11. Juni 2018 Hasko Hüning/Gerd Siebecke: LINKEN-Parteitag in Leipzig

Formulierungskompromisse verhindern Zuspitzung nicht

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Zu Recht hatte das »neue deutschland« vor dem Parteitag der LINKEN in Leipzig notiert, dass die Partei »einiges zu klären« hätte. Und auch auf dieser Website ist darauf hingewiesen worden, dass es angesichts der Veränderungen in der politischen Landschaft weltweit und auch hierzulande genügend Anlass gibt, strategische Fragen ins Zentrum zu rücken. Dazu kam es nicht.

Stattdessen eklatierten in zentralen Fragen Differenzen – auch wenn die FAZ sie auf einen »offenen Machtkampf in der Führung« (11.6. 2018) reduziert –, die nicht erst in Zukunft die Existenz der Partei in Frage stellen, sofern es nicht gelingt, die Methode der politischen Arbeit grundlegend zu ändern.

Eigentlich gab es ganz gute Voraussetzungen für eine Stabilisierung. Nach einem vorzeigbaren Wahlergebnis bei der Bundestagswahl im Herbst 2017 verzeichnet die Partei eine positive Mitgliederentwicklung: mehr als 8.500 Neueintritte, zwei Drittel davon sind 35 Jahre alt oder jünger und 72% der Neueintritte erfolgten im Westen. Im Jahr 2018 ist die Zahl der Mitglieder auf nunmehr 62.339 Menschen angestiegen.

In drei ostdeutschen Bundesländern regiert DIE LINKE mit, in Thüringen stellt sie den Ministerpräsidenten und in Berlin ist sie – als eine von drei Regierungsparteien – laut letzten Umfragen stärkste politische Kraft. In Frankfurt/Oder stellt sie den Oberbürgermeister und auch in Frankfurt am Main hat Janine Wissler bei der OB-Wahl 9% der Stimmen erreicht.

Eigentlich sollten – so jedenfalls die längerfristigen Vorbereitungen des Parteitages – Themen und Brennpunkte wie die Wohnungsfrage, Pflege/Gesundheit, prekäre Beschäftigung und Bildung ins Zentrum der Debatten gestellt werden. Doch durch die von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht über die Medien lancierte Kritik an der Flüchtlingspolitik der Partei, die sie mit sozialstaatlichen Belastungsgrenzen in Verbindung brachten und eine Begrenzung der Arbeitsmigration forderten, um in Deutschland lebende Menschen vor sozialer Konkurrenz zu schützen, war diese Planung obsolet.

Denn damit stand die im aktuellen Parteiprogramm kurz und knapp festgehaltene Formulierung: »Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen« zur Disposition. Das Spektrum der Positionen zu dieser Frage ist in der Partei bis hin zu der Frage der Notwendigkeit eines »linken« Einwanderungsgesetzes äußerst breit. Es gibt die Position,

  • die prinzipiell gegen ein linkes Einwanderungsgesetz ist, weil damit im Ablehnungsfall eine Abschiebung drohe;
  • die national kontrollierte Grenzen verteidigt und zugleich eine regulierte Einwanderungspolitik befürwortet mit dem Verweis, dass eine Schwächung der sozialen Kampfbedingungen durch Migration nicht billigend in Kauf genommen werden sollte;
  • die eine Unterscheidung zwischen Flucht und Migration für künstlich hält, da eine angemessene Beurteilung, was legitime Gründe zum Verlassen des eigenen Landes seien, von außen kaum zu geben sei;
  • die auch wirtschaftliche und klimatische Not als legitime Gründe für Migration ansieht und für solche Notlagen »Obergrenzen« für die Aufnahme von Schutzsuchenden ablehnt; diese führten nur zu weiterer gesellschaftlicher Spaltung und Ausgrenzung.

In der Vorbereitung des Parteitages hatte sich der Parteivorstand nicht dazu durchringen können, der Diskussion dieser Positionen ausreichenden Raum zu geben, sondern versucht, mit einem Formulierungskompromiss im Leitantrag den Sprengsatz aus der Debatte zu nehmen: »Eine Einwanderungs- und Integrationspolitik, die Rechte danach vergibt, ob Menschen den richtigen Pass haben oder als ›nützlich‹ für Unternehmen gelten, lehnen wir ab. Stattdessen wollen wir eine solidarische Einwanderungsgesellschaft.«

Diese weitgehend unstrittige Positionierung schien auch zunächst einen Ausweg aus dem Dilemma zu bieten. Der Parteivorsitzende Bernd Riexinger warb in seinem Eröffnungsbeitrag der Generaldebatte zum Leitantrag für diesen »Dreiklang«: »Erstens wollen wir Fluchtursachen bekämpfen ... Dabei kann man sofort etwas für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung tun, z.B. Agrarexporte stoppen ..., die Waffenexporte stoppen, und endlich damit aufhören, Tod und Elend zu exportieren ... Zweitens: Wir streiten für eine soziale Offensive für alle ... Mit unserem Steuerkonzept könnten Milliarden dafür verwendet werden, Geflüchteten zu helfen und gleichzeitig allen in Deutschland ein besseres und angstfreies Leben zu ermöglichen. ... Drittens: Wer vor Krieg, Verfolgung und Armut zu uns flieht, dem müssen wir helfen. ... Wir brauchen sichere, legale Fluchtwege und offene Grenzen.«

Auch Katja Kipping machte diesen Kompromiss stark und hat zudem versucht, dem Konflik mit Sahra Wagenknecht die Schärfe zu nehmen: »Niemand muss sich hier für oder gegen eine Seite entscheiden, denn wir sind alle Teil der Linken. Und das ist gut so. Ich möchte eins unmissverständlich klarstellen: In unserer Partei, da gibt es weder Rassisten noch Neoliberale.« Zugleich forderte sie – an die Adresse von Oskar Lafontaine gerichtet, der auf dem Parteitag nicht anwesend war – Respekt vor der Beschlusslage des Parteitags in Sachen Flüchtlingspolitik.

Der in der Migrationsfrage derart modifizierte Leitantrag wurde von den Delegierten dann auch ausdrücklich »als unser Kompromiss« mit »riesiger Mehrheit« (Tagungspräsidium) verabschiedet.

Die Hoffnung, durch diesen Formulierungskompromiss den Parteitag in ruhigem Fahrwasser zu Ende zu bringen, erwies sich als trügerisch. Denn die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, die darauf bestanden hatte, als Letzte der Parteiführer*innen reden zu dürfen, mochte sich weder mit diesem Kompromiss abfinden und den Beschlüssen der Delegierten Respekt zollen, noch ging sie ihrerseits auf die Parteiführung zu.

Stattdessen bestand Sahra Wagenknecht weiterhin darauf, dass eine Welt ohne Grenzen »unter kapitalistischen Verhältnissen kein linkes Ziel sein« könne. Bereits in der »jungen Welt« vom 8.6.2018 hatte sie formuliert: »Strittig ist, ob wir pauschal sagen sollten, jeder der es möchte, kann nach Deutschland kommen, hat hier Anspruch auf landesübliche Sozialleistungen und kann sich Arbeit suchen. Das ist eine Position, die man meines Erachtens nicht durchhalten kann.« Im bekannten Modus »Man wird doch wohl noch Fragen stellen dürfen« wehrte sie sich in ihrer Parteitagsrede zugleich dagegen, ihr »Nationalismus, Rassismus oder AfD-Nähe« zu unterstellen und präsentierte sich als Opfer.

Diese Methode wiederum empörte einen Teil der Delegierten derart (»Du zerlegst gerade dadurch, dass du seit Monaten keine Debatten zulässt, diese Partei. Du ignorierst die Position der Mehrheit dieser Partei und du hast jetzt wieder nachgelegt ... das ist unglaublich«, so die Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales Elke Breitenbach), dass sie mit einer Stimme Mehrheit eine einstündige Debatte erzwangen. Diese war weniger von Auseinandersetzungen um die Sache geprägt, sondern die meisten Redner*innen reklamierten eine andere Debattenkultur, um die Spaltung nicht noch zu vertiefen.

Die Delegierten hatten zwei Tage lang diszipliniert zumeist praxisnah Anträge abgearbeitet sowie auch den Wahlmarathon ohne Eskalation bewältigt und mussten zum Ende hin nun diese (auch personelle) Zuspitzung ertragen, ohne dass eine wirkliche Chance bestand, den Konflikt auch nur annähernd seriös austragen zu können. Ob die Ankündigung von Parteivorstand und Fraktionsführung, jetzt eine inhaltliche Diskussion zur Migrationspolitik auf einer gemeinsamen Klausur und einer Fachkonferenz auf den Weg zu bringen, das Manko heilen kann, darf bezweifelt werden.

Denn die Frustration und Enttäuschung waren und sind unübersehbar – über die mangelnde Bereitschaft der gesamten Partei- und Fraktionsführung, solche Kontroversen im Vorfeld zu organisieren, über das Niveau der Auseinandersetzung und darüber, dass die deutlich gewordene Gefahr einer Zerlegung oder Zerstörung der Partei bereits im Vorfeld und auch auf dem Parteitag nicht zum Thema gemacht wurde, sondern sich nur in der geschilderten Empörung Bahn brechen konnte.

Insofern wäre die neu gewählte Parteiführung – beide Parteivorsitzenden hatten Stimmeneinbußen gegenüber der letzten Wahl hinnehmen müssen, der neue Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler konnte sich mit nur drei Stimmen Mehrheit in der Stichwahl durchsetzen – gut beraten, diese Lehrstunde in Sachen Methode der politischen Arbeit ernst zu nehmen. Denn es stehen nicht nur wichtige Landtagswahlen an, sondern auch im Frühjahr 2019 die Europawahlen mit dem Aufleben einer neuen Europa-Debatte – und damit unweigerlich in Verbindung mit Kontroversen um die u.a. von Wagenknecht propagierte »Sammlungsbewegung« samt dem darin liegenden Zerstörungspotenzial für die Partei.

Auch wenn in den Reden der Parteiführung der Aufstieg von Rechtspopulisten in Europa angesprochen wurde, hat die Partei in Sachen Analyse der Folgen einer große Krise der parlamentarischen Demokratie, der Tatsache, dass die »Volksparteien« immer weniger die Sorgen und Ängste vieler Bevölkerungsmilieus zu vertreten vermögen und auch linke – vor allem die sozialdemokratischen, aber auch linkssozialistische – Inhalte und Formen der Repräsentanz an Rückhalt verlieren, massiven Diskussionsbedarf.

Nicht nur, aber auch innerhalb der LINKEN gibt es eine große Bandbreite von Positionen zu Fragen der Europäischen Union, zu ihrer möglichen Reformierbarkeit und vor allem in der Frage der europäischen Integration – bis hin zu Positionen, die dafür eintreten, die europäische Integration rückgängig zu machen und glauben, nur durch eine Reorientierung auf die nationale Ebene soziale Errungenschaften verteidigen zu können.

Wenn es nicht gelingt, in dieser Frage Debattenraum zu schaffen, Analysen und Kontroversen im Vorfeld rechtzeitig zu organisieren, dürfte ein weiteres Mal der eigentliche Gegner im politischen Kampf um ein anderes Europa, um eine andere Welt aus dem Blick geraten und erneut die Gefahr einer Zerlegung der Partei DIE LINKE drohen.

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