25. Juli 2022 M.K. Bhadrakumar: Auf dem langen Weg zu einer Friedenslösung

Getreideexport-Vereinbarungen in Kriegszeiten

Die am 22. Juli in Istanbul unterzeichneten Vereinbarungen über die Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine und Russland machen Schlagzeilen als wichtige Entwicklung im Hinblick auf die weltweite Ernährungssicherheit. Sie wirken sich auch insgesamt auf das internationale Kräfteverhältnis aus.

Rund 22 Mio. Tonnen Getreide aus der letztjährigen Ernte, die aufgrund des Krieges in der Ukraine eingeschlossen sind, und geschätzte 41 Mio. Tonnen aus Russlands Weizenexporten für 2022/23, also rund 60 Mio. Tonnen, erreichen den Weltgetreidemarkt.

Eine vorsichtige Schätzung geht davon aus, dass die russische Weizenernte 2022 rund 85 Mio. Tonnen betragen wird. Wenn das Wetter mitspielt, könnte sie auf 90 Mio. Tonnen ansteigen, was einer Rekordernte gleichkäme. Die Bedeutung Russlands für die globale Weizenbilanz wird in der neuen Saison wahrscheinlich beispiellos sein. Schon in den letzten Jahren war Russland zum größten Weizenexporteur der Welt aufgestiegen. Die Lieferungen aus Russland werden mehr als 20% des weltweiten Weizenhandels 2022/23 ausmachen und damit seine Position als weltweit wichtigstes Weizenexportland festigen.

In Istanbul wurden also zwei Abkommen unterzeichnet, eines über die Modalitäten des Transports des ukrainischen Getreides von drei Häfen am Schwarzen Meer – Odessa, Tschornomorsk und Juschne – über einen »Getreidekorridor« in die Türkei und ein zweites zwischen Russland und den Vereinten Nationen über die Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen russische Weizen- und Düngemittelausfuhren.

In Wirklichkeit erhält Russland vom Westen eine teilweise Aufhebung der Sanktionen, während es gleichzeitig den Betrieb des »Getreidekorridors« aus den ukrainischen Häfen im Kriegsgebiet erleichtert. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Vorgängen? Die Antwort lautet »ja« und »nein«. Dass die russische Blockade der ukrainischen Häfen auf die westlichen Sanktionen für die Schifffahrt nach und von russischen Häfen und für entsprechende Schiffsversicherungen folgte, war mehr als nur ein Zufall.

Daher ist dies ein politischer Sieg für Russland – abgesehen von den beträchtlichen Einnahmen aus den Exporten (etwa 20 Mrd. US-Dollar) und der fortgesetzten russischen Präsenz auf den wichtigen Märkten in Afrika, Westasien und weiteren Regionen, was mittel- und langfristig strategische Auswirkungen auf die russische Außenpolitik hat.

Die Vereinbarung sieht vor, dass Schiffe, die in ukrainische Häfen ein- und auslaufen, von ukrainischen Lotsenbooten durch die stark verminten Passagen vor den Häfen begleitet werden, und dass Russland sich verpflichtet, das Gebiet nicht anzugreifen, während die Ladungen unterwegs sind.

Die Rolle der Türkei wird darin bestehen, die in die ukrainischen Häfen einlaufenden Schiffe auf Waffen zu kontrollieren. Die Türkei agiert als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine unter der Aufsicht der Vereinten Nationen von einem gemeinsamen Koordinierungszentrum aus, das in Istanbul für die Umsetzung des Abkommens eingerichtet wird.

Schon allein die Tatsache, dass Russland und die Ukraine überhaupt eine Einigung erzielen konnten, ist ausgesprochen wichtig. US-Außenminister Antony Blinken begrüßte das Getreideabkommen in Istanbul als »einen positiven Schritt zur Bewältigung der weitreichenden Auswirkungen von Russlands Krieg [...] Die internationale Gemeinschaft muss Russland nun für die Umsetzung dieses Abkommens zur Rechenschaft ziehen.« Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte seinerseits, Moskau finde es »erfreulich, dass Washington und Brüssel den Weg zu einem Getreideabkommen nicht länger blockieren«.


Zuspitzung der Entwicklung und Kumulation diverser Sichtweisen

Die große Frage ist, ob diese Entwicklung und das »gute Gefühl« einer »Win-Win«-Stimmung für zwei sich bekriegende Nationen irgendwelche nachgelagerten Auswirkungen haben werden. Die Zeichen sind überwiegend entmutigend, doch die Morgendämmerung des Friedens bricht oft unerwartet an.

Die militärische Lage in der Ukraine ist im Moment eher statisch, obwohl sie sich abrupt ändern kann. Seit der Einnahme der letzten beiden von den ukrainischen Kräften gehaltenen Städte in der östlichen Provinz Luhansk durch russische Truppen Ende Juni und Anfang Juli gab es keine Durchbrüche an der Front. Die russischen Operationen in der Region Donezk haben sich in den letzten zwei Wochen generell verlangsamt, was jedoch auf das hügelige Gelände um die strategisch wichtige Stadt Slawjansk, hinter der sich ukrainische Ebene öffnet, zurückzuführen sein könnte.

Inzwischen hat mit dem Einsatz der vom Pentagon gelieferten Raketenwerfer des Typs HIMARS (High Mobility Artillery Rocket System), das GPS-gesteuerte Raketen auf 80 Kilometer entfernte Ziele abfeuert und damit außerhalb der Reichweite der meisten russischen Artilleriesysteme liegt, eine neue Phase des Krieges begonnen. Es ist denkbar, dass es die Schlagkraft der Ukraine erhöht. Aber HIMARS ist weder ein Wendepunkt noch ein Ausgleich für den enormen Verlust an ukrainischen Kampffähigkeiten während der fünfmonatigen Kämpfe, der erst in Jahren wieder aufgeholt werden kann.

Kiew scheint hingegen zu glauben, dass es dank der schrittweisen Ausweitung der Versorgung mit westlichen Waffen wie HIMARS in der Lage sein wird, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj begrüßte am Tag der Unterzeichnung das Getreideabkommen, das ukrainische Getreideexporte im Wert von rund 10 Mrd. US-Dollar ermöglicht, sagte jedoch, dass es keinen Waffenstillstand geben könne, solange die verlorenen Gebiete nicht zurückerobert seien: »Das Einfrieren des Konflikts mit der Russischen Föderation bedeutet eine Pause, die der Russischen Föderation Zeit zur Erholung verschafft. Sie wird diese Pause nicht nutzen, um ihre Geopolitik zu ändern oder auf ihre Ansprüche auf die ehemaligen Sowjetrepubliken zu verzichten.«

Das Weiße Haus kündigte am selben Tag neue Unterstützung für Kiew in Höhe von 270 Mio. US-Dollar an, darunter vier weitere HIMARS und bis zu 580 Phoenix-Ghost-Drohnen, die »speziell für die Ukraine produziert werden«.

Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass das Weizenabkommen ein weiteres Beispiel für den Verzicht auf Sanktionen durch die Europäische Union ist, bei dem es auch um ihre eigenen Interessen geht. Insbesondere der Mangel an Düngemitteln ist in Europa zu einem brisanten Thema geworden, das kürzlich von Protesten der Landwirte begleitet wurde.

Es ist klar, dass sich die Dinge zuspitzen. Der EU fällt es zunehmend schwer, glaubwürdige Sanktionspakete zu schnüren. Nachdem für Öl, Gas und Düngemittel Ausnahmen bei den Sanktionen eingeräumt worden waren, blockierte die EU jetzt einen Vorschlag, ein russisches Metallunternehmen zu sanktionieren, das ein wichtiger Lieferant von Titan für den Airbus ist.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sprach jetzt eine Sichtweise aus, die sich vermutlich bei vielen Menschen in Europa verfestigt, als er am 23. Juli in einer Rede in Rumänien sagte, die EU brauche eine neue Strategie für den Krieg in der Ukraine, da die Sanktionen gegen Moskau nicht funktioniert hätten: »Es ist eine neue Strategie erforderlich, die sich auf Friedensgespräche und die Ausarbeitung eines guten Friedensvorschlags konzentrieren sollte, anstatt darauf, den Krieg zu gewinnen.«

Orbán erinnerte daran, dass die westliche Strategie auf vier Pfeilern beruht: erstens, dass die Ukraine einen Krieg gegen Russland mit NATO-Waffen gewinnen würde; zweitens, dass Sanktionen Russland schwächen und seine Führung destabilisieren würden; drittens, dass Sanktionen Russland mehr schaden würden als Europa; und viertens, dass die Welt sich zur Unterstützung Europas aufstellen würde.

Diese Strategie ist laut Orbán gescheitert, da die Regierungen in Europa »wie Dominosteine« zusammenbrechen, die Energiepreise in die Höhe geschossen sind und jetzt eine neue Strategie erforderlich ist. Es sei klar, dass die Ukraine den Krieg auf diese Weise nicht gewinnen könne, »weil die russische Armee eine asymmetrische Dominanz hat«.

Bezeichnenderweise lag der Schwerpunkt von Orbáns Rede neben der deutlichen Kritik der Sanktionspolitik auf seinem Aufruf zu Gesprächen zwischen den USA und Russland. »Nur Gespräche zwischen Russland und den USA können den Konflikt beenden, denn Russland will Sicherheitsgarantien, die nur Washington geben kann.«

Orbáns hielt seine Rede nur zwei Tage nach einem unangekündigten Besuch des ungarischen Außenministers Péter Szijjártó in Moskau, angeblich um mit seinem Amtskollegen Sergej Lawrow die Möglichkeit zu erörtern, mehr Gaslieferungen aus Russland zu erhalten. Interessanterweise flog Szijjártó von Washington aus nach Moskau.

In Washington hatte Szijjártó in einem Interview mit der Washington Times zu sofortigen Gesprächen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine aufgerufen und sagte, dass »alle Kriege in Verhandlungen enden« und die Welt sich darauf konzentrieren sollte, wie man durch eine schnelle Beendigung des fast fünf Monate alten Konflikts Frieden erreichen kann.

Für die Vermittlung von Gesprächen zwischen den USA und Russland hat Orbán zweifelsfrei gute Referenzen, die kaum zu übertreffen sind. Die große Unbekannte in diesem Fall ist aber die Frage, ob das Interesse der Kriegsparteien ausreicht, um den Konflikt zum jetzigen Zeitpunkt einzufrieren.

Russland scheint darauf zu bestehen, dass jegliche Friedensgespräche in diesem Stadium seine Kontrolle nicht nur über den Donbass, sondern auch über die südlichen Regionen Cherson und Saporischschja anerkennen müssten. Es ist auch die Rede davon, dass die militärischen Sonderoperationen weit über die ursprünglich festgelegten Parameter hinausgehen. Die Front in Charkiw ist in der Tat in Bewegung geraten.

Die Moskauer Presse und das Fernsehen berichten, dass in Cherson und Saporischschja Vorbereitungen für ein Referendum über die Eingliederung in Russland getroffen werden. Drei Tage vor der Unterzeichnung des Getreideabkommens behauptete der Sprecher des Weißen Hauses, John Kirby, dass »Russland damit beginnt, eine Version dessen zu entwickeln, was man als Annexionsplan bezeichnen könnte«, und dass es »reichlich Beweise in den Geheimdiensten und in der Öffentlichkeit« für die sich entwickelnden Bemühungen Russlands gebe, zu denen auch die Einführung des Rubels als Landeswährung in den Gebieten gehöre, die es annektieren wolle, so wie es dies auf der Krim getan habe.

Ein Versuch zur Entschlüsselung von Kirbys Rhetorik: Könnte es sich um einen Startschuss handeln? Denn das Paradox besteht ja auch darin, dass je länger der Krieg andauert, die russischen Forderungen desto größer werden, und im Herbst/Winter könnten die russischen Forderungen durchaus auch Charkiw umfassen – und möglicherweise auch die Region Odessa.


»Warum Biden gescheitert ist«

Andererseits ist es eine geopolitische Realität, dass sich Russlands diplomatischer Handlungsspielraum ausweitet und den der USA möglicherweise überflügelt. Im kritischen westasiatischen Raum, der für die westliche Strategie des Kalten Krieges gegen die ehemalige Sowjetunion historisch wichtig war, versuchte Präsident Biden beispielsweise, die neun arabischen Staatslenker, mit denen er letzte Woche in Dschidda zusammentraf, davon zu überzeugen, dass ein neuer Kalter Krieg auf den Nahen Osten zukommt und sie sich auf die Seite der USA gegen Russland (und China) stellen sollten. Er fand aber »keine Abnehmer für seine Botschaft, selbst als er den Iran in die Gleichung einbezog«, um David Ottaway vom Wilson Center zu zitieren.

Das öffentliche Schweigen der arabischen Staatslenker zu Bidens Gerede von einem Kalten Krieg oder gar einer Konfrontation der USA und Israels mit dem Iran wegen dessen sich beschleunigendem Atomprogramm war ohrenbetäubend. Auch die lautstarke Befürwortung des russischen Krieges in der Ukraine durch den Obersten Führer Irans, Ayatollah Ali Khamenei, während seines Treffens mit Präsident Putin ging über die Unterstützung Moskaus durch alle anderen Verbündeten des Kremls in der Ukraine-Krise hinaus und deutete auf eine sich anbahnende viel stärkere Allianz zwischen Moskau und Teheran hin.

In einer dramatischen Demonstration der Reichweite des russischen Einflusses in Westasien führte Putin nach seiner Rückkehr aus Teheran ein Telefongespräch mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman Al Saud, bei dem »die Ausweitung der für beide Seiten vorteilhaften Handels- und Wirtschaftsbeziehungen« im Vordergrund stand. Dabei »untersuchten sie die Entwicklungen auf dem globalen Ölmarkt«, »konzentrierten sich auf die Bedeutung einer weiteren Koordinierung innerhalb der OPEC-plus« und stellten »mit Genugtuung fest, dass die OPEC-plus-Mitgliedsländer ihre Verpflichtungen zur Aufrechterhaltung des notwendigen Gleichgewichts und der Stabilität auf dem globalen Energiemarkt konsequent erfüllen«.

Ebenfalls am selben Tag, an dem die Istanbuler Vereinbarungen über Getreideexporte unterzeichnet wurden, unterzeichnete Putin ein Dekret über die Abhaltung des zweiten Russland-Afrika-Gipfels und weiterer Treffen im Rahmen des Russland-Afrika-Formats in Russland im nächsten Jahr, während Lawrow am 24. Juli zu einer Afrika-Reise aufbrach, die er in Ägypten begann. Da Russlands Getreidelieferketten mit den afrikanischen Ländern auf dem gesamten Kontinent nun wiederhergestellt sind, wird Lawrow die dynamische Agenda Moskaus mit dem afrikanischen Kontinent um neue Bereiche der Zusammenarbeit ergänzen, wobei er der Situation um die Ukraine besondere Aufmerksamkeit widmet.

Bei der Kreativität auf diplomatischer Ebene könnte der Kontrast zwischen den USA und Russland nicht größer sein. Biden versprach eine Außenpolitik im Interesse von Amerikas Mittelschicht. Was ist daraus geworden? Hat die Präsidentschaft Bidens nicht den Faden verloren? Je früher die Friedensgespräche in der Ukraine beginnen, desto besser stehen die Chancen für die westliche Karten in den langen und schwierigen Verhandlungen.

Es wäre klug, das »gute Gefühl« über das Getreideabkommen zu nutzen, um Verhandlungen mit Russland zu eröffnen. Andernfalls könnte 2022 das letzte Jahr sein, in dem die Ukraine ihr Getreide über ihre eigenen Häfen am Schwarzen Meer exportiert. Die nicht-westliche Welt, für die die Entwicklungsagenda oberste Priorität hat und die mit der Rezession und der Pandemie kämpft, hat kein Interesse daran, sich in den neuen Kalten Krieg der USA gegen Russland und China einzuschalten.

Müssen die USA nicht doch einen anderen Weg einschlagen, damit sie ihre Führungsrolle in der Welt wieder erlangen können? Washington ist sich nicht bewusst, wie sehr es auch im Interesse der USA liegt, die Ukraine-Strategie und die Beziehungen zu Russland zu überdenken.

Bidens jüngste Auslandsreisen machen deutlich, dass »der Schaden, den die jahrzehntelange verfehlte Geopolitik der USA angerichtet hat, nicht ungeschehen gemacht werden kann«, während andererseits »die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine die geschwächten US-Regierungsinstitutionen an den Rand des Zusammenbruchs treiben. Während Washington versucht, im Ausland ›Demokratien gegen Autokratien‹ zu mobilisieren, werden die Säulen der liberalen Ordnung der USA selbst angegriffen«.

So lauten die Schlussfolgerungen des britischen Wirtschaftshistorikers Adam Tooze, der an der Columbia University in New York unterrichtet und dort das European Institute leitet, in seinem aktuellen Essay mit dem Titel »Warum Biden gescheitert ist«, der in der der Ausgabe des New Statesman vom 20. Juli erschienen ist. Seine Bilanz: »Wenn Bidens Plan darin bestand, die US-Demokratie durch eine fortschrittliche Politik zu stabilisieren – einen aktualisierten New Deal für das 21. Jahrhundert –, dann ist seine Präsidentschaft gescheitert.«

M.K. Bhadrakumar war drei Jahrzehnte lang im Auswärtigen Dienst der Republik Indien tätig. Auf seinem Blog The Indian Punchline schreibt er zu Themen der indischen Außenpolitik und zu internationalen Beziehungen mit den Schwerpunkten Asien und Asien-Pazifik. Dort erschien am 24.7.2022 der hier in einer leicht bearbeiteten Übersetzung dokumentierte Beitrag unter dem Titel Ukraine grain deal is a feel-good event. But road to peace is long and winding.

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