25. September 2020 Bernhard Sander: Wiederaufbau der französischen Wirtschaft

Frankreichs Flughöhe

Foto: Dean Morley/flickr.com (CC BY-ND 2.0)

Nachdem Staatspräsident Emmanuel Macron sein Erholungsprogramm für die Ökonomie in Höhe von 100 Mrd. Euro verkündet hatte, blieb die Reaktion verhalten. Wie sich zeigt, zurecht. Denn die Deformationen des Gesamtreproduktionsprozesses könnten bleibend sein.

Das französische Statistische Amt INSEE hat Anfang September eine Prognose veröffentlicht. Frankreich hatte die Restriktionen des öffentlichen Verkehrs relativ rasch wieder gelockert, was der Konjunktur im Verlauf des Sommers wieder auf die Beine verhalf. Seit dem aber explodieren die Infektionszahlen wieder, auch weil die Testkapazitäten ausgeweitet wurden (nicht aber die personellen und räumlichen Behandlungsmöglichkeiten). Im 2. Quartal brach die Wirtschaftsaktivität zwar um 14% ein, die Haushaltseinkommen jedoch nur um 2%. Die private Nachfrage stabilisierte – dank Kurzarbeitergeld und anderen staatlichen Zuschüssen – die Ökonomie, die sich im weiteren Verlauf dann auf etwa 95% des Februar-Niveaus erholte. Aufs ganze Jahr gesehen rechnen die Statistiker*innen jedoch mit einem Einbruch des BIP um -9%. Dieser Einbruch trifft einige Wirtschaftszweige deutlicher als andere.[1]

Entsprechend dieser trüben Aussichten ist das Stützungsprogramm der französischen Regierung quantitativ groß und qualitativ ambitioniert ausgelegt. Das Ziel des Programms besteht laut Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire darin, »die Wirtschaftsleistung bis 2022 wieder auf das Niveau von 2019 zu heben« und die Arbeitslosenquote, die in den kommenden Monaten deutlich über 10% steigen werde, »Anfang 2022 wieder unter zehn Prozent zu drücken«.

 
Krisenplan  »France Relance« (Auswahl der Maßnahmen):

Bereich/Maßnahme

Betrag (in Mrd. Euro)

Nachhaltigkeit (Écologie)

      30

Infrastruktur und nachhaltige Mobilität (unter anderem Kauf- und Verschrottungsprämien für Pkw, Bahnnetze, öffentlicher Nahverkehr)

       8,6

Nachhaltige Energien und Technologien (unter anderem Förderung für Wasserstoffwirtschaft, Flugzeugbau und Kfz-Industrie)

       8,2

Gebäudeeffizienz

       6,7

Agrarwende (unter anderem Erneuerung von Agrarmaschinen)

       1,2

Wettbewerbsfähigkeit (Compétitivité)

      34

Senkung Produktionssteuern

      20

Technologische Souveränität (unter anderem Relokalisierungshilfen) 

       5,9

Zusammenhalt (Cohésion)

      36

Einstellungs- und Ausbildungshilfen für Jugendliche

       7,8

Kurzarbeit und Fortbildungshilfen

      7,6

Investitionen im Gesundheitssektor (Ségur de la santé)

      6

Gesamt

   100

Quelle: Ministère de l'économie, des finances et de la relance 2020[2]

 

Sébastien Laye, ein Unternehmer und Ökonom am Institut Thomas More, beziffert die deutschen Unterstützungsprogramme auf mehr als 10% des BIP, während Frankreich nur auf 2,4% komme. »Wir laufen Risiko, jahrelang weit hinter Deutschland zurückzufallen«, schrieb er kürzlich.[3] Frankreichs Premierminister Jean Castex brüstete sich, das Paket France Relance umfasse gut 4% des BIP, in der Bundesrepublik seien es 3,7%. Schon diese unterschiedlichen Einschätzungen zeigen, dass, auch angesichts der drohenden regionalen Lockdowns in einer zweiten Welle, die Wirkung des französischen Programms der »industriellen Wiederbewaffnung« vermutlich nicht ausreichen wird.

 

Sektorales Sammelsurium

Eine der drei Zielrichtungen des Programms ist die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit (compétitivité) mit 34 Mrd. Euro. Der Löwenanteil entfällt hierbei auf die Senkung der Unternehmenssteuern von jeweils 10 Mrd. Euro 2021 und 2022. Dabei handelt es sich um Produktionssteuern (Steuern, die unabhängig vom Gewinn erhoben werden), die in Frankreich höher sind als in anderen EU-Staaten. Nach Regierungsinformationen entspricht das Steueraufkommen in Frankreich 3,2% des BIP, gegenüber einem EU-Durchschnitt von 1,6%. 

Gesenkt werden die Wertschöpfungsabgabe der Unternehmen CVAE (Cotisation sur la valeur ajoutée des entreprises) und die Immobilien- und Grundsteuern CFE und TFPB um 50%. Diese Steuerarten sind Teil der territorialen Wirtschaftsabgabe CET (Cotisation économique territoriale), die etwa der deutschen Gewerbesteuer entspricht. Der Höchstsatz der CET sinkt von 3 auf 2% der Wertschöpfung. Wirtschaftsverbände zeigten sich erfreut über diese Maßnahme, wenngleich Wirtschaftsexpert*innen errechneten, dass die Produktionssteuern um 70 Mrd. Euro pro Jahr anstatt um 10 Mrd. Euro gekürzt werden müssten, um das deutsche Niveau zu erreichen. Auf eine Mehrwertsteuersenkung wird bewusst verzichtet, da ihre Wirkung auf die Steigerung der privaten Nachfrage zweifelhaft sei (Angstsparen).

Die Mehrausgaben im Gesundheitssystem betreffen vor allem Gehaltsaufbesserungen (8,3 Mrd. Euro). Die Krankenhäuser erhalten sechs Mrd. Euro für Investitionen und der Staat übernimmt für 13 Mrd. Euro einen Teil ihrer Schulden. Ziel ist ein struktureller Aufbau der Pflegekapazitäten und die Verbesserung der unzureichenden Digitalisierung (elektronische Krankenakte, Nachverfolgung usw.), aber auch die Bildung von Reserven strategischer Verbrauchsgüter.

Des Weiteren hilft die Regierung der Automobilindustrie, die Lager zu räumen. Anders als Deutschland hat Frankreich eine Abwrackprämie auch für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor beschlossen. Bis zur Obergrenze von 200.000 Autos gilt die Kaufprämie, die seit dem ersten Tag bei den Bürger*innen gut ankommt (400.000 Autos sollen auf Lager stehen). Ökologisch sei das zu vertreten, weil die Neuwagen weniger Emissionen ausstießen als die zu verschrottenden Modelle, hatte Präsident Macron gesagt. Darüber hinaus gibt es wie in Deutschland Kaufprämien für Elektro-, Hybrid- und Wasserstoff-Autos.

Im Gegenzug verpflichtet sich die Industrie bis 2025 die Produktion von Elektroautos und Plug-in-Hybriden auf eine Mio. anzuheben. Renault hatte für eine staatliche Garantie über einen Kredit von fünf Mrd. Euro die Aufrechterhaltung bestimmter Fabrikstandorte in Frankreich zugesagt. Peugeot will die Produktion von Elektromotoren, die für China bestimmt war, doch in Frankreich ansiedeln. Solche Maßnahmen stören allerdings die Entwicklung des Welthandels zunehmend.

 

Luftfahrt tut not

Die Zentralbank (Banque de France) stellt in ihrem Konjunkturbericht für die Industrie ebenfalls eine Erholung fest: Die Kapazitätsauslastung der gesamten Industrie ist von Juli auf August von 72 auf 75% gestiegen, darunter die Automobilproduktion von 64 auf 73%. Hier rechnet man mit einer Rückkehr zur Normalität im Frühjahr 2021. In der Luftfahrtindustrie sieht man sich jedoch erst im Herbst 2022 auf normalem Niveau (nur die Elektroindustrie sieht sich noch pessimistischer).

Die Transportgüter-Industrie hat in Frankreich für den Export eine besondere Bedeutung. Firmen wie Dassault und Airbus gehören zu den globalen Playern sowohl der Rüstungs- als auch der Zivilluftfahrt. Seuchenbedingt nimmt der Flugverkehr überall auf der Welt ab. Die Regierungen versuchen, mit Zuschüssen ihren nationalen Fluggesellschaften über die Runden zu helfen (Lufthansa neun Mrd. Euro, Air France sieben Mrd. Euro, KLM 3,6 Mrd. Euro). Die Hilfen Frankreichs bestehen aus staatlichen Garantien für vier Mrd. Euro Bankkredite sowie einem Darlehen von drei Mrd. Euro, das direkt von der Regierung kommt. Im Gegenzug muss Air France bestimmte Rentabilitätsziele erfüllen und den CO2-Ausstoß senken. Die Kommission genehmigte die Hilfe mit Hinweis auf die Bedeutung von Air France mit mehr als 300 Flugzeugen und mehr als 41.000 Mitarbeitern für die französische Wirtschaft.

Im Gegenzug für die sieben Mrd. Euro Unterstützung muss Air France auf bestimmte Strecken innerhalb Frankreichs verzichten – immer dann, wenn alternativ eine Bahnverbindung besteht. Entsprechend dürften die Air France-Flüge zwischen Paris und Bordeaux, Lyon, Nantes und Rennes der Vergangenheit angehören. Lediglich Passagiere, die ins Ausland weiterreisen oder von dort ankommen, dürften die Strecken angeboten werden. Ob sich das für Air France lohnt, ist die Frage. Damit keine Wettbewerbsverzerrung entsteht, dürfen die freigewordenen Kapazitäten nicht von Mitbewerbern übernommen werden.

Betroffen sind in dem Sinne alle Flüge, für die alternativ eine Reise mit dem Hochgeschwindigkeitszug möglich wäre, der die Reisenden innerhalb von zweieinhalb Stunden von A nach B bringt. Darüber hinaus muss Air France bis 2030 den CO2-Ausstoß pro Passagierkilometer um 50% senken und 2% des Treibstoffverbrauchs bis 2025 über Bio-Kerosin abwickeln. Schon bis 2021 will Air France deshalb 40% der Inlandsflüge streichen.[4]

Dennoch beherrschen Kürzungspläne die unmittelbare Zukunft. Wenn die Lufthansa 150 ihrer 760 Maschinen stilllegt, bedeutet dies nicht nur pro Flugzeug rd. 100 Arbeitsplätze in der Instandhaltung und beim fliegenden Personal weniger, sondern auch Kürzungen in den Beschaffungsprogrammen. So werden sechs Maschinen des Typs A-380 an Airbus zurückgegeben und acht weitere werden gar nicht erst in Dienst gestellt. Das Modell ist am Ende. Auch das Langstreckenflugzeug Typ A-340 wird ausgemustert. Ähnliches wird in allen Fluggesellschaften vorbereitet.

Die Flugzeughersteller und ihre Zulieferer sollen acht Mrd. Euro erhalten, hat der französische Finanz- und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire Anfang Juni verkündet. Im jüngsten Luftfahrtplan der Regierung sind ganz spezifische Vorgaben enthalten, die Airbus erfüllen soll. Der Nachfolger des Mittelstreckenflugzeuges A320 – ein Verkaufsschlager und »Brot-und-Butter-Flieger« des europäischen Herstellers – soll zwischen 2033 und 2035 auf den Markt kommen, heißt es im Forderungskatalog. Ein erstes Demonstrationsmodell sei zwischen 2026 und 2028 zu präsentieren. Das neue Modell solle 30% weniger Sprit verbrauchen als heute und zu 100% mit Biotreibstoffen fliegen können. Die französische Regierung erwartet auch, dass Airbus ein neues hybrides Regionalflugzeug, das entweder teilweise mit einem Elektroantrieb oder mit Wasserstoff betrieben wird, 2030 auf den Markt bringt, einen Demonstrator zwei Jahre zuvor.

Gerade erst hatte Airbus sein Projekt des elektrischen Fliegens unter dem Titel »E-Fan« eingestellt, ohne dass es zu einem Erstflug kam. Die Zusammenarbeit mit Rolls-Royce und zuvor mit Siemens fiel aufgrund der Coronavirus-Krise dem Rotstift zum Opfer. Jetzt soll es neu aufleben – unter Umständen mit dem französischen Triebwerkslieferanten Safran. »Wir müssen unsere Luftfahrtindustrie retten und jedes Zurückfallen gegenüber den Riesen Boeing aus den Vereinigten Staaten oder Comac aus China verhindern«, sagte Le Maire. Die französische Verteidigungsministerin, Florence Parly, die den Luftfahrtplan ebenfalls präsentierte, stellte dabei auch eine grundsätzliche Forderung auf: »Jetzt ist nicht die Zeit, um Gewinne zu maximieren, sondern um Arbeitsplätze zu erhalten. Darüber werde ich wachen.«

Die Bedeutung des Militärsektors wächst für die gewerbliche Wirtschaft und den Export, je schwieriger die Lage in der Zivilluftfahrt wird. Das französische Militär fliegt mit der Eigenentwicklung Raffale und die Bundeswehr mit der amerikanischen F-18. Auch ohne Seuchen-Einbruch steht in diesem Jahr die Entscheidung über die Entwicklung eines gemeinsamen Nachfolgemodells an, dessen Produktion 2040 beginnen soll. Zu dem Gesamtvolumen des Programms gehören auch Drohnen und Satelliten. Zu Beginn des Jahres drohte Frankreich noch aus diesem Programm auszusteigen. In Manching bei Ingolstadt arbeiten bei Airbus allein rund 5.600 Beschäftigte gemeinsam mit etwa 1.000 Bundeswehrsoldat*innen an Luftwaffenprojekten. In Frankreich werden es kaum weniger sein, zumal der private Dassault-Konzern Systemführer ist.

 

Der New Deal bleibt aus

Die Umfragen zeigen, dass Macron beileibe nicht die charismatische Führungspersönlichkeit ist, eine machtvolle gesellschaftliche Reformdynamik in Gang zu setzen. Das Programm stößt auf wohlwollende Skepsis der Bevölkerung. Einer zerstrittenen und sozial gespaltenen Gesellschaft (Gelbwesten) werden keine einheitsstiftenden Zukunftsprojekte angeboten, es werden lediglich begonnene technologische Trends aufgegriffen und mit staatlichen Zuschüssen unterstützt. Quantitativ bleibt »France Relance« der größten Konjunkturkrise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unangemessen. Die öffentliche Infrastruktur bleibt in weiten Teilen vernachlässigt (ein kompletter und schneller Ausstieg aus der Atomwirtschaft wäre ein solches Projekt für die nach-fossile Wirtschaft). Regulatorisch wird auf keinen Fall Neuland beschritten.

Die verteilungspolitische Schieflage (20 Mrd. Euro Steuersenkungen) zeigt ebenfalls, dass es Macron an Mut fehlt, sich auch mit den Wirtschaftseliten anzulegen. Ein gesellschaftlicher Dialog über Ziele und das nötige Ausmaß eines Programms fand nicht statt. Die 150 Forderungen, über die Anfang des Jahres ein Bürgerkonvent im Auftrag des Staatspräsidenten befunden hatte, verstauben in den Regalen. Eine demokratische Erneuerung bleibt aus, Macron inszeniert weiterhin die Zuschauerdemokratie. Die Unzufriedenheit in seiner Partei wächst, die Austritte von Parlamentarier*innen gehen weiter.

 
[1] www.insee.fr/fr/statistiques/2107840
[2] www.gtai.de/gtai-de/trade/wirtschaftsumfeld/bericht-wirtschaftsumfeld/frankreich/krisenplan-soll-wirtschaft-antreiben-und-zukunftsfest-machen-547568
[3] www.faz.net/aktuell/wirtschaft/konjunktur/corona-hilfen-warum-frankreich-einen-anderen-weg-geht-16807775-p2.html
[4] www.flüge.de/news/frankreich-knuepft-air-france-staatshilfen-an-abbau-inlaendischer-fluege-090720201/

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