16. April 2022 Joachim Bischoff/Björn Radke/Gerd Siebecke: Ostermärsche bleiben eine Stimme der Vernunft
Friedensbewegung aus der Zeit gefallen?
Mit rund 80 Kundgebungen in ganz Deutschland verdeutlichen die diesjährigen Ostermärsche, die noch bis einschließlich Montag in der gesamten Republik stattfinden, die Ziele der Friedensbewegung: »Frieden schaffen ohne Waffen«. Im Fokus der Proteste steht der Krieg in der Ukraine.
In diesem Krieg könne es nur eine Verhandlungslösung geben. Die Proteste richten sich auch gegen Waffenexporte, Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Risiken der Atomkraft. Waffenlieferungen an die Ukraine und das geplante Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr werden abgelehnt.
Allerdings stoßen die Ostermarsch-Proteste in diesem Jahr auf heftigste ideologische Gegenwehr. Die Liste von Politiker*innen und Meinungsbildner*innen ist lang, die diese Bewegung als aus der Zeit gefallen angreifen. Eine Spitzenleistung der Aufforderung zur ideologischen Unterwerfung hat der FDP-Bundestagsabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff erbracht. Er bezeichnet diese teilweise Ursache und Wirkung verwechselnde Friedensbewegung als Wladimir Putins fünfte Kolonne.
In der Konsequenz würden die Friedensbewegten das Geschäft Moskaus aber auch dann besorgen, wenn sie den russischen Angriff zwar verurteilen, aber nicht erklären, wie angesichts der Aggression überhaupt eine gewaltfreie Verhandlungslösung zustande kommen soll. Eine Ukraine ohne militärische Unterstützung von außen hätte die russische Invasion keine drei Tage überlebt. Das Land wäre jetzt ein russischer Vasallenstaat.
Angesichts der russischen Invasion sei die Friedensbewegung regelrecht aus der Zeit gefallen, kritisiert auch der Redakteur Albrecht von Lucke: »Wir haben es, anders als noch im Kalten Krieg, mit einem brutalen Eroberungskrieg zu tun«. Von der Friedensbewegung wünscht er sich deshalb mehr Selbstkritik und eine Abkehr von einfachen Slogans. Gleichwohl sei es berechtigt, wenn die Friedensbewegung daran erinnert, dass Waffen allein keinen Frieden schaffen werden.
Der einfache Slogan »Frieden schaffen ohne Waffen« entstammt den Protestbewegungen gegen die Aufrüstung der Vertragsstaaten von NATO und Warschauer Pakt mit Atomwaffen in den 1950er-Jahren. Die damalige Neuerfindung der Friedensbewegung fand mit den Ostermärschen eine jährliche wiederkehrende Demonstrationsform.
In den 1960er-Jahren waren sie Bestandteil der internationalen Opposition gegen den Vietnamkrieg. Und mit der massiven Aufrüstung der NATO ab 1979 entwickelte sich in einigen westlichen Staaten eine breite, länderübergreifende und auf Zustimmung großer Bevölkerungsteile gestützte Friedensbewegung, die die im NATO-Doppelbeschluss angekündigte Raketenstationierung verhindern, mittelfristig andere Sicherheitskonzepte und langfristig vollständige atomare Abrüstung durchsetzen wollte.
In Deutschland mobilisierte die Friedensbewegung über vier Millionen Unterschriften unter den »Krefelder Appell«, am 10. Oktober 1982 demonstrierten rd. 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa, darunter viele Gewerkschafter*innen, obwohl der DGB und auch Einzelgewerkschaften den damaligen Kurs von Bundeskanzler Helmut Schmidt stützten und zur Nicht-Teilnahme aufgerufen hatten.
Im Umfeld des Widerstands gegen die Aufrüstung und Atombewaffnung war damals auch die Zeitschrift »Blätter für deutsche und internationale Politik« aktiv, in der Albrecht von Lucke heute die Redaktion repräsentiert. Aus den ersten Jahren stammt die Einschätzung des Theologen Karl Barth, der die Friedenbewegung »eine Insel der Vernunft in einem Meer von Unsinn« nannte – ein Zitat, auf das sich die Zeitschrift noch heute bezieht. Dass der russische Angriffskrieg die friedenspolitische Forderung nach einem Frieden durch diplomatische Verhandlungen hinfällig machen soll, ist daher umso irritierender.
Die Antwort liefert der frühere Chef der Grünen und heutige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der in der Friedensbewegung zwar keine fünfte Kolonne vermutet, aber vor einem Missbrauch der Ostermärsche warnt: »Frieden kann und wird es nur geben, wenn Putin seinen Angriffskrieg stoppt […] Es sollte also bei den Ostermärschen deutlich werden, dass sie sich gegen Putins Krieg richten […] Es ist eindeutig, wer in diesem Krieg Angreifer ist und wer sich in schwerer Not verteidigt und wen wir unterstützen müssen – auch mit Waffen.«
Pazifismus – eine der konstitutiven Gründungsmotive der grünen Partei – sei im Moment »ein ferner Traum«, behauptet Habeck. Putin bedrohe die Freiheit Europas, »Kriegsverbrechen sind offenkundig Teil seiner Kriegsführung. Wehrlose Zivilisten werden gezielt getötet, Kriegsgefangene hingerichtet, Familien ermordet, Krankenhäuser mit Raketen beschossen.« Für ihn gelte, dass »Zuschauen die größere Schuld« sei.
Es gibt allerdings noch prominente Politiker der Grünen, die sich dem ideologischen Mainstream entgegenstellen. Hans-Christian Ströbele, lange Jahre stellvertretender Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion, der damals zudem das einzige Direktmandat für seine Partei holte, unterstrich in einem Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung vom 15.4.2022: »Der Pazifismus kann wiederbelebt werden«, auch wenn viele Spitzenpolitiker*innen selbst der Grünen und der Sozialdemokraten aktuell Waffenlieferungen in die Ukraine unterstützen und sogar die Lieferung von schweren Waffen fordern. Die Erfahrungen eines langjährigen Krieges im Afghanistan und dessen fluchtartige Beendigung scheinen komplett vergessen.
Ströbele begründet dagegen, dass der Verzicht auf Waffenlieferung sich durchaus auf ein wichtiges Argument stützt und nicht einfach pazifistische inspirierte Emotion ist. »Das Risiko eines Weltkrieges ist zu groß. Man kann natürlich sagen, Putin macht sowieso, was er will. Aber man sollte ihm jeden Vorwand nehmen, die NATO, also auch Polen oder die baltischen Staaten, anzugreifen. Aus der Aufrüstung wird eine Eskalation wie in jedem Krieg, wo dann kein Halten mehr ist, bis einer am Boden liegt. Nach den Äußerungen von Putin muss man damit rechnen, dass er auch Atomwaffen einsetzt. Und dann bleibt in Mitteleuropa kein Auge trocken. Das wird schrecklich.«
Es ist ohne Zweifel richtig, dass das Grauen in der Ukraine schnell beendet werden muss. Aber ob man dafür ein noch größeres Grauen in Kauf nehmen sollte, welches durch den Einsatz schwerer Waffen entstehen würde, ist zweifelhaft. Der politisch-ideologische Druck auf die Ampel-Koalition und die Friedensbewegung ist zwar nicht überraschend, aber die Gefügigkeit von Politiker*innen, die bislang den Anhängern der Abrüstungs- und Friedenspolitik eine kritische Haltung zu gebilligt haben, stimmt traurig. Die inzwischen große Riege von Aufrüstungsbefürwortern unternimmt den hoffentlich vergeblichen Versuch, den Anhängern der Friedensbewegung neue Parolen und eine andere Ausrüstung zu empfehlen.
Aber die Ostermarschbewegung bleibt eine Stimme »der Vernunft in einem Meer von Unsinn«.