25. April 2018 Luciana Castellina: Nach der Wahlniederlage in Italien

Für den Neuaufbau einer Linken, die auf der Höhe unserer Zeit ist

Dass die Wahlen in Italien am 4. März für die Linke nicht gut ausgehen würden, hatten wir alle erwartet.[1] Dass sie aber einen so heftigen Schlag versetzt bekommt, hatten wir uns nicht vorstellen können.

Auch nicht die Aktivist*innen, die wie ich während des Wahlkampfs ganz Italien bereist hatten und dabei schon vor Ort festgestellt hatten, dass dies der bisher schwierigste Wahlkampf war. Denn dieses Mal ist es uns fast überhaupt nicht gelungen, mit den Passanten ins Gespräch zu kommen. Uns fehlten einfach die richtigen Worte. Und es war für uns sogar eine große Herausforderung, selbst diejenigen zu überzeugen, die keine Berührungsängste vor den Linken haben oder die schon immer auf unserer Seite waren. Doch das Ausmaß dieser Niederlage haben wir nicht für möglich gehalten.

Die Krise der Demokratie

Ich hebe das hervor, weil das desaströse Wahlergebnis nur als Resultat einer allgemeinen Desorientierung zu erklären ist, und zwar in allen Referenzpunkten, die traditionell den politischen Rahmen unseres Landes geprägt haben, bis hin zu einer Konfusion aller Meinungen, Orientierungen und Werte. Das zeigt, dass das, was wir erleben, nicht nur eine Krise der Linken ist, sondern ganz allgemein eine Krise der Demokratie. Wenn wir zu diesem Ergebnis gekommen sind, dann auch deshalb, weil es das politisch-soziale Gefüge nicht mehr gibt, das einst den großen Massenparteien den Raum für Konfrontationen und damit für die Analyse der Gegenwart und für die kollektive Konstruktion eines Projekts bot. Wenn das alles nicht mehr vorhanden ist, dann lässt sich eine Demokratie mit Parlamentswahlen nicht mehr am Leben halten. Wenn all das fehlt, dann erweisen sich Wahlen nur noch als eine Agora, die von individuellen Schreien der Unzufriedenheit oder von improvisiertem Applaus widerhallt.

In dieser Situation haben sich Millionen ehemaliger Wähler*innen der Linken täuschen lassen. Sie glaubten, dass eine Erneuerung erreicht werden könnte mit der Stimmabgabe für den Movimento Cinque Stelle (M5S) und mit der Wahl einer Fülle unbekannter Abgeordneter, deren Fähigkeiten und moralische Integrität niemand hatte überprüfen können. Denn was von ihnen allein bekannt war, stand nur in ihren jeweiligen Lebensläufen, die auf der Website jener geheimnisvollen Vereinigung publik gemacht worden sind, deren wahrer Anführer der im Hintergrund wirkende Medienmäzen Casaleggio bis zu seinem Tod vor zwei Jahren war. Schon in den ersten Tagen der neuen Legislaturperiode zeigte sich die Unzuverlässigkeit der programmatischen Leitsätze des M5S.

Ich spreche nicht von einer Krise der Demokratie, um dem Problem der Krise der Linken auszuweichen, die in Italien ernster ist als anderswo, oder um eine unverzichtbare Selbstkritik zu vermeiden. Ich sage das, um die Tatsache hervorzuheben, dass wir eine weitaus schwierigere Aufgabe vor uns haben, und zwar nicht nur in Italien.

Die Demokratische Partei und die Alternativen

Hier in Italien stehen wir vor dem Scherbenhaufen der Fehleinschätzungen, für die der Partito Democratico (PD) steht – eine Partei, die als linker Flügel des Parteienspektrums gilt und von den Medien immer noch als solche definiert wird. Seit Jahren hat sie jedoch Entscheidungen getroffen, die zu Auseinandersetzungen mit denjenigen geführt haben, die sie in der Vergangenheit repräsentierte: den Ärmsten.

Das trifft für Renzis Arbeitsmarktreform zu, vor allem den »Jobs Act«, der den weitreichenden Kündigungsschutz, für den so lange und mühsam hatte gekämpft werden müssen, beseitigte; das trifft für die Reform des Rentensystems zu, für die anhaltende Unterordnung der Schulen unter die Bedürfnisse der Unternehmen und das trifft für das Steuersystem zu, dessen Progression immer weiter zurückgefahren worden ist. Die daraus resultierende Frontalkollision mit dem Allgemeinen Gewerkschaftsbund CGIL ist beispiellos.

Mit der Law-and-Order-Politik seitens des Innenministeriums hoffte die PD-geführte Regierung auf bequeme Stimmengewinne, schürte am Ende aber nur Angst und Egoismus und begünstigte den Rechtsruck der Wählerschaft. Tatsächlich war es dann die Lega, ehemals als Lega Nord firmierend, die als eine offen rassistische Formation von zahlreichen Stimmen profitierte, die im Norden einst nach links gingen.

Wir müssen uns fragen, warum die Unzufriedenheit mit all dem, was die PD-geführte Regierung getan hat, nicht zur Stärkung einer Linken geführt hat, die sogar – wie bei der Listenformation Liberi e uguali (LeU; Frei und Gleich) – etwas wesentlich Neues signalisiert hat: die Absage an die PD seitens eines substanziellen und erfahrenen Teils ihrer Parteiführung, weil fast alle, die ehemals aus der italienischen Kommunistischen Partei (PCI) dazugekommen waren, gegangen sind. Es stimmt, dass die Parteiführung einige der äußerst negativen Entscheidungen der PD-Regierung der jüngsten Vergangenheit unterstützt hatte. Aber am wichtigsten war dann doch, dass der Partito Democratico trotz der entschiedenen Fahnenflucht und trotz der Annahme eines Programms, das die gröbsten Fehler der Renzi-Regierung abwenden sollte, sich als »historische« Partei der Linken vollkommen delegitimiert hatte.

Links des PD hatte Sinistra Italiana (Italienische Linke) die Auffassung vertreten, dass diese Delegitimierung – auch wenn deren Ausmaß nicht genau zu bestimmen gewesen sei – der alleinige Grund dafür war, dass die bisherige Massenbasis so erschüttert worden ist. Dann wenn es auch nicht mehr der alte Partito Comunista (PCI) war, so hatte sich doch die Massenbasis des PD im und mit dem PCI entwickelt und ist immer noch von dessen Kultur und Tradition geprägt.

Wir hatten uns aber geirrt. Es war schon zu spät. Diese Massenbasis, obwohl sie durch viele Schein-Reinkarnationen (PDS, DS, PD) gegangen war und jenem Ideal treu geblieben war, was viele weiterhin als »die Partei« bezeichneten, war inzwischen müde geworden. Sie wollte jetzt nicht einmal mehr die Reden der Linken hören, gleich welcher Fraktion auch immer. Sie suchte Zuflucht in einer Protestwahl, gerichtet gegen alle »Systemparteien«, die in den vielen Jahren zuvor die politische Szene – Regierung und Opposition – beherrschten.

Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass es trotz all ihrer Schwächen keine Alternative zur Formation von Liberi e uguali gab.[2] Das zeigte auch der Versuch von Rifondazione Comunista, sich von einer hypothetischen, aber möglichen Einheitsfront zu distanzieren und sich mit einer Reihe von Sozialzentren zu verbünden, um die Liste Potere al popolo (Macht für das Volk) aufzustellen. Dass dies keine Alternative zur LeU war, wurde durch die Wahl bestätigt: Die Liste Potere al popolo erreichte gerade einmal die Hälfte des geringen Stimmenanteils, mit dem bei der Wahl 2013 schon die Liste Rivoluzione civile (Bürgerliche Revolution) mit dem Richter Ingroia an der Spitze schon kläglich gescheitert war.

Wir sollten endlich gelernt haben, dass die Multiplikation von Parteikürzeln auf der linken Seite nicht dazu dient, Unterschiede in der Politik zu klären, sondern nur die Wähler*innen irritiert. Hoffen wir, dass wir diese Erfahrung bei den Europawahlen im nächsten Jahr nicht zum x-ten Mal wiederholen. Sie werden sich noch schwieriger gestalten, weil das Land in seinen Einstellungen gegenüber der Europäischen Union noch schärfer gespalten ist.

Nun fangen wir von vorne an – mit Optimismus

Wir müssen jetzt wieder bei null anfangen und darüber nachdenken, was wir gemeinsam tun sollten. Einfach ist das nicht. Denn die Linke war stark, wenn sie in der Lage war, bestimmte soziale Interessen zu vertreten und ihnen die Fähigkeit zu geben, Konflikte zu erzeugen und ein Projekt zu kommunizieren. Um diese Fähigkeit zur sozialen Repräsentation – die die Voraussetzung für jeden linken Wiederaufbau ist – wiederherzustellen, müssen wir uns bewusst sein, dass die entstandene Zergliederung der gesellschaftlichen Arbeit und der Belegschaften viel gravierender ist als die soziale Ungleichheit. Noch ein Protest oder noch eine Denunziation der Verhältnisse oder auch die müde Wiederholung alter keynesianischer Rezepte: all das sind keine angemessenen Antworten.

Auch die immer wieder beschworene Ermahnung, »unsere Beziehung zu den Quartieren wiederherzustellen«, reicht nicht aus. Wir müssen uns darüber klar werden, welches Angebot wir den Menschen in den Quartieren machen wollen. Sollen wir im bestehenden Konsens verharren? Oder sollen wir die aktive Subjektivität rekonstruieren, die notwendig ist, um die kollektive Handlungsfähigkeit der zersplitterten Arbeitnehmerschaft wiederherzustellen und um ihr – angesichts der endlosen Subunternehmer-Ketten, auf die die Unternehmen Zugriff haben – eine »logistische« Machtperspektive zu eröffnen, die nur aus einer zurückgewonnenen gemeinsamen Identität entstehen kann.

Um neu anzufangen, bedarf es einer Partei, die in der Lage ist, ein Projekt zu entwerfen, mit dem sie die Fähigkeit für jene Vermittlung erlangt, die notwendig ist, um Menschen zu vereinen, die sozial und kulturell so vielfältig differenziert sind. Oder ist das jetzt eine veraltete Form, die nicht mehr akzeptabel ist? Und wenn nicht, muss die Partei dann eine politische Formation neuen Typs sein? Oder können wir auf dem aufbauen, was wir mit der LeU auf die Beine gestellt haben? Das sind die Probleme, vor denen wir stehen, und wir werden Zeit brauchen, um die vielen verwickelten Knoten zu lösen. Kurzfristig wissen wir – zumindest wir von der Sinistra Italiana –, dass die linke Mitte nicht wieder rekonstruiert werden kann und dass der PD, auch ohne Renzi, jetzt einen anderen sozialen Block repräsentiert.

Wir wissen auch, dass die Linke heute zu schwach ist, um der jetzigen Regierungsbildung eine Alternative entgegenzusetzen. Uns bleibt nur, wenn überhaupt, dass wir einzelne Vorschläge des M5S billigen für den unwahrscheinlichen Fall, dass der M5S eine Minderheitsregierung bilden kann. Aber wir können ihn auf keinen Fall in einer Vertrauensabstimmung unterstützen, unter anderem auch deswegen nicht, weil er sich bereits als eine perfekte Partei der Mitte entpuppt hat mit der spezifischen Kombination von regressiver Steuerpolitik und austeritärer Finanzpolitik. Das ist fast schon so, als ob die alte Partei der Christdemokraten wieder zurück auf der Bühne wäre.
Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, dass wir – wie auch die europäisch orientierte Linke in anderen Ländern – lange Zeit beschäftigt sein werden mit dem Wiederaufbau einer Linken, die auf der Höhe unserer Zeit ist.

Aber all dies muss mit Optimismus geschehen, der sich aus dem Wissen speist, dass die Menschen nicht weiter so in diesen miserablen Bedingungen leben können und dass sie deshalb an einem bestimmten Punkt aufbegehren werden. Aber auch wir, die Linke, müssen agieren, ganz so wie die, die bereits gegen ihre Lebensbedingungen aufbegehren, und zwar mit einer außerordentlichen Kraft: Die Frauenbewegung ist die einzige Bewegung, die wächst und Erfolge erringt. Sie zeigt eine große Fähigkeit zur Mobilisierung. In den Wahlanalysen und den Analysen zur allgemeinen aktuellen Situation wird sie nie erwähnt. Und doch ist ihr neuartiges, massenwirksames aktives Voranschreiten ein außergewöhnlich starkes Element der Erneuerung und eine unschätzbare Ressource – wenn denn die Linke lernt, sie aufzugreifen.


Luciana Castellina ist Kolumnistin der italienischen Tageszeitung »Il Manifesto«, die sie 1969 mitbegründete, und war von 1979 bis 1999 im Europaparlament Abgeordnete der italienischen »linken« Linken, wobei sie allein während dieser zwanzig Jahre entsprechend den Fraktionierungen und Umgruppierungen der politischen Linken in Italien sieben Wechsel des Parteinamens erlebte.

Zu den Parlamentswahlen am 4. März hat sich Luciana Castellina in verschiedenen italienischen Publikationen geäußert (Il Manifesto vom 9.3.2018; L’Espresso vom 23.3.2018). Die zentralen Punkte hat sie in einem Beitrag für das europäische Netzwerk transform!europe zusammengefasst, der dort unter dem Titel »Rebuilding the Left That We Need for Our Time« am 5. April 2018 erschienen ist. Die Übertragung nach dieser englischen Fassung besorgte Hinrich Kuhls.


[1] Zur ausführlichen Analyse des Wahlergebnisses der italienischen Parlamentswahlen vom 4. März 2018 siehe die Beiträge von Klaus Busch: Wahlen in Italien – Menetekel für die Europäische Union, SozialismusAktuell, 7.3.2018, sowie unter demselben Titel in Sozialismus 4/2018, S. 7-11. Zur aktuellen Fraktionierung der italienischen Linken vgl. Heinz Bierbaum, Wahlen in Italien – die Linke ist marginalisiert, in Sozialismus 2/2018, S. 33-34. (Anm. d. Red.)
[2] Nachdem im Sommer 2017 eine Zusammenführung der linken Kräfte einschließlich der Parteien Sinistra Italiana und Rifondazione Comunista gescheitert war, traten bei den Wahlen zwei neue politische Formationen aufseiten der Linken an. Zum einen hatten sich Sinistra Italiana und die kleineren Formationen Possibile von Pippo Civati und Mdp zu einer Liste mit dem Namen Liberi e uguali zusammengeschlossen. Die andere Listenformation war Potere al popolo, deren Ausgangspunkt die Initiative eines Sozialzentrums in Neapel war. Dieser Initiative hatte sich dann rasch Rifondazione Comunista angeschlossen. Potere al popolo verstand sich als die einzig wahre linke Liste mit einem entschieden antineoliberalen Programm – als Alternative nicht nur zu dem von Renzi geführten PD, sondern auch zu Liberi e uguali. (Anm. d. Red.)

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