5. Juli 2023 Bernhard Sander: Hintergründe der gewalttätigen Proteste

Frankreichs Jugend in Aufruhr

Kaum dass die Proteste gegen die Rentenabsenkungen abgeflaut sind, muss der französische Innenminister Gérald Darmanin die kasernierte Polizei schon wieder auf die Straßen schicken. Landesweit randalierte über eine Woche lang die Jugend in den Ballungsgebieten der französischen Republik.

Nacht für Nacht verhafteten die 45.000 CRS-Polizisten, darunter auch Anti-Aufstandsbrigaden wie die BRAV-M oder die CRS-8 mit gepanzerten Fahrzeugen, Hunderte Jugendliche, davon ein Drittel Minderjährige.

Laut einer Bilanz des Innenministeriums wurden seit Beginn der Unruhen bis Dienstag, 4. Juli im ganzen Land 3 486 Festnahmen verzeichnet. Das Ministerium zählte außerdem 808 Verletzte unter den Ordnungskräften, 269 Angriffe auf Polizei- und Gendarmerieeinrichtungen, 1.105 in Brand gesteckte oder beschädigte Gebäude, 5.892 Fahrzeugbrände und 12.202 Brände auf öffentlichen Straßen. Der Unternehmerverband MEDEF schätzt den daraus entstandenen Sachschaden auf über eine Mrd. Euro.

Auslöser war der tödliche Schuss eines Polizisten, der als Soldat in Afghanistan eingesetzt und für seinen Einsatz bei den Gelbwestenprotesten ausgezeichnet worden war, auf den siebzehnjährigen Nahel, der mit einem protzigen Leihwagen zu schnell über die Straßen der Vorstadt Nanterre gefahren war. In einem Video des Vorgangs war bei der Kontrolle zuvor der Satz zu hören: »Du kriegst eine Kugel in den Kopf.« Ein Entlastungsversuch in den sogenannten sozialen Medien, die zum Brandbeschleuniger der Riots wurden, zielt jetzt darauf, diesen Satz als digitalen Fake zu entlarven.

Staatspräsident Macron, der seinen Staatsbesuch in Deutschland absagte und mehrmals ein Krisenkabinett zusammenrief, beugte sich nicht dem Ruf nach dem Ausnahmezustand, der von der Rechten und der extremen Rechten, namentlich dem Vorsitzenden der Republikaner, Eric Ciotti, und Eric Zemmour gefordert wird. Dieses Ausnahmeregime, das 1955 während des Algerienkriegs eingeführt wurde, verleiht der Exekutive außergewöhnliche Befugnisse und schränkt bestimmte öffentliche und individuelle Freiheiten ein. Aber auch so löste die Polizei Versammlungen gegen Polizeigewalt auf, und setzte ein Fahrverbot im ÖPNV landesweit ab 21 Uhr durch.

Macron machte die Verletzung der Aufsichtspflicht der Eltern und Videospiele für den Aufstand verantwortlich. Sein Verständnis reicht damit nicht viel weiter als 2005 das des Innenministers (und späteren Staatspräsidenten) Nicolas Sarkozy, der nach ähnlichen Krawallen mit dem Hochdruckreiniger die Vorstädte vom Abschaum säubern wollte. Allerdings verdankte Sarkozy dann aber seine spätere Wahl auch den jüngeren und besser gebildeten Generationen, denen sein Versprechen gefiel, es ließe sich etwas erreichen, wenn man sich nur bemühe.

Bei dem Riots in den Vorstädten 2023 handelt es sich nur mehr rudimentär um politische Aufstände, gleichwohl muss die Politik Antworten finden.[1] Der mäßigende Appell Jean-Luc Mélenchons, Schulen und Bibliotheken zu verschonen, verhallte ungehört.

Das System als Ganzes fühlt sich angegriffen. Innenminister Darmanin sprach von organisierten Gruppen, die ungefähr gleichzeitig im ganzen Land angegriffen und den Einsatz von Polizei und Feuerwehr erschwert haben: »Man darf nicht naiv sein: Man wollte unseren republikanischen Pakt angreifen«, sagte er. Mehr als 130 Polizisten und Gendarmen seien schon in der ersten Nacht verletzt worden, teilte der Justizminister mit und wies auf diejenigen, die die Polizei »bespucken«, und die er als »moralische Komplizen der begangenen Übergriffe« bezeichnet. Die Akteure dieser Gewalttaten »werden identifiziert und bestraft«, so Darmanin.


Ursachen der Wut

Angriffsziele waren öffentliche Einrichtungen vom Kindergarten bis zum Gefängnis, darunter eine Grundschule, die den Namen von Angela Davis trägt. Aber auch Rathäuser und Privatwohnungen von Bürgermeistern waren Orte der Verwüstung. Filialen des gehobenen Konsums (Nike, Apple, Rolex) wurden geplündert. Wenn 15-Jährige solche Läden verwüsten, zeigt das eigentlich nur, was diesen Jugendlichen fehlt: Statussymbole der Gesellschaft, die sie außer mit krimineller Energie wohl nie erreichen werden, jedenfalls kaum mehr durch eigene Leistung.

Es sind aber diese Güter des ostentativen Konsums, die nicht nur von den tonangebenden Reichen & Schönen wertgeschätzt werden. Soziale Tugenden, familiy values oder gar staatsbürgerliche Pflichten werden hier ebenso wie in Teilen der unteren Klassen eher geringgeschätzt. Schon vor Jahren fragte in einem Dokumentarfilm ein Schüler eines Vorstadt-Lyceums seine Lehrerin provozierend, welchen Zweck es habe, den »subjonctif« zu lernen (eine nur in der gehobenen Schriftsprache verwendete Form, Verben zu beugen).

Frankreich ist eine Klassengesellschaft, die ihren Zusammenhalt verloren hat. In einer demoskopischen Erhebung[2] wird dies deutlich.

Dieser schwache Zusammenhalt wird allerdings nicht mehr »klassentheoretisch« interpretiert. Als Trennungsfaktoren nennen in Frankreich nur noch Minderheiten die Schichtzugehörigkeit und den Bildungsabschluss, die Herkunft, ob man aus dem Land stammt oder zugewandert ist, aber auch die Generationenzugehörigkeit. Die Einkommenshöhe bzw. das Vermögen und der Beruf (»Wie man sein Geld verdient«) trennt die Gesellschaft nach Ansicht der französischen Bürger*innen. Im Endeffekt schauen gerade die jungen Franzosen nicht sehr optimistisch in die Zukunft.

 

Bildung, Einkommen und Zugang zu Konsumgütern charakterisieren die Klassenunterschiede

Zwischen den Generationen, die Ende der 1960er-Jahre und Anfang der 1990er-Jahre geboren wurden, ist der Anteil derjenigen, die nach dem Abitur weiter studiert haben, stark gestiegen. Dieser Anstieg war jedoch bei den Kindern von Führungskräften oder Angehörigen mittlerer Berufe stärker (+21 Punkte) als bei den Kindern aus der Arbeiterklasse (+17 Punkte). Noch beunruhigender ist, dass seit der in den 1980er-Jahren geborenen Generation die Zugangsquote zur Hochschulbildung in der Arbeiterklasse praktisch stagniert, während sie in den privilegierten Kreisen weiter gestiegen ist. Das Ergebnis: Die Kluft wird immer größer.[3]

Das setzt sich in den Lebenslagen fort. Die Kluft im Lebensstandard zwischen den sozialen Gruppen wird mit zunehmendem Alter größer. Denn im Laufe ihrer Karriere verändern sich die Gehälter von Arbeitern und Angestellten kaum, während die von Führungskräften eine schöne Aufwärtskurve durchlaufen. Mit 30 Jahren kann eine Cadre (qualifizierter Angestellter mit Führungsfunktionen) im Durchschnitt mit 2.700 Euro netto im Monat rechnen (Einstiegsgehalt). Ein gleichaltriger Arbeiter oder Angestellter muss sich mit 1.600 Euro begnügen, was einen Unterschied von 1.100 Euro zwischen diesen beiden sozialen Kategorien bedeutet.

Mit 60 Jahren kann ein Cadre ein deutlich höheres Gehalt beziehen: durchschnittlich 5.700 Euro pro Monat. Kurz vor der Rente können Arbeiter und Angestellte nur 1.900 Euro erwarten. Der Abstand hat sich also von 1.100 Euro auf 3.800 Euro im Alter von 60 Jahren vergrößert. Anders ausgedrückt: Ältere Führungskräfte verdienen dreimal so viel wie Arbeiter und Angestellte im gleichen Alter. Die Aussicht auf einen steigenden Lebensstandard betrifft vor allem junge Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen, die eine Karriere als Führungskraft beginnen. Und im Alter wird es nach den macronitischen Reformen eher schlimmer. Das dürfte durch die Proteste der letzten Monate auch einem jungen Menschen klar geworden sein, der oder die sich nicht für Politik interessiert.

Der Konsum der Haushalte sagt viel über den Lebensstil aus. Das hängt natürlich mit der Größe des Geldbeutels zusammen: Während ein Haushalt von Führungskräften es sich leisten kann, 3.600 Euro im Monat auszugeben, muss sich ein Arbeiterhaushalt mit 2.000 Euro begnügen. Aber auch die Art der Ausgaben unterscheidet sich stark zwischen den einzelnen Klassen. Grundlegende Güter wie Lebensmittel oder Wohnraum belasten das Budget der weniger Privilegierten stark. Aus diesem Grund sind sie auch anfälliger für Preissteigerungen als andere. Auch machen die Ausgaben für Abonnements (Internet, Telefon, Versicherungen) einen großen Teil ihres Warenkorbs aus. Im Gegensatz dazu nehmen bei Führungskräften eher nebensächliche Ausgaben wie Restaurants, Hotels, Freizeitaktivitäten oder Innendekoration einen größeren Teil ihres Budgets ein.

Damit kann das Problem auch nicht nur an die Polizei (vgl. taz 4.7.2023) adressiert werden (Aufrüstung mit Gas- und Gummigranaten, deliberative Einsatzregeln, RN-Orientierung bei zwei Dritteln der unteren Dienstgrade). Gleichwohl ist auch das eine wichtige Dimension des Problems: Das unabhängige Medienunternehmen Basta! berichtete, dass in den Jahren 2021 und 2022 44 Menschen von der Polizei erschossen wurden. Seit 2010 wurden solche Zahlen nicht mehr erreicht, nicht einmal während des Terrorismus in den Jahren 2015–2016. Zwischen 2010 und 2016 (einschließlich) wurden 55 Menschen durch die Schüsse eines Polizisten oder Gendarmen getötet. Zwischen 2017 und 2022 (einschließlich) beläuft sich diese Zahl auf 86![4] Nur zehn von den 44 waren bewaffnet, weitere 16 trugen Messer. 2017 hatte Staatspräsident Francois Hollande den Schusswaffengebrauch gelockert und auch RN-Bürgermeister rüsteten ihren kommunalen Ordnungsdienst mit Handfeuerwaffen aus.


Politische Reaktionen

Die Unruhen sind möglicherweise Wasser auf die Mühlen des rechtsextremen Rassemblement National (RN), der ja schon bei den Rentenprotesten zu Ruhe und Ordnung aufgerufen hatte. Marine Le Pen fragte Ministerpräsidentin Elisabeth Borne in der Nationalversammlung: »Was haben Sie aus Frankreich gemacht?« Sie beschuldigte die Exekutive, das Land der »Plünderung« preisgegeben zu haben, und sprach von »rechtsfreien Räumen, wo sich die Parallelgesellschaft vergemeinschaften durfte«. »Sie haben nichts aus den Unruhen von 2005 gelernt«, fuhr die Vorsitzende der RN-Abgeordneten fort, und: »Sie bereiten sich darauf vor, uns mit Milliarden einen x-ten Plan für die Vorstädte aufzutischen«, während ihrer Meinung nach »zuerst und vor allem die ungeregelte Einwanderung gestoppt werden« müsse.[5] Ein Spendenaufruf für die Familie des in Untersuchungshaft sitzenden Polizisten brachte in wenigen Tagen eine Mio. Euro zusammen, mehr als jede Streikkasse.

Die politische Klasse zankt um die Interpretationshoheit und Schuldfragen. In allen sozialen Netzwerken meldeten sich zahlreiche Abgeordnete von Republikanern und Renaissance (Macrons Partei) zu Wort, um auf den Abgeordneten von »La France Insoumise« (LFI), David Guiraud, einzudreschen, der am zweiten Tag im TV argumentiert hatte, man müsse »nicht [zur] Ruhe, sondern zur Gerechtigkeit [aufrufen]«. Seiner Meinung nach »ist es an den Polizisten, sich zu beruhigen«. »Die Abgeordneten, die die Bewohner der Stadtviertel als Schutzschild für ihre politischen Projekte benutzen, haben die Nase voll.

Die Äußerungen dieses LFI-Abgeordneten sind unverantwortlich«, knurrte daraufhin die Macronistin Nadia Hai. Sie wurden Guiraud nach der nächsten Krawallnacht vom Innenminister als Rechtfertigung der Gewalt ausgelegt: »Schande über diejenigen, die nicht zur Ruhe aufgerufen haben«, lautete der Tweet des Innenministers. Mélenchon prangerte die »schändliche politische Vereinnahmung der Ereignisse durch Darmanin an – erbärmlicher Politiker, unfähig, unverantwortlich –, der seine Verantwortung für die Entgleisung der Polizei abwälzt, indem er die Insoumise beschuldigt«.

»Ich distanziere mich von den Äußerungen von Jean-Luc Mélenchon und einigen ›Insoumise‹, die sich geweigert haben, zur Ruhe aufzurufen, wobei einige sogar so weit gingen, zu sagen, dass diese Gewalt legitim sei, bis hin zu ihrer Rechtfertigung«, erklärte der PCF-Vorsitzende Roussel auf einer Pressekonferenz. Er, der im Gegensatz zu Mélenchon »nie gesagt« hat, »dass die Polizei tötet«, behauptet, er wolle »keine Gleichsetzung« zwischen Polizisten, »die gefährliche, rassistische Verhaltensweisen an den Tag legen, und dem Rest der Ordnungskräfte« vornehmen. Der Nationalsekretär der PCF kritisierte auch »die Ausfälle und Exzesse« der »Polizeigewerkschaften, die die Bewohner*innen dieser Viertel als ›Schädlinge‹ bezeichnen«, und den »von einem Unterstützer von Herrn Zemmour ins Leben gerufenen Spendentopf«, um der Familie des Polizisten zu helfen, der Nahel M. erschossen hat, aber auch »diese rechten und rechtsextremen Führer, die die Jugend dieser Viertel mit Plünderern und Einwanderern gleichsetzen und einen immer noch stärkeren Rassismus nähren«.

Macron hat 250 Bürgermeister aus den betroffenen über 550 Gemeinden zusammengerufen, um nach den Ursachen zu forschen, aber keine Jugendlichen oder wenigstens Expert*innen. »Die rechten Bürgermeister schlagen rechte Lösungen vor: Autorität, Bildung; die linken Bürgermeister linke Lösungen: mehr Geld«, sagte Eric Straumann (Les Républicains, LR), Bürgermeister von Colmar (Haut-Rhin).

Die Vorstädte insbesondere um Paris herum in den Départements Val d´Oise, Val de Marne, Seine-Saint-Denis verzeichnen schon seit Jahren eine auf 20–30% zurückgehende Wahlbeteiligung. In Folge dieser Entwicklung werden die betroffenen Kommunen oft von Bürgermeistern verwaltet, die aus dem rechtsbürgerlichen Lager stammen, das noch wählen geht. Die Namen der verbrannten Gebäude und Straßen zeugen davon, dass es sich um den früher von Kommunisten verwalteten »Roten Gürtel« von Paris handelt.

Mit dem Aufstieg und Wegzug der Facharbeiter*innen und dem Zuzug von Migrant*innen in die Viertel des sozialen Wohnungsbaus (da die Einkommensgrenzen nicht angepasst und zu wenig neue Wohnungen hinzugebaut wurden) schrumpfte die soziale Basis dieses Kommunal-Kommunismus.

Das Problem scheint aber vielschichtiger zu sein. Es deutet sich so etwas wie eine neue Geografie an. Von den 553 betroffenen Gemeinden sind nur 170 ohne »Viertel mit erhöhter politischer Aufmerksamkeit« (QPV). Das sind seit 2020 definierte 1.300 Gemeinden oder Stadtteile mit weniger als 10.000 Einwohnern, in denen Kleinunternehmen besonders gefördert werden.

Unter diesen vorrangigen Viertel der Stadtpolitik befinden sich viele verschiedenen Siedlungstypen (Vorstädte, mittelgroße Städte, heruntergekommene Altstadtkerne, Stadtrandgemeinden, ehemalige Bergarbeitersiedlungen, Viertel in Übersee usw.). Die meisten dieser Viertel bestehen aus Großwohnsiedlungen, die in der Regel während der »Trente Glorieuses« (Wirtschaftswunder) in Form von hohen Türmen und langen Gebäuderiegeln errichtet wurden. Häufig handelt es sich dabei um Sozialwohnungen, aber auch um heruntergekommene Eigentumswohnungen.

In jedem Viertel werden »Bürgerräte« eingerichtet. Diese Räte setzen sich aus Freiwilligen, Vereinen und Bewohner*innen zusammen, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden, und müssen paritätisch von Frauen und Männern besetzt sein. Die Räte müssen »in völliger Unabhängigkeit« an den von der Stadt durchgeführten Projekten beteiligt werden. Die Hauptschwerpunkte der Maßnahmen in diesen Stadtvierteln betreffen den sozialen Zusammenhalt (Bildung, berufliche Eingliederung und Sicherheit), das Lebensumfeld und die Stadterneuerung sowie die wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung.

Im Jahr 2017 war die Bevölkerung in den QPV immer noch deutlich jünger als der Durchschnitt im französischen Mutterland insgesamt: »Vier von zehn Einwohnern in den QPV sind unter 25 Jahre alt, in Frankreich sind es drei von zehn, einschließlich der QPV.« Aber seit den 1990er-Jahren steigt der Anteil der älteren Menschen dort deutlich an. In rund 100 Stadtvierteln ist mehr als ein Viertel der Einwohner über 60 Jahre alt. Das ist ein ähnlicher Anteil wie in einigen ländlichen Städten, die als »alternd« eingestuft werden. Von 1990 bis 2010 stieg die Zahl der 60- bis 74-Jährigen dort um ein Viertel (von 394.000 auf 494.000 Einwohner*innen), während die Zahl der über 75-Jährigen um die Hälfte zunahm Dieses Phänomen der Überalterung stellte die hauptsächlich und historisch auf junge Menschen ausgerichtete Stadtpolitik in Frage.

Offenbar gingen die Prioritäten der Verwaltungen und der Bürgerbeteiligungsräte an denen der verbleibenden jüngeren Bürgerschaft vorbei. Der vorliegende Haushaltsentwurf der französischen Regierung für 2023/2024 sieht einen spürbaren Abbau der Förderung vor, nachdem bereits 2017 das Wohngeld für Sozialhilfebezieher*innen und Geringverdiener empfindlich gekürzt worden war.

Mit migrantischer Gewaltbereitschaft haben die Krawalle wenig zu tun. Als Antwort auf den Abgeordneten Michaël Taverne (RN), der die Verantwortung für die Gewalt auf die Einwanderung schob, argumentierte Gérald Darmanin, dass das Problem, das durch die Unruhen entstanden ist, »jugendliche Straftäter« und »keine Ausländer« sind, und »weniger als 10% der Festgenommenen [Ausländer] waren«. Man dürfe die Debatten nicht vermischen.

Auch die Eltern in diesen Schlafstädten scheinen von den Ereignissen überrollt. Eine Gruppe von Hausfrauen, einige verschleiert, andere nicht, will nicht glauben, dass es sich um Kinder aus ihrem Viertel handelt: »Sie haben Werte, wir kennen sie alle. Vermummte Jugendliche, das kann jeder sein.« Sie sind auch empört über den Tod von Nahel, aber »sie hätten andere Mittel finden sollen, ruhig demonstrieren. Das wird ihn nicht zurückbringen«, meint eine Frau. Eine andere erinnert daran, dass derzeit Eid, das muslimische Äquivalent zu Weihnachten, gefeiert wird, was die Gewalt noch unerträglicher macht. Sie ist Ehrenamtliche in einem Tanz- und Musikverein, der am Wochenende eine Gala im ausgebrannten städtischen Allende-Saal veranstalten wollte.

»Die Volksbildungs- und Gewerkschaftsbewegungen, die 1983 in der Lage waren, den Marsch für Gleichberechtigung zu begleiten und zu organisieren und die bestehenden Spannungen zu befrieden, sind nun ausgeblutet. […] Darüber hinaus haben die politischen Entscheidungsträger nicht mehr die Macht, die sie damals hatten, verstreut auf tausendundeine Ebene der Entscheidungsfindung, Institutionen mit je eigener Agenda, unabhängigen Autoritäten. Die Macht wurde in einer bürokratischen Megamaschinerie verteilt, mit der die schwachen assoziativen Mittler ein Projekt nicht mehr langfristig aufbauen können.«[6]

Ob all diese verwüsteten Einrichtungen wieder aufgebaut werden, bleibt abzuwarten. Bisher war lediglich die repressive Hand des Staates zu sehen. Von einer vergleichbaren Geste wie den 10 Mrd. Euro, die Macron nach den Gelbwestenprotesten bewilligte, ist bisher nichts zu hören. Er hat lediglich getreu seiner liberalen Agenda ein Gesetz zur Entbürokratisierung von Bauvorschriften angekündigt, »um den Wiederaufbau zu beschleunigen«.

Anmerkungen

[1] »1983, also vor genau 40 Jahren, begann der Marsch für Gleichberechtigung. Es war bereits nach einem ›Fehler‹ der Polizei gegen einen jungen Bewohner eines ›Viertels‹ in Vénissieux (bei Lyon), einige Zeit nachdem die ersten städtischen Unruhen auf diesem Gebiet aufgetreten waren. Dieser Marsch quer durch Frankreich schaffte es, die Wut über den Tode des jungen Mannes in eine politische Geste zu verwandeln, bis er bei seiner Ankunft in Paris 100.000 Menschen versammelte, seine Organisatoren in den Elysée-Palast führte und einige rechtliche Fortschritte erzielte. Vor allem aber veränderte es das Gesicht der französischen Gesellschaft für mindestens zehn Jahre dank einer riesigen kulturellen Bewegung, die mit dem Begriff ›Beur‹ karikiert wurde, und politisierte sogar eine ganze Generation von Bewohnern der Viertel und den Rest Frankreichs dank Organisationen wie SOS-Racisme.« https://www.lemonde.fr/idees/article/2023/07/04/emeutes-urbaines-il-ne-faut-jamais-oublier-les-banlieues-c-est-une-faute-morale-politique-et-civilisationnelle_6180419_3232.html.
[2] https://www.dfi.de/aktuelles/meldungen/einzelansicht/grosse-allensbach-umfrage-anlaesslich-75-jahre-dfi.
[3] Alternatives Economiques Juni 2023 https://archive.ph/Bxpc3#selection-2611.103-2670.0.
[4] « Le rôle de la police est de maintenir l’ordre social, racial et capitaliste » - POLITIS Nr. 1754.
[5] https://www.lemonde.fr/societe/live/2023/07/04/emeutes-urbaines-apres-la-mort-de-nahel-m-en-direct-emmanuel-macron-annonce-un-projet-de-loi-d-urgence-pour-accelerer-la-reconstruction_6179556_3224.html.
[6]  Der Stadtplaner Erwan Ruty in Le Monde.; https://www.lemonde.fr/idees/article/2023/07/04/emeutes-urbaines-il-ne-faut-jamais-oublier-les-banlieues-c-est-une-faute-morale-politique-et-civilisationnelle_6180419_3232.html.

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