2. Januar 2021 Otto König/Richard Detje: Rigoroser Kurs gegen die Zivilgesellschaft

Freiheit für Erdoğans politische Gefangene

Selahattin Demirtaş [l.] und Osman Kavala [Montage]

Als der Autokrat Recep Tayyip Erdoğan im November 2020 eine »Justizreform« und eine »Menschenrechtsoffensive« ankündigte, glaubten opportunistische Politiker in Deutschland und in der Europäischen Union (EU), die ihn wegen der Flüchtlingspolitik nicht verärgern wollen, die schwere Wirtschaftskrise in der Türkei zwinge den Präsidenten, seine autoritäre Herrschaft zu lockern.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Je schlechter es in der Ökonomie läuft,[1] umso mehr schränkt die AKP/MHP-Koalitionsregierung die letzten demokratischen Freiräume ein, desto rigoroser wird gegen Organisationen und Repräsentanten der Zivilgesellschafft vorgegangen.

Mit Einführung des Präsidialsystems wurden zunächst das Parlament, die Justiz und die Medien der Kontrolle des Herrschers im »1.000-Zimmer-Palast« in Ankara unterworfen. Seit dem gescheiterten »Militärputsch« im Juli 2016 wurden hunderttausende Verfahren wegen Verdacht auf Unterstützung »terroristischer Gruppen« eingeleitet. Betroffen sind vor allem linke Oppositionsgruppen, demokratische Wissenschaftler, Schriftsteller, Journalisten und Gewerkschaftsaktivisten.

So kann die Position der »Demokratischen Partei der Völker« (HDP), die bei den Parlamentswahlen 2018 noch 11,7% der Stimmen erhalten hatte, nur noch als »halblegal« charakterisiert werden. In den vergangenen vier Jahren sind 20.000 HDP-Mitglieder festgenommen worden, heißt es in einer aktuellen Bilanz der Parteispitze. Zuletzt wurde die frühere HDP-Parlamentsabgeordnete Leyla Güven zu 22 Jahren Haft verurteilt.

Erdoğan und seine willfährigen Unterstützer setzen den Abbau rechtsstaatlicher Regeln unbeirrt fort. Zur Willkür der gleichgeschalteten Justiz gehört, dass politische Gefangene, wie der frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş[2] und der türkische Kunstmäzen Osman Kavala selbst nach Urteilen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) nicht freigelassen werden. Und während der exilierte Journalist Can Dündar in Abwesenheit zu mehr als 27 Jahre Gefängnis verurteilt wurde, hat der ultra-rechte MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli bewirkt, dass sein Freund Alaattin Cakici, der führende »Mafia-Pate« der türkischen Unterwelt, im April 2020 aus der Haft entlassen worden ist.

Am 22. Dezember erklärte die Große Kammer des EGMR erneut, dass die Türkei die Menschenrechte von Demirtaş verletze – von der Meinungsfreiheit über das Recht auf Freiheit bis zum passiven Wahlrecht. Beanstandet wurden sowohl die Aufhebung der parlamentarischen Immunität als auch die Untersuchungshaft sowie die gesamte terrorismusbezogene Strafverfolgung. Die Türkei habe für Demirtaş’ Verurteilung zu 142 Jahren Haft keinerlei konkreten Beweis hinsichtlich einer Verbindung zur PKK vorlegen können. Die Straßburger Richter*innen halten in ihrem Urteil fest, dass die Strafverfolgung und Inhaftierung von Demirtaş allein das Ziel hat, den gesellschaftlichen Pluralismus zu unterdrücken und die politische Debatte in der Türkei zu behindern.

»Meine Sache ist rein politisch, das hat mit Recht nichts zu tun. Das sagen ja auch alle Regierungssprecher ganz offen, auch Erdoğan selbst. Dass ich nach wie vor im Gefängnis festgehalten werde, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Verfassungsgericht eklatante Rechtsverstöße in meinem Fall konstatiert haben, liegt daran, dass die politischen Animositäten andauern«, erklärte Demirtaş im Interview mit Spiegel.de (23.12.2020). Erdoğan kritisierte das EGMR-Urteil: Das Gericht stelle sich hinter einen »Terroristen«.

Als Mitglied des Europarats ist die Türkei verpflichtet, Urteile des Europäischen Menschengerichtshofs umzusetzen. Doch es ist nicht das erste Mal, dass die türkische Justiz sich darüber hinwegsetzt. Bereits 2018 hatte der Gerichtshof Demirtaş’ Freilassung erfolglos gefordert. »Niemals werde man einen Feind des Volkes freilassen«, ließ Innenminister Süleyman Soylu erklären. Die willfährigen Richter in Ankara bemühten gar das absurde Argument, ihnen liege »keine türkische Übersetzung des Urteils des europäischen Gerichts« vor.

Vor einem Jahr beanstandete das Straßburger Gericht die Inhaftierung des türkischen Menschenrechtlers Osman Kavala als rechtswidrig, seine Inhaftierung basiere auf politischen Motiven. Auch in diesem Fall wurde die Aufforderung zur Freilassung von der türkischen Justiz ignoriert, die dem seit drei Jahren in Untersuchungshaft sitzenden Kavala Spionage und Unterstützung des Militärputschs von 2016 vorwirft.

Im Februar 2020 sprach ihn ein Istanbuler Gericht von den Vorwürfen frei, die Gezi-Proteste[3] des Frühjahres 2013 organisiert und finanziert zu haben. Doch vor der Freilassung Kavalas legte die Staatsanwaltschaft eine neue Anklageschrift vor. Darin heißt es sinngemäß, wenn er nicht für die Gezi-Proteste verantwortlich war, dann sei er dafür verantwortlich, gemeinsam mit dem in den USA ansässigen Henri Barkey den gescheiterten Putsch vor viereinhalb Jahren mit vorbereitet zu haben. Um das zu stützen, führte die Staatsanwaltschaft Telefondaten an, die zeigen sollen, dass sich die beiden Männer der gleichen Mobilfunkzelle in Istanbul bedient und sich auch getroffen hätten. Der Prozess soll im Februar 2021 fortgesetzt werden.

Wegen angeblicher »Unterstützung des Terrorismus« und »militärischer oder politischer Spionage« wurde der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, verurteilt. Ein im Jahr 2015 in der Zeitung erschienener Bericht belegte, dass die Regierung des damaligen Ministerpräsidenten und späteren Präsidenten Erdoğan mit Hilfe des türkischen Geheimdienstes illegal Waffen und Munition an die Dschihadisten in Syrien  lieferte. Am Tag der Publikation wurde die gesamte Auflage der Zeitung beschlagnahmt. »Der Mann, der diesen Bericht gemacht hat, wird einen hohen Preis dafür bezahlen. Den lasse ich nicht so davonkommen«, drohte Erdoğan am Tag danach.

Es kam ein »Geschehen ins Rollen, das mich ins Gefängnis brachte und in dessen Folge auf mich geschossen wurde, ich meinen Job verlor, mein gesamtes Vermögen beschlagnahmt wurde und ich heute in Deutschland im Exil lebe«, schreibt Can Dündar in der ZEIT (29.12.2020). Anfang 2016 – nach drei Monaten Untersuchungshaft – wurde er auf Anordnung des türkischen Verfassungsgerichts freigelassen; kurz darauf entkam er knapp einem Mordanschlag während eines Gerichtsverfahrens. Im Mai 2016 verurteilte ihn das Gericht zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft, und zwar lediglich für die »Enthüllung von Staatsgeheimnissen«. Dündar konnte nach Deutschland fliehen.

Der türkische Berufungsgerichtshof ordnete in seiner Abwesenheit ein neues Verfahren an, das nun mit einem politischen Urteil endete. Außerdem beschlossen die Richter, bei Interpol einen Dringlichkeitsvermerk zu beantragen und die Bundesregierung um seine Auslieferung zu ersuchen. Deutschland solle Dündar ausliefern, »statt seine Verbrechen zu billigen«, giftete Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun.

Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur »Regulierung von Nichtregierungsorganisationen« (NGO) durch die türkische Nationalversammlung will die regierende AKP-MHP-Allianz künftig oppositionelle NGOs an die Kette legen. Eine Gesetzesvorlage, die dem Titel nach der »Verhinderung der Verbreitung der Finanzierung von Massenvernichtungswaffen« dienen soll, wurde so zweckentfremdet, dass das Innenministerium und der Staatspräsident weitreichende Befugnisse zum Eingriff in unabhängige Vereinigungen und Stiftungen erhalten.

Das Innenministerium kann Vorstandsmitglieder von Organisationen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen Anklage erhoben wird, von ihrer Position suspendieren und durch staatliche Treuhänder ersetzen. Zudem können die Aktivitäten der betroffenen Gruppierungen ausgesetzt und ihre Gelder bis zum Vorliegen einer Gerichtsentscheidung eingezogen werden. Die Chancen für regierungskritische NGOs, vor Gericht dagegen vorzugehen, dürften gleich Null sein.

Sieben zivilrechtliche Organisationen warnten deshalb in einer gemeinsamen Erklärung, mit dem Gesetz werde die Unschuldsvermutung verletzt. »Angesichts der Tatsache, dass gegen tausende Akteure der Zivilgesellschaft – Journalisten, Politiker, Mitglieder von Berufsorganisationen[4] – im Rahmen des (Anti-Terrorismus-) Gesetzes ermittelt wird, gibt es keinen Zweifel, dass dieses Gesetz auf fast alle regierungskritischen Vereinigungen zielt«, heißt es in ihrer Erklärung (DW, 27.12.2020). Der HDP-Abgeordnete Abdullah Koc sprach von einem »Putsch gegen die Zivilgesellschaft«.

Trotz der massiven Unterdrückung der demokratischen Opposition in der Türkei setzen die Europäische Union und Deutschland aus kurzfristigen Interessen ihre zynische Geopolitik fort. So lehnt beispielsweise der deutsche Außenminister Heiko Maas ein »Waffenembargo« gegen die Türkei ab. »Strategisch halte ich das nicht für den richtigen Weg«, sagte er in einem dpa-Interview, verwies darauf, dass die Türkei ein NATO-Mitgliedstaat sei und zeigte sich besorgt, dass Erdoğan sich die Waffen woanders besorgen könne. Wenn Maas den Rüstungsexportstopp verweigert, »stellt er sich vor die vielen Verbrechen Erdoğans und der türkischen Regierung und stützt diese, er macht die Bundesrepublik damit zum Helfershelfer dieser Verbrechen«, reagierte der verteidigungspolitische Sprecher der LINKEN-Bundestagsfraktion, Tobias Pflüger.

Wenn der türkische Staatspräsident Erdoğan und die AKP/MHP-Regierungsallianz die Presse- und Meinungsfreiheit zerstört, dann darf dazu nicht geschwiegen werden. Der Welt-Journalist Deniz Yücel kam nach einem Jahr Untersuchungshaft auch deshalb frei, weil die Zivilgesellschaft und die Medien in Deutschland massiven Druck gemacht haben. Inzwischen erlahmt das öffentliche Interesse für das Schicksal der politischen Gefangenen in der Türkei. Menschen wie Demirtaş und Kavala besitzen nicht das Privileg eines deutschen Passes. Das darf jedoch nicht davon abhalten, weiterhin für ihre Freiheit zu kämpfen.

Anmerkungen

[1] Siehe hierzu auch den Beitrag »Erdoğan baut die Türkei weiter um« auf Sozialismus.deAktuell vom 31.12.2020.
[2] Selahattin Demirtaş wurde 2007 erstmals ins türkische Parlament gewählt. 2014 trat er der neu gegründeten HDP bei und wurde deren Co-Vorsitzender. 2015 erzielte die HDP mit 13,1% der Stimmen ein historisch gutes Wahlergebnis und zog ins türkische Parlament ein, wodurch die Regierungspartei AKP erstmals seit ihrer Gründung 2001 die absolute Mehrheit verlor. Danach wurde Demirtaş mit politisch motivierten Strafverfahren überzogen. Im Mai 2016 verlor er nach einer umstrittenen Verfassungsänderung die parlamentarische Immunität und sitzt seit November 2016 in Untersuchungshaft. Immer wenn eine Entlassung möglich schien, eröffnete die gleichgeschaltete türkische Justiz ein neues Verfahren. An der Präsidentschaftswahl 2018 nahm er aus dem Gefängnis heraus teil, erzielte 8,4% der Stimmen und kam damit auf den dritten Rang.
[3] Die Gezi-Proteste waren die größte Massendemonstration in der jüngeren türkischen Geschichte, mehrere Millionen Menschen hatten sich beteiligt. Im Istanbuler Gezi-Park fanden Menschen zueinander, die sich bis dahin voller Misstrauen gegenüberstanden: Säkulare, Islamisten, Linke, Kurden, Studenten und Arbeiter*innen stritten gemeinsam für die türkische Demokratie. Präsident Erdoğan deutete die Proteste im Nachhinein zu einem Staatsstreich um.
[4] Das Parlament hatte 2019 mit der AKP/MHP-Mehrheit per Gesetz regierungsnahe Organisationen als Konkurrenz zu den bestehenden Anwaltskammern, in denen regierungskritische Juristen den Ton angeben, zugelassen. 2020 forderte der rechtsradikale Koalitionspartner MHP das Verbot der türkischen Ärztekammer, da diese die Regierung während der Corona-Pandemie immer wieder massiv kritisiert und auch die offiziellen Zahlen infrage gestellt hat.

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