27. Oktober 2018 Otto König/Richard Detje: IG Metall-Kampagne »Gute Arbeit für alle«
Geschäftsmodell Leiharbeit boomt
Der Arbeitsmarkt brummt, die Zahl der Beschäftigten erreicht Rekordhöhen, gleichzeitig wächst die atypische Beschäftigung. Die Unternehmen setzen auf das Geschäftsmodell Leiharbeit und Fremdvergabe an industrienahe Dienstleister (InDl). Die Beschäftigten sind im Vergleich zum Stammpersonal günstig zu haben, haben kaum Rechte und können schnell gefeuert werden. Die Spaltung der Belegschaften wird vorangetrieben.
Die Zahl der Leiharbeiter*innen in Deutschland ist im Zeitraum von 2007 bis 2017 um 43% gestiegen. Das geht aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. 2017 hat sie mit jahresdurchschnittlich 1,03 Millionen einen neuen Höchststand erreicht.
Quelle: Bundesagentur für Arbeit und DGB
Leiharbeiter*innen werden insbesondere als Lagerarbeiter oder für ähnliche Aufgaben im Bereich der Logistik eingesetzt: 253.000 Beschäftigte, also knapp jeder vierte Zeitarbeiter, war Ende 2017 in diesen Bereich entsandt. Im Vergleich zum Vorjahr ist dies ein Anstieg um mehr als 15.000 oder 6%. Noch stärkere prozentuale Zuwächse waren im Maschinenbau zu verzeichnen mit einem Plus von 13,2% auf 86.000, im Gesundheits- und Sozialwesen (plus 12,9% auf 69.000) sowie im Sicherheits- und Bewachungsgewerbe (plus 19% auf 5.500).
In der Metall- und Elektrobranche ist jeder Bereich davon betroffen. Dies gilt insbesondere für den produktionsnahen Kern, in hohem Maße für die internen Dienstleistungen wie Reinigung, Haustechnik und Werkschutz, aber auch für Personalwesen sowie Forschung und Entwicklung.
Auch die strengeren gesetzlichen Regeln, die letztes Jahr im April in Kraft getreten sind (AÜG), haben daran bislang wenig geändert. Zwar gelten seitdem feste Fristen, laut denen Leiharbeiter*innen nach neun Monaten den gleichen Lohn wie Stammbeschäftigte erhalten und höchstens 18 Monate im gleichen Betrieb eingesetzt werden dürfen. Allerdings bezieht sich die Höchstüberlassungsdauer auf die konkrete Person des Leiharbeiters und ist nicht arbeitsplatzbezogen. So können Arbeitgeber tricksen und die Regelungen des AÜG umgehen, indem sie einzelne Personen gegen einen anderen Leihbeschäftigten austauschen oder dieselben nach drei Monaten Karenzzeit erneut einsetzen – mit dem Ergebnis, dass Rotations- und Drehtüreffekte entstehen.
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) beträgt die durchschnittliche Beschäftigungsdauer in der Leiharbeitsbranche gerade einmal zehn Monate. Nur ein kleiner Teil der Leiharbeiter*innen wird vom Entleihbetrieb übernommen. Tatsächlich hält das von der Leiharbeitsbranche und der Politik immer wieder verwendete Narrativ »Brückenfunktion der Leiharbeit in reguläre Beschäftigung« einer Überprüfung nicht stand. So hatten rund 40% der Betroffenen, die im zweiten Halbjahr 2017 ein Beschäftigungsverhältnis in Leiharbeit beendeten, 90 Tage danach noch keinen neuen Job. Rund 60% fanden zwar in diesem Zeitraum eine neue Beschäftigung, doch etwa 40% von ihnen ein weiteres Mal in Leiharbeit.
Rund 80% der Betriebe in der Metall- und Elektroindustrie, der Holz und Kunststoff verarbeitenden Industrie sowie der Textilindustrie setzen Leiharbeit ein oder haben Industrienahe Dienstleistungen (InDl) über Werkverträge fremdvergeben. Das zeigt eine Befragung[1] von 3.584 Betriebsrät*innen und Vertrauenskörperleitungen im Organisationsbereich der IG Metall. In 72,7% der kleineren Betriebe bis 300 Beschäftigte werden Tätigkeiten und Arbeitsbereiche über Leiharbeit oder über Fremdvergabe outgesourct. Bei den mittelgroßen Betrieben mit 301 bis 1.000 Beschäftigten sind es rund 90%, bei Betrieben mit über 1.000 Beschäftigten über 93,2%.
Die befragten Betriebsräte erwarten in 35,4% der Betriebe in den nächsten zwei Jahren weitere Fremdvergaben von industrienahen Dienstleistungen. Das sind mehr als bei der Befragung 2015, bei der 22,6% weitere Fremdvergaben erwarteten. Über ein Viertel sagt zudem, dass ihr Arbeitgeber auch Stammarbeitsplätze durch Leiharbeit und Fremdvergabe ersetzt. »Die Befragung zeigt, dass Leiharbeit und Fremdvergabe immer stärker zum billigeren Ersatz für reguläre Arbeitsplätze genutzt wird«, kritisiert der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann. Dies gehe weit über die Abdeckung von Auftragsspitzen oder andere vorübergehende Personalengpässe hinaus.
In Zeiten eines strenger regulierten Arbeitsmarkts waren Unternehmen gezwungen, eine vorausschauende Personalpolitik zu betreiben und beim Personalbestand Puffer einzubauen, um Nachfrage- und Einsatzschwankungen ausgleichen zu können. Das Vorhalten von Produktivitätsreserven war solange unproblematisch, wie es überall zu grundsätzlich gleichen Konkurrenzbedingungen erfolgte. Relativ stabile Stammbelegschaften und langfristig verlässliche Beschäftigungsverhältnisse waren dafür eher vorteilhaft als hinderlich. Mit der massiv ausgedehnten Flexibilitätsoption Leiharbeit ist es nun möglich, das Stammpersonal zu reduzieren, da bei Produktionsschwankungen auf Randbelegschaften zurückgegriffen werden kann, die man schnell bekommt und schnell wieder los wird. Die anstehende Transformation in Richtung Industrie 4.0 wird diese Entwicklung noch verstärken, allein schon bedingt durch die Zergliederungs- und Restrukturierungsprozesse in den Unternehmen.
Angesichts der konjunkturell bedingt steigenden Erwerbstätigkeit und dem damit verbundenen, vom demographischen Wandel gestützten Rückgang der Arbeitslosigkeit, sind die Chancen auf eine Arbeitsaufnahme jenseits der Leiharbeit gestiegen. Doch nach wie vor agiert die Bundes-agentur für Arbeit als verlässlicher Personal-Zulieferer für die Leiharbeitsbranche. Der Verdacht liegt nahe, dass Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II-Leistungen (Hartz IV) regelrecht in die Leiharbeit gedrängt werden. Laut einem Forschungsbericht[2] des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vom Februar dieses Jahres entfielen 2013 gut 20% aller Arbeitsaufnahmen von Hartz-IV-Empfängern auf Jobs in der Arbeitnehmerüberlassung. Im Vergleich zu allen neu aufgenommenen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungs-verhältnissen hätten Leistungsbezieher*innen doppelt so häufig eine Tätigkeit in der Arbeitnehmerüberlassung und dem Bereich der Sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen aufgenommen.
In der jüngeren Vergangenheit habe sich die Leiharbeit sogar als starker »Integrationsmotor für Flüchtlinge und Migranten« erwiesen, jubelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung.[3] So sei das jüngste Wachstum der Leiharbeits-Branche auf zusätzliche Leiharbeiter ausländischer Herkunft zurückzuführen: Während sich die Zahl deutscher Leiharbeiter*innen im Jahresvergleich um 6500 auf 725.000 verringert hat, ist die Zahl der Leiharbeiter mit ausländischem Pass um 47.500 auf 307.000 angestiegen. Mit Hilfe von Leiharbeitsfirmen würden Flüchtlinge vermehrt in Arbeit finden. Nach Angaben der Bundesagentur sind von den insgesamt 69.000 Arbeitslosen aus Syrien, Irak, Afghanistan und fünf weiteren Ländern, die zwischen Mai 2017 und April 2018 eine sozialversicherungspflichtige Stelle fanden, mehr als jeder Dritte als Zeitarbeiter untergekommen.
Jenseits aller sogenannten Erfolgsmeldung lassen sich die Folgen dieser Entwicklung in der neuen, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie »Existiert ein verfestigtes ›Prekariat‹?«[4] nachlesen: In der Erwerbsbevölkerung leben gut zwölf Prozent oder gut vier Millionen Menschen dauerhaft in prekären Verhältnissen. Das heißt: Job ohne Perspektive, zu wenig Einkommen, mangelhafte soziale Absicherung, und das über mehrere Jahre. Die Autoren sprechen von einem »mehrfachen Strukturwandel der Erwerbsarbeit« in den vergangenen Jahrzehnten, der durch drei Elemente gekennzeichnet sei: den Rückgang von Normalarbeitsverhältnissen zugunsten von Teilzeit- und Leiharbeit, den umfassenden Abbau erwerbsbezogener sozialer Sicherungssysteme und einen starken Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen.
Mit dem Wandel der Erwerbsgesellschaft geraten mehr und mehr Erwerbstätige in eine Zone zwischen Inklusion durch Normalarbeitsverhältnisse mit Sozialversicherungsansprüchen und Exklusion in verfestigter Arbeitslosigkeit und Armut. Denn wer zu wenig verdient, der braucht oft staatliche Unterstützung. Wie die Süddeutsche Zeitung jüngst berichtete, lag der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die ergänzende Hartz-IV-Leistungen beziehen, im Juni 2017 in der Leiharbeit bei 5%. Über alle Branchen hinweg hatten dagegen nur 2% der Beschäftigten Arbeitslosengeld II bezogen. Der überwiegende Teil der Leiharbeiter*innen (71%), die ergänzende Leistungen aus der Grundsicherung bezogen hat, war in Vollzeit beschäftigt.
Die Verlierer sind die Beschäftigten, was durch die Ergebnisse der IG Metall-Befragung bestätigt wird: Drei von vier Befragten gaben an, dass die Arbeits- und Entgeltbedingungen bei industrienahen Dienstleistern schlechter sind als bei den eigenen Beschäftigten. Die Industrienahen Dienstleister haben zudem seltener Tarifverträge und Betriebsräte. Die Arbeitsverhältnisse der Betroffenen sind oft von Unsicherheit und mangelndem Respekt für die Arbeitsleistung geprägt. Besonders große Differenzen im Vergleich zu regulär Beschäftigten zeigen sich bei den Aspekten »Möglichkeit, Fähigkeiten anzuwenden« und »Art und Inhalt der Tätigkeit«. Das deutet darauf hin, dass Beschäftigte von Verleihfirmen sehr oft für simple, eng vorgeschriebene und eher repetitive Arbeitsaufgaben eingesetzt werden, für die sie oft eigentlich überqualifiziert sind.
Dennoch: Die IG Metall hat in den vergangenen Jahren mit ihren Kampagnen »Gleiche Arbeit – gleiches Geld« einiges erreicht. Branchentarifverträge und Betriebsvereinbarungen sichern Leiharbeiter*innen mehr Geld, bessere Arbeitsbedingungen und Chancen auf Übernahme – bzw. sie begrenzen Leiharbeit im Betrieb. Laut Befragung haben jedoch nur 12,6% der Betriebe eine Regelung zur Fremdvergabe von Arbeit im Vergleich zur Befragung 2015 (5,4%) hat sich der Anteil allerdings mehr als verdoppelt. Ein Ziel der IG Metall ist es, weitere Regelungen in den Betrieben durchzusetzen
Doch trotz dieser Teilerfolge besteht das Hindernis, dass es keine ausreichende Mitbestimmung für Betriebsräte bei der Fremdvergabe gibt, um Missbrauch zu vermeiden.
Bei der neugestarteten Kampagne »Gute Arbeit für alle« nimmt die IG Metall deshalb insbesondere die Werk- und Dienstverträge, die weiter an Bedeutung gewinnen und bei denen die Gewerkschaft bzw. die Betriebsräte bislang außen vor sind, in den Fokus. Diese Gewerkschaftsstrategie wird voraussichtlich auf den erbitterten Widerstand der Arbeitgeber stoßen, denn die »Freiheitsgrade« bei der Vergabe von Werk- und Dienstverträgen sichern aus Sicht der Arbeitgeber die für sie nützliche und erforderliche Asymmetrie gegenüber den Betriebsräten und deren Gewerkschaft.
[1] Die IG Metall hat zwischen dem 18. Juni und 6. Juli 2018 eine Befragung zu Leiharbeit und Industrienahen Dienstleistungen (InDl)/Werkverträgen in den Betrieben durchgeführt. Per Email und per Post wurden Betriebsratsvorsitzende und Vertrauenskörperleitungen von 9323 Betrieben zur Online-Befragung eingeladen. Insgesamt haben sich die Betriebsräte und Vertrauenskörperleitungen von 3584 Betrieben an der Befragung beteiligt. Das entspricht einer Quote von 38%. In großen Teilen schloss die Befragung 2018 an die Befragung 2015 zu den gleichen Themen an. Damit konnten Vergleiche gezogen werden.
[2] Kerstin Bruckmeier/Katrin Hohmeyer: Arbeitsaufnahmen von Arbeitslosengeld-II-Empfängern. Nachhaltige Integration bleibt schwierig, IAB-Kurzbericht 2/2018.
[3] »Zeitarbeit nimmt Tausende Flüchtlinge auf«, FAZ vom 7.8.2018.
[4] Markus Promberger/Kerstin Jahn/Brigitte Schels/Jutta Allmendinger/Stefan Stuth: Existiert ein verfestigtes »Prekariat«? Prekäre Beschäftigung, ihre Gestalt und Bedeutung im Lebenslauf und die Konsequenzen für die Strukturierung sozialer Ungleichheit, HBS-Workingpaper 085/September 2018.