11. April 2022 Redaktion Sozialismus.de:[1] Erster Wahlgang zur Präsidentschaftswahl in Frankreich

Fünf weitere Jahre Emmanuel Macron?

Die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahl bestätigte die in demoskopischen Umfragen ablesbaren politischen Kräfteverhältnisse. Bei einer leicht auf ca. 74% gesunkenen Wahlbeteiligung zeigt sich folgende Stimmenverteilung:

Der amtierende Präsident Emmanuel Macron hat 27,09% Stimmenanteil erzielt, damit Chancen die Stichwahl am 24. April für sich zu entscheiden und gilt als Favorit. Marine le Pen hat für die radikale politischen Rechte mit 23,4% ein Spitzenergebnis erreicht. Um im zweiten Wahlgang die Nase vorne zu haben, muss die Kandidatin des Rassemblement national mehr als die Stimmen der anderen rechten Kandidaten gewinnen, die sich lediglich auf gut 12% summieren. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sie in den Block der  »front républicain« – so der Schulterschluss der demokratischen Parteien gegen die extreme Rechte – einbrechen kann.

Der Drittplatzierte, Jean-Luc Mélenchon, mit einem guten Ergebnis von ca. 22% hat die Französinnen und Franzosen bereits dazu aufgerufen, Le Pen keine Stimme zu geben, was auch der Grüne Yannick Jadot und der Kommunist Fabien Roussel bereits erklärt haben.

Der Vertreter der Linkspartei »La France insoumise« (LFI – Unbeugsames Frankreich) Mélenchon schnitt besonders stark in der Hauptstadtregion Île-de-France ab. Dort landete er mit 30,2% sogar knapp vor Macron auf dem ersten Platz. Einem Teil von Mélenchons Wähler*innen dürfte es schwerfallen, in der Stichwahl für Macron zu votieren, da der amtierende Präsident hier weder durch seine Politik noch durch sein persönliches Agieren eine positive Resonanz hat. Umfragen nach der Wahl sagten deshalb auch ein knappes Rennen voraus.

In den Präsidentschaftswahlen wurde auf eine spezifisch französische Weise die Deformation des Parteiensystems in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften sichtbar. Für die großen etablierten Parteien der Linken und der Rechten, die mit François Hollande und Nicolas Sarkozy noch vor wenigen Jahren die Politik der Republik geprägt hatten, war die Wahl ein historisches Debakel.

Beide versanken praktisch in der Bedeutungslosigkeit: Valérie Pécresse, die Kandidatin der konservativen Les Républicains, landete mit 4,8% an fünfter Stelle. Die Sozialistin Anne Hidalgo schaffte es mit 1,7% gerade einmal auf den zehnten Platz. Die Bewegung »La République en Marche« (LREM) des Präsidenten macht als organisatorische Form ebenfalls keinen überzeugenden Eindruck und auch die Formation LFI lebt von der Ausstrahlung ihres Kandidaten.

Viel wird nun von der Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang abhängen. In der ersten Runde lag sie mit 74% so tief wie seit 2002 nicht mehr. Eine kurz vor dem Wahlsonntag veröffentlichte Studie der Denkfabrik Fondapol kam zu dem demokratiepolitisch trostlosen Resultat: Vier Fünftel der französischen Wähler*innen haben kein Vertrauen mehr in die politischen Parteien und rund 40% fühlen sich keiner Strömung mehr verbunden, die Bereitschaft zur Wahlabstinenz ist hoch. Außerdem wurde festgestellt, dass die Bereitschaft zur Wahl eines Kandidaten des extrem rechten oder extrem linken Lagers bei 46% liegt, was wiederum die hohen Stimmanteile für Marine le Pen und Mélenchon erklärt.

Sicher war auch der minimalistische Wahlkampf von Macron ein Faktor für den Wahlausgang. Auf seinem einzigen großen Wahlkampfauftritt in Paris erklärte er, es sei ein Kampf zwischen Fortschritt und Abschottung, zwischen Patriotismus und Europa auf der einen Seite und den Nationalisten auf der anderen. Sein bequemer Vorsprung auf Marine Le Pen war laut Umfragen deutlich geschrumpft, auch wegen mangelnder Präsenz.

Marine Le Pens Sammlungsbewegung Rassemblement National (RN) ist der stärkste Gegner zur politischen Bewegung von Präsident Macron. Das RN beschreibt sich selbst als »patriotisch« und »national« im Sinne von »französischer Identität, Tradition und Souveränität«. Ein zentrales Konzept ist die préférence nationale, die nationalistisch organisierte Bevorzugung der Franzosen, gemäß dem Motto Les Français d’abord (Franzosen zuerst). Ihre Führungsfigur hat sich relativ erfolgreich darum bemüht, in den Medien eine Öffnung der Partei hin zu Demokratie und Laizismus und eine Abkehr von Rassismus und Antisemitismus darzustellen. Das hat zugleich dazu geführt, dass die politische Rechte in Frankreich mit weiteren Kandidaten im Präsidentschaftsrennen vertreten war.

Marine Le Pen kandidiert zum dritten Mal für das höchste Amt in Frankreich. Sie hat über Jahre hinweg die Verschiebung des politischen Diskurses in Richtung Mitte betrieben. Zwar sieht sie die Immigration – und insbesondere jene aus muslimischen Ländern – noch immer als Hauptursache für die Probleme im Land, vor allem für die verbreitete Gewalt. Im aktuellen Wahlkampf standen die Probleme des Kaufkraftverlustes und die steigenden Lebenshaltungskosten der Franzosen im Zentrum.

Das politische Angebot des RN lautete: großzügigere Kompensationen vom Staat. Der EU-Austritt ist kein zentrales Thema mehr, allerdings soll dank einer Allianz von rechtsnationalen Parteien Europa »von innen« umgebaut werden. Für Le Pens Ziel einer Verschiebung des politischen Koordinatenkreuzes des RN, um auch für Schichten in der Mitte wählbar zu werden, spielte ihr der extrem rechte Politiker Éric Zemmour in die Karten, der sie zunächst in Umfragen überrundete. Dieser verstörte dann mit zunehmend radikalem Gebaren Wähler*innen, Le Pen wurde so gleichsam zur wählbaren rechten Alternative des Extremisten.

Und während dieser weiter über Migration redete, schwenkte Le Pen in der Krise instinktiv auf das drängende Thema Kaufkraft um. Der Wahlkampf, bis dahin leidenschaftslos geführt und von vielen Französ*innen kaum beachtet, fokussierte auf die Fragen, wie der Benzinpreis etwas gesenkt werden kann, die Kosten für Strom und Gas reguliert werden und die Bevölkerung nach immer teurer werdenden Einkäufen überhaupt noch Geld im Portemonnaie behält. Bereits getroffenen Maßnahmen der Regierung Macron setzte Le Pen simple Forderungen nach Steuersenkungen auf Energie und Preiserleichterungen für Grundprodukte im Bereich Ernährung und Hygiene entgegen.

Der einzig weitere Bewerber, der in dieser Krisenlage mit sozialpolitischen Forderungen in den Umfragen nach oben zog, war der Linkspolitiker Mélenchon. Der heute 70-Jährige war als Student Trotzkist, später trat er in die Sozialistische Partei (PS) ein, er wurde ein glühender Anhänger des damaligen Präsidenten François Mitterrand. Mélenchons politische Biografie spiegelt die endlosen Strömungs- und Flügelkämpfe, die die französische Linke seit Jahrzehnten durchziehen. Die Hälfte der 12 KandidatInnen zur französischen Präsidentschaft rechnet sich zur politischen Linken.

Mélenchon kandidierte keineswegs als integraler Vertreter der zersplitterten Linken. Auch bei den nachfolgenden Wahlen zur Nationalversammlung wird diese Strömungsvielfalt erhalten bleiben. Trotz unübersehbarer Herausforderung durch eine mehr oder minder aggressive politische Rechte finden die vielen linken Strömungen keinen Ausweg aus dem Zustand der politischen Pulverisierung.

Bereits 2017 scheiterte Mélenchon nur knapp daran, in die Stichwahl einzuziehen, er erreichte 19,6% der Stimmen. Damals wie heute setzte er auf einen kreativen, stark auf seine Person zugeschnittenen Wahlkampf. Er sieht sich als Antikapitalist, der freie Markt bringe nur »Chaos« und müsse durch eine Art ökologische Planwirtschaft ersetzt werden. Zu seinen Wahlversprechen gehören unter anderem die Einführung einer zusätzlichen Ferienwoche, die Rente ab 60 Jahren, der 100%ige Umstieg auf erneuerbare Energien und eine deutlich höhere Besteuerung der Besserverdienenden. Außerdem versprach er als einziger Kandidat das Ende des Präsidialsystems und die Schaffung einer Sechsten Republik.

Für den Fall eines Wahlsieges hatte Mélenchon als Präsident ein Sofortprogramm in Aussicht gestellt, mit dem die Benzinpreise wieder auf im Schnitt 1,40 Euro pro Liter zu Lasten der Mineralölkonzerne gesenkt werden sollten – den Stand vor den spekulativen Erhöhungen der vergangenen Wochen. Dies sollte gehen, ohne dass dafür öffentliches Steuergeld eingesetzt wird. Die ersten Kubikmeter Gas für Privatkunden sollten kostenlos verfügbar sein, je nach Verbrauch würde der Energieträger dann exponentiell teurer.

Preise für Grundnahrungsmittel wollte Mélenchon ebenfalls blockieren. Dies ist nach französischem Handelsgesetz per Dekret möglich, sofern ein Notstand vorliegt. Bei acht Millionen Menschen, die jetzt schon auf Lebensmittelspenden angewiesen sind, kann eine Ausnahmesituation schneller eintreten als gedacht. Der Preisstopp sollte zu Lasten der Profitmargen des Großhandels gehen und nicht die bäuerlichen Produzenten betreffen.

Eine Entscheidung, die in Frankreich stets der Präsident zu treffen hat, ist die Festsetzung des Mindestlohns, den Mélenchon auf 1.400 Euro erhöhen wollte. In seinem Programm ist von einer Ausgleichskasse die Rede, in die alle Unternehmen einen Pflichtbeitrag einzahlen, um bei Bedarf die Belastungen steigender Löhne in kleinen und mittleren Betrieben aufzufangen. Die Mindestrente sollte dem Mindestlohn angeglichen werden und dürfte auch bei geringer Beitragszahlung nicht unter die Armutsgrenze von 1.063 Euro fallen. Erbschaften sollten auf den Wert von maximal zwölf Millionen Euro begrenzt werden, die Erbschaftssteuern Studierenden und Auszubildenden in Form eines Autonomie-Stipendiums von 1.063 Euro zugutekommen, so das LFI-Programm, das insgesamt an die 550 Maßnahmen vorsieht.


Stichwahl am 24. April

Aber Mélenchon hat es nicht in die Stichwahl geschafft. Die Entscheidung fällt am 24. April zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen. Letztere würde nicht gewinnen, weil die Mehrheit der Franzosen von ihrem Programm überzeugt wäre. Sie hat eine Chance, weil Frankreichs politisches System zunehmend morsch und marode ist, und nicht, weil Macron alles falsch gemacht hätte.

Macron ist kein komplett gescheiterter Präsident, die Arbeitslosenzahlen sind zurückgegangen, die Wirtschaft hat sich von Pandemie und Lockdown durch massive staatliche Hilfe vergleichsweise gut erholt. Für einen amtierenden Präsidenten hat Macron solide bis sehr gute Zustimmungswerte. Frankreich geht es also nicht schlechter als 2017, und von außen betrachtet müsste man daher nicht damit rechnen, dass eine radikale Schwarzseherin wie Le Pen dieses Mal mehr Erfolg haben könnte als vor fünf Jahren. Zumal sie durch ihre ideologische Nähe zu Wladimir Putin und durch ihr Nein zu Sanktionen gegen Russland außenpolitischer gefährlich und fehlgeleitet wirkt. Auch Frankreich erlebt eine Welle der Solidarität mit der Ukraine.

Doch unter der stabilen Oberfläche gären Unruhe und Unzufriedenheit. Es gibt in Frankreich Regionen und Städte, in denen Armut und Perspektivlosigkeit herrschen, in denen die Menschen sich vom Staat vergessen fühlen. Dort haben sich die Menschen von Wahl zu Wahl immer weiter von der Idee entfernt, dass Politiker etwas ändern können. Wenn sie wählen, dann wählen sie Marine Le Pen, weil diese immerhin weniger arrogant wirkt als die gewohnten, glatten Hauptstadtpolitiker. Und wenige Leute stehen in Frankreich so klar für die Verachtung der Armen wie der Überflieger Macron.

Anmerkung

[1] Normalerweise zeichnet unser Redakteur Bernhard Sander für die Analysen unseres Nachbarlandes Frankreich verantwortlich. Da Bernhard sich z.Z. von einem medizinischen Eingriff erholt, hat die Redaktion die Verantwortung für die Berichterstattung zu den Präsidentschaftswahlen übernommen. Dieser erste Teil auf Sozialismus.deAktuell wird ergänzt durch eine Analyse der Stichwahl, die in Heft 5-2022 der gedruckten Ausgabe erscheinen wird.

Zurück