30. Juni 2017 Hinrich Kuhls: Zur politischen Pattsituation in Britannien

Gesellschaftsprotest gegen Minderheitsregierung

Am 1. Juli sieht London unter dem Motto »Not One Day More« die größte Massenversammlung der letzten Jahrzehnte. Hunderttausende werden ihrem lauten Ruf nach dem Ende der Austeritätspolitik Nachdruck verleihen durch ihren Marsch zum Parlament in Westminster.

Es ist vor allem der junge Teil der Zivilgesellschaft, der im parlamentarischen Patt zwischen den konservativen und progressiven Kräften jetzt auf die politische Wende in Britannien drängt.

Die konservative Minderheitsregierung unter Führung von Premierministerin May hat am 29. Juni ihr Regierungsprogramm nur mit einer äußerst knappen Mehrheit im Parlament durchbringen können. Dazu benötigte sie ein »Vertrauens- und Unterstützungsabkommen« mit der Democratic Unionist Party (DUP), einer rechtskonservativen nordirischen Regionalpartei, die im Unterhaus mit zehn Abgeordneten vertreten ist.

Im Kern setzen May und ihr Finanzminister Hammond die Austeritätspolitik der vorherigen Kabinette fort. Mays Ansätze in Richtung einer Industriepolitik mit entsprechenden Investitionen und Investitionsanreizen waren schon im Staatsbudget für 2016/17 mit wenigen konkreten Finanzbeschlüssen unterlegt und sind jetzt zurückgeschraubt worden.

Die mit dem Brexit hervorgerufene Unsicherheit sowie die damit verbundenen Unternehmensentscheidungen und auch die Ablösezahlungen aus dem EU-Austrittsvertrag werden den Staatshaushalt zusätzlich belasten [1]. Zugleich versucht die Minderheitsregierung für die neue Legislaturperiode, differenzierte Steuererhöhungen weiterhin auszuschließen, auch bei den drei aufkommensstärksten Einnahmequellen (Einkommensteuer, Sozialabgaben, Mehrwertsteuer). Es bleibt die neoliberale Alternative: Erhöhung der Staatsschulden – oder eben die Austerität.

»Das Zeitalter der Austerität« hatte Mays Vorgänger Cameron 2009 ausgerufen. Seit Regierungsantritt der Tories im folgenden Jahr sind weit über 100 Mrd. Pfund durch forcierten Sozialabbau, durch Einschränkungen bei der Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur und vor allem durch die massiven Kürzungen der Zuweisungen an die Kommunen eingespart worden. Dennoch ist die Staatsverschuldung nicht gesunken.

Den Protestmarsch gegen die Austerität organisiert die People’s Assembly Against Austerity, die Volksversammlung gegen Austeritätspolitik. Sie ist ein überparteiliches Personenbündnis, das 2013 ins Leben gerufen worden ist. Den Gründungsaufruf haben mit vielen anderen auch die Grünen-Abgeordnete Caroline Lucas, viele Gewerkschaftsvorsitzende, etliche AktivistInnen der kleineren Linksparteien, darunter Left Unity, der inzwischen verstorbene Labour-Linke Tony Benn und auch der damals relativ unbekannte Labour-Hinterbänkler Jeremy Corbyn unterzeichnet.

Der People’s Assembly haben sich viele lokale Bündnisse gegen den Sozialabbau angeschlossen, die sich ab 2011 in etlichen Kommunen zusammengefunden hatten, um der Kürzungspolitik der konservativ-liberalen Koalitionsregierung entgegenzuwirken. Die Anti-Austeritätsbewegung ist jetzt landesweit mit AktivistInnengruppen vertreten. Mitglieder und Vorstände aller großen britischen Gewerkschaften unterstützen das Bündnis und die diversen Protestaktionen, so auch den aktuellen Protestmarsch.

Seit zwei Jahren, also nach den von den Konservativen deutlich gewonnenen Parlamentswahlen 2015 und verstärkt nach dem Brexit-Votum 2016, hat sich eine Dynamik politischer Aktivität und Partizipation im progressiven Spektrum der britischen Gesellschaft entwickelt. Neue Mitglieder sind in die Labour Party geströmt, die mit 650.000 Mitgliedern heute die stärkste sozialdemokratische Partei Europas ist. Zugleich haben sich die kleinen und großen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen zur Verteidigung der stark dezimierten Einrichtungen des britischen Sozialstaats und der Kommunen konsolidiert.

Zum Fokus der Bewegung sind das Wahlprogramm der Labour Party geworden und der Labour-Vorsitzende Corbyn, der der Austeritätspolitik glaubwürdig eine Perspektive zur Erneuerung des öffentlichen Sektors entgegengesetzt hat. Nachdem klar geworden ist, dass das Votum für den Brexit in absehbarer Zeit nicht politisch revidiert werden kann, betrachten die WählerInnen zunehmend die Umsetzung des Austritts und die sozialökonomischen Folgen des Brexit unter der Perspektive der Verstetigung der Austeritätspolitik. Die Forderung nach einem »sanften« Brexit verknüpft sich mit der Forderung nach einem Ende der Austerität.

Die Versprechungen auf ein prosperierendes Global-Britannien mit einem Kranz neuer Freihandelsabkommen werden nicht für bare Münze genommen, die zusätzlichen finanziellen Belastungen durch den EU-Exit hingegen schon. Zudem werden für die jüngere Generation die negativen Folgen der gegenseitigen nationalen Abschottung für Ausbildung, Jobs und internationalem Austausch realer. Der Wunsch, die Personenfreizügigkeit möglichst weitgehend beizubehalten, hat im gesellschaftlichen Diskurs gegenüber den nationalen Ressentiments und Rufen zur Schließung des Arbeitsmarkts und zur Kontrolle der Grenzen wieder stärkeres Gewicht bekommen.

Corbyn hatte sich nach seiner Wahl zum Labour-Vorsitzenden – trotz vieler Anfeindungen und erheblichen Drucks aus den eigenen Fraktionsreihen – nicht der Forderung unterworfen, die linkssozialdemokratischen, sozialistischen und pazifistischen Komponenten seiner Politik aufzugeben, um das angebliche Erscheinungsbild eines Wahlverlierers abzulegen und »wählbar« zu werden. Weder machte er Zugeständnisse bei seiner Kritik an der verfehlten Sozial- und Außenpolitik von New Labour, noch kam er der Forderung der Mehrheit seiner Fraktion nach, beim EU-Referendum den Schulterschluss mit dem konservativen Premier Cameron zu suchen.

Stattdessen hat er gegen den Brexit mit der Forderung »Bleiben und Erneuern« gefochten – wobei er nicht im Unklaren gelassen hatte, dass eine Erneuerung der EU nicht ohne Beendigung der Austeritätspolitik zu haben ist. Genauso wie er jetzt – im Parlament, auf Rockfestivals, auf Gewerkschaftskongressen, auf Parteiversammlungen, auf Demonstrationen – darauf beharrt, dass eine politische Wende nicht ohne Ende der Austerität zu haben ist.

 

Der Start der Minderheitsregierung

Nach dem knappen Wahlsieg steht Mays Minderheitsregierung vom ersten Tag an stark unter Druck. Einige zentrale Punkte des Wahlprogramms der konservativen Partei sind nicht in das Regierungsprogramm für die nächsten Jahre mit aufgenommen worden. Das Wahlprogramm selbst ist von der Webpräsenz der Konservativen Partei gelöscht worden.

Traditionell wird beim Staatsakt zur Parlamentseröffnung eine kurze Zusammenfassung des Regierungsprogramms als Queen’s Speech vorgetragen. Die parlamentarische Debatte wird anhand der »Langfassung« geführt – einer Auflistung der geplanten Gesetzesinitiativen sowie weiterer Vorhaben, jeweils mit knappen Erläuterungen und Begründungen versehen. Das ermöglicht der Opposition, vor Beschlussfassung über die Queen’s Speech, Änderungsanträge zu den Regierungsvorhaben einzubringen. Die einwöchige Debatte zu den einzelnen Politikbereichen wurde in diesem Jahr zwischen Regierungs- und Oppositionsbank intensiv und hart geführt.

Die Labour-Parlamentsfraktion mit Oppositionsführer Corbyn brachte am Ende der Debatte einen Änderungsantrag zu einem zentralen Aspekt der Austeritätspolitik ein. Die Realeinkommen der 5,4 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Sektors sind in den letzten sechs Jahren durchgehend gesunken. Daher sollte dem Antrag zufolge die Kappungsgrenze von einem Prozent bei den Einkommenserhöhungen der Beschäftigten im öffentlichen Sektor beseitigt und für eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Polizei-, Feuerwehr- und Rettungskräfte gesorgt werden, die in den letzten Monaten besonderen Belastungen ausgesetzt waren.

Der Antrag wurde zwar von der Regierungsmehrheit wie erwartet geschlossen abgelehnt, eröffnet aber der Labour Party, der Anti-Austeritätsbewegung und den Gewerkschaften die Möglichkeit, bei eventuell frühzeitig anstehenden Neuwahlen die Kürzungspolitik in den Mittelpunkt ihrer politischen Aktivitäten zur Durchsetzung einer politischen Wende zu rücken. Gerade in den Wahlkreisen, die von konservativen Abgeordneten mit knapper Mehrheit gewonnen worden sind, werden so die jeweiligen Mandatsinhaber mit ihrer Unterstützung der Kürzungspolitik konfrontiert.

Das Tolerierungsabkommen mit der DUP

Das Regierungsprogramm wird in der Schlussabstimmung mit der knappen Mehrheit der Tories und der DUP angenommen. Voraussetzung für die Tolerierung war ein zäh ausgehandeltes Unterstützungsabkommen mit der DUP plus einer Erklärung der Regierung, der nordirischen Regierung in den nächsten beiden Jahren mehr als eine Mrd. Pfund zusätzlich zu überweisen, was pro Kopf rund 500 Pfund ausmacht. Pro Kopf sind auch die höchsten Beträge aus den Fördermitteln des Europäischen Regional- und Strukturfonds für das Vereinigte Königreich nach Nordirland gegangen. Die zusätzlichen Mittel sollen vor allem in die digitale Infrastruktur und das Gesundheitswesen fließen.

Es fällt auf, dass die vereinbarte Zusatzsumme der Höhe nach dem Schaden ähnelt, der dem nordirischen Teilstaat durch den »Heiz-Skandal« zugefügt worden war: Das Heizen leer stehender Scheunen und Fabrikhallen war gefördert worden. Verantwortlich für diesen Förderskandal, dessen haushaltsrelevanter Schaden auf bis zu 1,5 Mrd. Pfund geschätzt wird, war die damalige nordirische Wirtschaftsministerin Arlene Foster, die jetzt als DUP-Vorsitzende den Tolerierungsdeal mit der Premierministerin ausgehandelt hat. [2] Die Handhabung des Skandals durch die DUP gab Anfang 2017 den Anlass für den Rückzug von Sinn Féin aus der nordirischen Regierung und für die vorgezogenen Neuwahlen der nordirischen parlamentarischen Versammlung.

Von der Tolerierungsvereinbarung mit der DUP sind zwei entscheidende politische Signale ausgegangen, die in den nächsten Wochen neben dem Fortgang der Brexit-Verhandlungen und der Debatte, wie im sozialen Wohnungsbau weitere tödliche Folgen der neoliberalen Deregulierungspolitik verhindert werden können, die politische Auseinandersetzung im Vereinigten Königreich bestimmen werden. Das erste Signal: Die konservative Minderheitsregierung wird ihren harten Austeritätskurs kaum durchhalten können. Das zweite Signal: Die Regierung hat die »strikte Neutralität« in nordirischen Angelegenheiten, zu der sie aufgrund des irisch-britischen Vertrags von 1998 (»Karfreitagsabkommen«) verpflichtet ist, faktisch durchbrochen.

Das Dilemma der Tories brachte Verteidigungsminister Michael Fallon auf den Punkt: Die zusätzlichen Mittel für die nordirische Infrastruktur würden der gesamten nordirischen Bevölkerung, also nicht nur dem unionistisch orientierten Teil, zugutekommen, was allerdings keineswegs eine Abkehr von der Austeritätspolitik bedeuten würde: »Mit der Austerität ist es erst vorbei, wenn wir das Staatsdefizit beseitigt haben.«

Es blieb nicht aus, dass aus Wales und Schottland sofort die äquivalenten zusätzlichen Mittel für die Verbesserung der Infrastruktur eingefordert worden sind. Corbyn forderte die Regierung auf, nicht nur für Nordirland die Austerität zu lockern, sondern für das gesamte Vereinigte Königreich zu beenden. Die Regierung müsse daher »sofort zwei Fragen beantworten. Woher kommt das Geld für den Tory-DUP-Deal? Und werden alle Teile des Vereinigten Königreichs die dringend benötigten zusätzlichen Mittel erhalten, die Nordirland als Teil des Abkommens erhalten wird? Dieser Tory-DUP-Deal ist eindeutig nicht im nationalen Interesse, sondern im Interesse der Tories, die sich an die Macht klammern.«

Die Situation in Nordirland

Durch das Tolerierungsabkommen mit der DUP ist die politische Krise in Nordirland noch komplexer und ihre Lösung noch schwieriger geworden. Im Tolerierungsabkommen hat die Zentralregierung der DUP ein Mitspracherecht bei der Verteilung der zusätzlichen Mittel eingeräumt. Nicht allein das legt nahe, dass das institutionelle Gebot der strikten Neutralität verletzt worden ist. Die juristische Überprüfung des Abkommens ist wahrscheinlich.

Die Frist für die Bildung einer verfassungsgemäßen Allparteien-Exekutive, die vor allem von den beiden großen nordirischen Parteien seit den Neuwahlen Anfang März blockiert worden ist, war vom Nordirland-Minister James Brokenshire auf den 29. Juni festgesetzt worden. Vordergründig wird die Regierungsbildung erschwert durch eine Forderung der linksrepublikanischen Partei Sinn Féin, in einem Kulturabkommen die Gewichtung des Gälischen und des Englischen neu zu bestimmen.

Doch die Hauptprobleme liegen in der Bewertung der Austeritätspolitik und dem Umgang mit dem Brexit-Votum. Mehrheitlich hatte sich Nordirland für den Verbleib in der Europäischen Union ausgesprochen. Von dem absehbaren Einbruch des Außenhandels zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich infolge des Brexit ist die Ökonomie Nordirlands besonders betroffen. Es geht nicht nur um den Wegfall der EU-Fördergelder und die Frage, in welcher Form der Grenzübertritt neu geregelt werden soll, sondern um den Erhalt von Arbeitsplätzen – nicht nur in der Logistikbranche. Die Frage der weiteren Durchlässigkeit der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland gehört daher zu den drei Topthemen der ersten Phase der Brexit-Verhandlungen.

Die Gewerkschaft NISPA (Northern Ireland Public Service Alliance), der 220.000 Beschäftigte im öffentlichen Sektor angehören und die dem irischen Gewerkschafsbund angeschlossen ist, kritisierte scharf, dass die zehn DUP-Abgeordneten die Fortsetzung der Austeritätspolitik seitens der Tory-Minderheitsregierung ermöglichen. Generalsekretärin Alison Millar bedauerte, dass die Gunst der Stunde ungenutzt blieb: »Die, die uns politisch repräsentieren, hätten die Austeritätspolitik beenden können, die gegen Tausende von Beschäftigten im öffentlichen Sektor gerichtet ist, die die Hauptlast der Kürzungen zu schultern haben und dennoch versuchen, die öffentlichen Einrichtungen, auf die die Gesellschaft angewiesen ist, am Leben zu erhalten.«

Protestdynamik

Mit der Dynamik, die die britische gesellschaftliche und politische Linke an den Tag legt, scheint sie derzeit der Entwicklung in anderen europäischen Ländern einen Schritt voraus zu sein. Corbyn orientiert darauf, den Druck auf die Minderheitsregierung hoch zu halten und sich auf eine weitere vorgezogene Parlamentswahl einzustellen. Innerhalb der Labour-Parlamentsfraktion scheint sich eine effektivere Kooperation zwischen den Flügeln abzuzeichnen.

Umso wichtiger wird es, neben der Konkretisierung des Wahlprogramms das unterbrochene Projekt einer breiten innerparteilichen und gesellschaftlichen Debatte über eine reformbasierte Transformationsperspektive wieder aufzunehmen. Mit dem Transmissionsriemen des gesellschaftlichen Diskurses könnte der Schwung der Protestbewegung in die politische Weichenstellung für einen alternativen post-neoliberalen Entwicklungspfad transferiert werden. [3]

Das machtpolitische Motto der Massendemonstration, den Tories keinen Tag länger die Regierungsverantwortung zu überlassen, wird sich vermutlich nicht so schnell umsetzen lassen. Ihrem gesellschafts- und sozialpolitischen Ziel ist die Protestbewegung hingegen ein gutes Stück näher gekommen. Eine erfolgreiche Opposition gegen weiteren Sozialabbau ist machbar geworden: »No more cuts«.

Hinrich Kuhls, Düsseldorf, arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) mit.


[1] Zu sozialökonomischen und politischen Perspektiven auf dem Weg zum Post-Brexit-Britain vgl. den Beitrag: Joachim Bischoff/Hinrich Kuhls: Brexit ist kein Zukunftsprogramm in Sozialismus Juli/August 2017, S. 13-25.
[2] vgl. hierzu den ausführlichen Bericht von Frank Patalong: Wahl in Nordirland: Eine Regierung hat sich verheizt, Spiegel Online vom 1.3.2017.
[3] Vor dem Hintergrund der Entwicklung in Großbritannien stellt sich für die politische Situation in Deutschland die Frage umso dringlicher, warum der Konnex zivilgesellschaftlicher, gewerkschaftlicher und politischer Protest- und Gestaltungsaktivitäten so weitgehend verloren gegangen ist – und wie er wieder zu etablieren wäre. Würde die Auflösung der internen Blockaden in und zwischen den Parteien der politischen Linken verteilungspolitische oder europapolitische Initiativen wie das »Bündnis Reichtum umverteilen« und »Europa neu begründen« erfolgreicher machen?

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