9. März 2023 Bernhard Sander: Weitere Proteste gegen Macrons Rentenreform

Frankreich steht still

Foto: Force Ouvrière (CC BY-NC 2.0)

Der 7. Aktionstag gegen die macronitische Rentenreform am 7. März sollte Frankreich »stilllegen«. Dementsprechend meldeten die Agenturen Rekorde: Noch nie waren in den letzten Jahrzehnten an so vielen Orten so viele Menschen auf die Straße gegangen.

Allein in Paris meldete die Gewerkschaft CGT 700.000 Demonstrierende, 81.000 die Polizei. Raffinerien der Mineralölindustrie, Busdepots usw. wurden blockiert. Wenn in einer 8.700-Seelen-Gemeinde wie Lillebonne, Standort einer solchen Raffinerie, 4.000 Menschen auf den Beinen sind, will das einiges heißen.

Teils nimmt der Streit über die Teilnahmezahlen bizarre Züge an: Wo die Gewerkschaften für Bordeaux 100.000 melden, registriert die Präfektur gerade mal 16.500. Landesweit differieren die Angaben zwischen 3,5 Mio. (CGT) und 1,28 Mio. (Innenministerium). Das ist die größte Beteiligung seit der Abwehr der Rentenreform von Ministerpräsident Alain Juppé im Jahr 1995.

Währenddessen beugte sich der Senat als zweite Kammer über die Gesetzestexte zur Reform. Seine Zusammensetzung entspricht bei weitem nicht mehr den Wahlgängen zur Nationalversammlung und auch die Zusammensetzung der dort mehrheitlichen Republikaner und Sozialdemokraten hat nicht mehr viel mit den aktuellen Strömungen in diesen Parteien zu tun. Hier wird es eine breite Zustimmung zu den Reformen geben.

Und im Parlament kündigt die eh schon nicht mehrheitsfähige Präsidentenpartei Renaissance den Ausschluss von drei Abgeordneten an, die sich weigern, für den Text zu stimmen. Die bürgerlichen Republikaner sind faktisch gespalten. Der Anführer der sozial-gaullistischen Fronde, Aurelién Paradié, traf sich am Aktionstag mit dem Vorsitzenden des größten Gewerkschaftsbundes CFDT, Laurent Berger. Gerade auch in bürgerlichen Kreisen lässt sich die Angst vor der Reform nicht beruhigen, trotz der Zugeständnisse Macrons. Diese Angst ist nicht nur eine Angst vor dem »Mob der Straße«, sondern entspringt einer tiefen Beunruhigung über die sozialen Asymmetrie in Frankreich.

Der Soziologe Luc Rouban vom CNRS konstatiert: »Die Frage nach der Effektivität des öffentlichen Handelns, d.h. nach der konkreten Bedeutung politischer Entscheidungen vor Ort, ist für eine Mehrheit der Angehörigen der Mittel- und Oberschicht zentral, die ebenfalls Konkretes in den Bereichen öffentliche Gesundheit, Schule, echte Meritokratie, Aufnahme von Migranten und sogar Landesverteidigung erwarten, da unsere Armee nicht auf einen konventionellen Konflikt in Europa vorbereitet ist. Man sieht sogar, wie Umweltaktivisten sagen: ›Wir reden seit Jahren und vor Ort ändert sich nichts‹ – Aktivisten, die doch sehr links stehen und studiert haben. Der RN […] konnte so seine Wählerbasis vergrößern, indem er eine starke Erwartung an mehr Realismus seitens der gewählten Vertreter und des Staatsapparats einfing. Es lag nicht daran, dass sie populistisch geworden waren, dass 33% der ›höheren intellektuellen Berufe‹ im zweiten Wahlgang für Marine Le Pen gestimmt haben.«[1]

Die Wucht des sozialen Protests, der für einen Moment fast vergessen lässt, dass die stärkste Oppositionsfraktion im Parlament die Nationale Sammlung (RN) ist, als auch der Wahlerfolg des RN speisen sich aus denselben Quellen der Verunsicherung und nicht aus einem geschlossenen linken Klassenbewusstsein. Aber niemand auf der Linken kommt auf den kontraproduktiven Gedanken, in der Mobilisierung nun die Anhängerschaft Le Pens zu identifizieren.

Noch einmal Rouban vom CNRS: »Der wahre Gewinner der Wahlen von 2022 ist der Rassemblement National (Nationale Sammlungsbewegung). Marine Le Pen hat das Gravitationszentrum der Rechten verändert und Stimmen der Mittel- und Oberschicht angezogen. Marine Le Pens politisches Angebot, das Autorität und die soziale Frage miteinander verbindet, scheint die Erwartungen eines Großteils einer Wählerschaft zu erfüllen, die rechtslastig geworden ist und immer noch nach Sicherheit, aber auch nach wirtschaftlicher Förderung oder Fairness bei der Behandlung der Bürger sucht. Der RN präsentiert sich als die Partei, die die Lebensweise aller Franzosen trotz der Auswirkungen der Globalisierung und des Klimawandels schützen will. In der historischen Spannung zwischen ihr und dem Macronismus ist sie zum Bannerträger der sozialen Verletzlichkeit geworden.

Die Partei von Marine Le Pen ist nicht mehr nur eine wütende, populistische Anti-Elite-Bewegung. Sicher, seine Wählerschaft ist nach wie vor einwanderungsfeindlich und verschlossener gegenüber anderen Kulturen als anderswo. Aber die RN zieht auch diejenigen an, die sich über das Verschwinden des öffentlichen Dienstes und der Beamten, des Lebensstils und des Konsums der ›Goldenen Jahre des Wirtschaftswunders‹ sorgen. Marine Le Pen hat in der Krise die Autoritären verführt, die glauben, dass der Schutz, den die Republik bietet, verschwunden ist.«

Diejenigen, die RN wählen, sind am stärksten von den Ideen der eigenen Partei überzeugt, gleichauf mit den Wähler*innen der Grünen, weit vor den Macronisten. »Der wirkliche Sieg der RN nach der Wahl 2022 besteht darin, eine zentrale Position im Bereich dieser autoritären Ordnung einzunehmen und sich jedem zu widersetzen, der die Lebensweise ändern will, sei es der Macronismus oder die NUPES«, schreibt Rouban. RN leiht sich von Ersterem die Vorstellung, dass unsere Lebensweise unveränderlich ist, und von Letzterem die Überzeugung, dass die Leistungsgesellschaft fehlerhaft ist, da sie die Arbeit derjenigen, die sie erbringen, nicht belohnt.

Ein weiterer Faktor für den Sieg des RN ist die Eroberung der oberen sozialen Kategorien. Dies gilt sowohl für die Führungskräfte der Partei – die Hälfte der 110 Kandidaten, die in der ersten Runde der Parlamentswahlen nachrückten, gehörten zu dieser sozialen Schicht – als auch für die Wähler*innen. Ihre Basis hat sich auf diplomierte Beamte ausgeweitet, die nicht mehr an die Leistungsgesellschaft glauben und sich in ihren Kompetenzen von Beratungsfirmen wie McKinsey (bei der Macron zeitweise angestellt war und die Millionen Euro aus Staatsaufträgen ziehen) bevormundet fühlen. Für diese Mittel- und Oberschicht mit geringem Wohlstand erscheinen die Hochschulabsolventen, Europhile und Globalisierungsgewinner, mehr an den individuellen Belohnungen der Arbeit interessiert als am Abbau der Ungleichheit.

Zum Zweiten gibt es Wähler von links, mit einem Anteil, der nicht mehr anekdotisch ist – nicht einwanderungsfeindlich, nicht autoritär, nicht notwendigerweise von Anfang an mit Hass auf Emmanuel Macron, aber meist instabil und verzweifelt. Wenn es überhaupt eine Idee gibt, die der alten und neuen Wählerschaft der RN gemeinsam ist, dann ist es der wirtschaftliche Pessimismus in Bezug auf die Lage ihrer Kinder. Für Luc Rouban liegen die Wurzeln dieser Wahlkonsolidierung »in den Schwächen der französischen Gesellschaft, deren historische Fehler, nämlich Korporatismus, Klassismus und soziale Verachtung, die Logik des Rangs, vom Liberalismus oder vom Staat nicht beseitigt, sondern umgedeutet und bewahrt wurden.«[2]

Die Gewerkschaften stehen mit diesen Stimmungen naturgemäß in engem Kontakt. Aber auch Teile der politischen Linken ahnen, dass es um Anerkennung von Lebensleistung geht, der Betagte und Studierende auf die Straße treibt. So schrieb der LFI-Abgeordnete Francois Ruffin, der sich als sozialer Demokrat geoutet und damit den Zorn der wirklich wahren Linken in LFI auf sich gezogen hat: Diese Leute »sind nicht wie der Bankier im Elysee-Palast oder die Berater von McKinsey. Das sind Leute, für die es, wenn sie in ihren Sechzigern angekommen sind, schon ziemlich hart ist. Jetzt geht es darum, ob man in einer Welt sein will, in der es die gibt, die sich vollstopfen, und die unten, die ständig rationiert werden und die den Zeitpunkt, an dem sie sich um ihre Enkelkinder kümmern, Zumba-Kurse nehmen, in den Chor gehen oder angeln gehen können, ständig nach hinten geschoben sehen.«[3]

Daher gruppieren sich um diesen Protest der Gewerkschaften auch Freiberufler (Anwälte), Bauern, Umweltschützer (»keine Rente ohne intakten Planeten«), und natürlich Frauen, die als Mehrheit der Teilzeit- und befristet Beschäftigten und als die Personen mit diskontinuierlichem Erwerbsleben die größten Einbußen durch die Rentenreform erleiden werden.

»Wenn ich zu den Streikposten gehe, sagen mir die Arbeitnehmer alle, dass sie ausgelaugt sind. Einige erzählen mir, dass sie ihren ersten festen Job mit 30 Jahren hatten, und dass sie sich Sorgen um ihr Renteneintrittsalter machen. Da draußen gibt es ein Leiden der Menschen. Aber in der National-Versammlung wird es verachtet. Ich selbst möchte die Stimme der Stimmlosen sein. Die Regierungsmehrheit (Renaissance und Bürgerliche LR) sieht doch, dass das Volk diese Reform nicht will! Warum wollen ihre Vertreter sie um jeden Preis durchsetzen? Sie sind bereit, es zu erniedrigen und zu zerschlagen. Sie wollen es zum Schweigen bringen. Und wenn es nicht schweigt, bringen sie die Polizei, um es zu verprügeln. Wir, die wir im Plenarsaal sitzen, werden von Menschen gewählt, die verteidigt werden wollen. In Wirklichkeit wird das Volk nicht verteidigt.«[4]

Die RN-Fraktionsvorsitzende Le Pen hat diesen Unmut und den daraus erwachsenden Wunsch nach Wechsel erkannt und kanalisiert, auch wenn der Katechismus der nationalistischen, islamfeindlichen Partei dabei hintan stehen muss.

Ob sich die französische Mosaiklinke zu solcher Konzertation durchringen kann, ist offen. Der vorgebliche Politrentner ohne Amt und Mandat, Jean-Luc Mélenchon, marschierte an der Spitze des Zuges in Marseille mit (245.000). Er sieht die parlamentarische Blockade der Linken und fordert deshalb vom Staatspräsidenten eine Volksabstimmung über seine Reformpläne oder die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen. Da in den Umfragen drei Viertel aller Befragten die Reformpläne ablehnen, würde Macron ein solches Plebiszit wohl verlieren. »Der Moment ist gekommen, in dem der Präsident der Republik die demokratische Initiative ergreifen muss, die dieser Blockadesituation entspricht«, so der dritte Mann des letzten Präsidentschaftswahlkampfs. Er kritisierte, dass diese wichtigste Reform der zweiten fünfjährigen Amtszeit von Emmanuel Macron »eine Art Laune des Prinzen« sei und »eine unnötige, ungerechte und grausame Art zu regieren«.

Bei den Gewerkschaften, die Bewegung auf Seiten der bürgerlichen Republikaner wahrzunehmen meinen, kommt das Anheizen des Konflikts durch Mélenchon nicht gut an. Sie forderten bei dem Treffen ihrer Leitungsgremien am Streiktag eine unverzügliche Unterredung mit dem Staatspräsidenten, der allerdings zu angekündigten Staatsbesuchen in Afrika weilt.

Bereits bei der Behandlung des Gesetzestextes in der Nationalversammlung hatten der Vorsitzende der CGT, Philippe Martinez, und der Vorsitzende der CFDT, Berger, die beide Mélenchon nicht gerade in ihr Herz geschlossen haben, die Strategie der Blockade der Debatten durch die »Insoumis« gegeißelt und sogar behauptet, dass er »kein Verbündeter der sozialen Bewegung« sei. Mélenchon applaudierte derweil öffentlich der Einladung eines 22-jährigen LFI-Abgeordneten, der eine Einladung ins Parlament auslobte in seinem Wettbewerb für das beste Posting über besetzte Schul- oder Unigebäude am Aktionstag der Jugend gegen die Reform.

Bereits am nächsten Samstag sollen weitere Kundgebungen stattfinden, um auch jenen Gelegenheit zum Protest zu geben, die sich wegen ihrer niedrigen Löhne und fehlender Streikassen den Ausfall eines Arbeitstages nicht leisten können. Vielleicht ist bis dahin auch die Verknappung der Treibstoffe zu spüren, denn die Raffineriebelegschaften werden ihren Streik gegen die Reform fortsetzen.

Anmerkungen

[1] Luc Rouban: »L’argument du défaut de compétence du RN se heurte désormais à la déroute de l’Etat«| Atlantico.fr.
[2] La vraie victoire du RN - Luc Rouban - Presses De Sciences Po - Grand format - Librairie Gallimard PARIS (librairie-gallimard.com).
[3] https://www.francetvinfo.fr/economie/retraite/reforme-des-retraites/reforme-des-retraites-francois-ruffin-fustige-un-monde-ou-il-y-a-ceux-qui-se-gavent-et-ceux-en-bas-qui-sont-rationnes-en-permanence_5596448.html.
[4] Die LFI-Abgeordnete Kéke´ war bisher Zimmermädchen und führte einen erfolgreichen Streik gegen die Accor-Hotelkette »Le mépris du gouvernement est criminel « – POLITIS No.1744.

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