzkanzler Hunt, die Labour Party auszustechen, die zu all diesen Themen nichts gesagt und nichts versprochen hat?
Ganz und gar nicht. Diese Maßnahmen sollen täuschen und sind ein Bluff. Die Tories wissen genau, dass ihre Verbündeten in den Medien vor Lob nur so strotzen werden. Ich sehe schon die Titelseiten der Boulevardpresse vor mir, auf denen die Renten- und Lohnerhöhungen auf einer gefrorenen Schnapsflasche abgebildet sind. Das ist genau das, was jeder konservative Finanzminister tun würde.
In einem Wahljahr ist es gang und gäbe, dass die bisher sparsamen und knauserigen Hüter des Schatzamtes mit der Adresse 11, Downing Street, die Wähler*innen mit einer großzügigen Portion Leckereien überhäufen. Und je knauseriger sie sonst sind, desto mehr wird über ihre Großzügigkeit geredet. Die Tatsache, dass die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge unmittelbar bevorsteht und nicht erst zu Beginn des neuen Haushaltsjahres im April 2024, deutet darauf hin, dass die Wahlen eher früher als später stattfinden werden.
Dies ist jedoch nur eine Täuschung, die nicht von der politischen Strategie von Premierminister Sunak abweicht, die darauf abzielt, die Erwartungen zu steuern, indem der Glaube an die Handlungsfähigkeit des Staates gedämpft wird. In Hunts Erklärung wird diese Absicht in zweierlei Hinsicht deutlich. Erstens: Die Tories haben rechnerisch einen zusätzlichen Spielraum von 27 Milliarden Pfund, aber anstatt die Lücken in den erodierenden öffentlichen Dienstleistungen zu schließen, haben sie sich entscheiden, diese Milliarden zu verschenken.
Zweitens enthält sie die Ankündigung, dass die Staatsausgaben niemals das Wirtschaftswachstum übersteigen sollten, was praktisch eine Garantie für weitere Kürzungen ist, wenn die Wirtschaft einbricht. Und sie bringt die Erwartung zum Ausdruck, dass der öffentliche Sektor produktiver werden soll, wobei Hunt das alte Mantra der Konservativen wiederholt und die Bürokratie als Hindernis für Effizienz ausmacht. Er übergeht den Tatbestand, dass die öffentliche Infrastruktur marode geworden ist, weil die Tories ihr seit fast 14 Jahren die Mittel entziehen.
Wer profitiert von diesen Maßnahmen? Auch wenn die Sozialleistungen jetzt angehoben werden, nachdem sie so lange auf niedrigem Niveau gehalten wurden, zählt das Vereinigte Königreich immer noch zu jenen Ländern in Westeuropa, in denen die Unterstützung der Ärmsten besonders niedrig ist. Die starke Anhebung des Mindestlohns kommt da zur rechten Zeit, aber sie korrigiert nur teilweise die Reallohnverluste, die die letzten Jahre der konservativen Regierung geprägt hat.
Bei der staatlichen Rente wird am Berechnungsmodus der Erhöhung festgehalten, in der Hoffnung, dass ein großzügiger Aufschlag für die Rentner*innen die Tories bei den nächsten Wahlen vor einer verdienten Niederlage bewahren wird. Und die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge um zwei Prozentpunkte? Sie betrifft 27 Millionen Beschäftigte mit Jahresgehältern zwischen 12.571 und 50.270 Pfund, die bisher 12% zahlen. Besser Verdienende führen für Einkommen, die 50.270 Pfund übersteigen, weiterhin nur 2% ab.
Je höher das Gehalt, desto höher der Kürzungsbetrag. Ein Durchschnittsverdiener spart 450 Pfund im Jahr ein, Spitzenverdiener können sich über eine Ersparnis von 750 Pfund freuen. Eine Subvention für die Wohlhabenden auf Kosten der bröckelnden öffentlichen Dienste. Aber das ist nichts im Vergleich zu den Milliarden, die an die Unternehmen gehen. Für jedes Pfund, das sie investieren, erhalten sie eine dauerhafte Steuerermäßigung von 25 Pence.
Die »guten Nachrichten« im Bereich der Sozialleistungen werden durch einen neuen Angriff auf Menschen mit Behinderungen getrübt. Wie wir bereits im letzten Monat berichteten, haben die Konservativen beschlossen, dass die flexible Arbeit, die ihnen normalerweise ein Dorn im Auge ist, ein neuer Vorwand ist, um die Daumenschrauben anzuziehen. Ihr so genannter Plan zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt beinhaltet mehr Einschränkungen, eine noch brutalere Palette von Sanktionen und eine neue Dämonisierungskampagne. In den Worten von Hunt: »Jeder, der sich auf der harten Arbeit der Steuerzahler ausruht, wird seine Leistungen verlieren.« Sie hoffen, dass dies ein gefundenes Fressen für die grausameren Teile der Tory-Basis ist.
Alles in allem handelt es sich um einen kurzfristigen Haushalt, der die Tories über die Wahllinie bringen soll. Das vom Amt für Haushaltsverantwortung (Office for Budget Responsibility, OBR) prognostizierte blutleere Wachstum wird nicht angegangen. Und nein, eine Senkung der Unternehmenssteuern wird das Wachstum nicht auf magische Weise ankurbeln.
Die Schlagzeilen sollen täuschen und verwirren. Für die meisten Menschen, insbesondere im erwerbsfähigen Alter, ist jedoch klar, dass sie selbst mit höheren Leistungen und/oder niedrigeren Sozialversicherungsbeiträgen schlechter dastehen als vor der Pandemie. Die Preise sind gestiegen und steigen weiter, und das zusätzliche Geld reicht nicht aus.
Damit ist das Schicksal der Konservativen besiegelt. Sie hätten anders entscheiden können, haben es aber nicht getan. Deshalb werden sie im nächsten Frühjahr die Leidtragenden sein, wenn die britischen Wähler entscheiden, sie zu begraben. Vielleicht für immer.
Phil Burton-Cartledge ist Dozent für Soziologie an der Universität von Derby und Autor der Studie »The Party’s Over. The Rise and Fall of the Conservatives from Thatcher to Sunak«. In Sozialismus.de 11-2023 schrieb er über »Die Reproduktionskrise der Konservativen Partei. Zur schwindenden politischen Macht der Tories«. Dieser Kommentar erschien zuerst am 22.11.2023 auf seinem Blog »All That Is Solid …« unter dem Titel »Jeremy Hunt's Pre-Election Give Aways«. (Übersetzung: Hinrich Kuhls)