23. Mai 2023 Berno Schuckart-Witsch: ver.di startet Petition, um den Forderungen der Beschäftigten Nachdruck zu verleihen

GLEICHES RECHT für kirchlich Beschäftigte

Mit rund 1,8 Mio. Arbeitnehmer*innen sind die christlichen Kirchen nach dem öffentlichen Dienst die größten Arbeitgeber in Deutschland. Davon sind rund 1,4 Mio. in den Unternehmen der Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas beschäftigt. Für sie alle gelten kirchliche Regeln, die ihre Rechte als Arbeitnehmer*innen einschränken. Mit dieser Benachteiligung muss endlich Schluss sein.

Gleiches Arbeitgeberverhalten – dennoch Sonderrechte? Kirchliche Arbeitgeber betreiben Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und -dienste, Einrichtungen der Behinderten- und Jugendhilfe, Rettungsdienste, Kitas u.a.m. Wie bei anderen Trägern werden diese fast ausschließlich aus Steuermitteln und Sozialversicherungsbeiträgen finanziert. Sie konkurrieren mit nicht-konfessionellen Trägern um Klient*innen und Arbeitskräfte. Sie betreiben Tarifflucht und Outsourcing, nutzen Leiharbeit und sachgrundlos befristete Arbeitsverhältnisse. Sie verhalten sich wie andere Arbeitgeber, beharren aber auf Sonderregeln im Arbeitsrecht.

Kirchliches Arbeitsrecht ist kein Muss. Arbeitsrecht ist vor allem Arbeitnehmerschutzrecht. Die Kirchen könnten es ohne Einschränkungen anwenden. Stattdessen nutzen sie gesetzliche Ausnahmen und machen von ihrem Privileg Gebrauch, eigene Regeln festzulegen – häufig zu Lasten der Beschäftigten. Doch das muss nicht so bleiben. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, das zu ändern. Die Kirchen dürfen nicht tun, was sie wollen. Das Grundgesetz räumt ihnen das Recht ein, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu ordnen und zu verwalten. Dabei haben sie sich aber an das für alle geltende Recht zu halten, wenn sie Arbeitsverhältnisse schließen. Das sieht auch der Europäische Gerichtshof so.

Keine Kündigung wegen privater, persönlicher Entscheidungen. Der Austritt aus der Kirche ist immer noch ein Kündigungsgrund. Denn dann betätigen sich Beschäftigte nach Ansicht der Kirchen »kirchenfeindlich«. Ist ein Mensch aus der Kirche ausgetreten und möchte bei einem katholischen Arbeitgeber arbeiten, soll er gar nicht erst eingestellt werden. Wer sich in einer Weise äußert, die der katholischen Kirche missfällt, kann ebenfalls gekündigt werden. Der Gesetzgeber muss diese pauschalen Privilegien zur Diskriminierung kirchlich Beschäftigter beenden. Eine Ausnahme im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ermöglicht bislang die Ungleichbehandlung von Beschäftigten der Kirchen. Allerdings geht sie weiter als es das EU-Recht zulässt. Der Gesetzgeber muss § 9 AGG unionsrechtskonform ausgestalten, am besten aber ersatzlos streichen.

Wirksam im Betrieb mitbestimmen. Die Kirchen leisten sich ein eigenes betriebliches Mitbestimmungsrecht. Beschäftigte können eine Mitarbeitervertretung wählen, allerdings sind deren Mitbestimmungsrechte weniger wirksam und ihre Durchsetzung ist schwieriger als im Betriebsverfassungsgesetz. Zudem hat die kirchliche Mitarbeitervertretung geringere Ansprüche auf erforderliche Ressourcen, was ihre wichtige Arbeit zusätzlich erschwert. Der Gesetzgeber muss für eine Stärkung der betrieblichen Interessenvertretungen in kirchlichen Betrieben sorgen, denn sie haben die gleichen Herausforderungen wie in nicht-kirchlichen Betrieben zu bewältigen.[1]

Das staatliche Mitbestimmungsrecht nimmt kirchliche Einrichtungen aktuell aus. Es gelten weder das Betriebsverfassungsgesetz noch Personalvertretungsgesetze. Der Gesetzgeber muss diese Ausnahmen nur streichen (u.a. § 118 Abs. 2 BetrVG), damit die staatliche Mitbestimmung auch in kirchlichen Einrichtungen vollständig angewendet werden kann. Für eine umfassende Stärkung der Mitbestimmungsrechte ist außerdem die Streichung des sogenannten Tendenzschutzes erforderlich (§ 118 BetrVG). Die darin enthaltenen Einschränkungen der Mitbestimmung, zum Beispiel bei personellen Einzelmaßnahmen oder Wirtschaftsausschüssen, gehören abgeschafft.[2]

Im Unternehmen mitbestimmen. Arbeitnehmer*innen tragen zum Erfolg eines Unternehmens wesentlich bei und hängen in ihrer wirtschaftlichen Existenz von Entscheidungen der Geschäftsführungen ab. Deshalb müssen nicht-kirchliche Unternehmen ab einer gewissen Beschäftigtenzahl Aufsichtsräte bilden, in denen auch die Arbeitnehmer*innen vertreten sind. Den Beschäftigten kirchlicher Unternehmen wird dieses Recht vorenthalten. Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass diese Form der demokratischen Teilhabe möglich wird, denn es gibt immer mehr kirchliche Konzerne mit zehntausenden Beschäftigten und Milliardenumsätzen. Die staatliche Unternehmensmitbestimmung nimmt kirchliche Einrichtungen aktuell aus. Weder das Mitbestimmungsgesetz noch das Drittelbeteiligungsgesetz gelten. Der Gesetzgeber muss diese Ausnahmen nur streichen (u.a. § 1 Abs. 4 S. 2 MitbestG), damit die demokratische Unternehmensmitbestimmung auch in kirchlichen Einrichtungen angewendet werden kann

Kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien sind keine Tarifverträge. Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Denn Tarifverträge können nicht einseitig durchgesetzt werden, sondern sind Ergebnis einer Einigung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Was sie kollektiv regeln, hat eine unmittelbare und zwingende Wirkung. Kirchliche Regelungen sind hingegen keine Tarifverträge. Sie besitzen keine kollektive Wirkung, sondern wirken ausschließlich durch die Anwendung im einzelnen Arbeitsvertrag. Dennoch werden sie regelmäßig durch gesetzliche Zusatzregelungen unberechtigterweise mit Tarifverträgen gleichgesetzt. Diese Praxis muss der Gesetzgeber beenden. Beispiele für Gesetze, bei denen Tarifverträge und kirchliche Regeln gleichbehandelt werden: Arbeitnehmerentsendegesetz (Berücksichtigung kirchlicher Kommissionen), Arbeitszeitgesetz (z.B. verkürzte Ruhezeiten), Jugendarbeitsschutzgesetz (z.B. Abweichung von den Ruhezeiten), Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (Höchstüberlassungsdauer), Nachweisgesetz (Nachweispflicht) und Pflegeberufegesetz (Ausbildungsbudget).

Die Abgeordneten des deutschen Bundestages sind gefordert. Die Kirchen beharren auf eigene Regelungen im Arbeitsrecht. Sie ordnen damit die Rechte von Beschäftigten den Interessen kirchlicher Arbeitgeber unter. Die Kirchen haben die verfassungsmäßigen Grenzen ihres Selbstverwaltungs- und Selbstordnungsrechts überdehnt. Immer wieder gesteht ihnen der bundesdeutsche Gesetzgeber Sonderregelungen zu. Gleichwohl hat die aktuelle Regierungskoalition  vereinbart, das kirchliche Arbeitsrecht auf den Prüfstand zu stellen. Es ist an der Zeit, die Arbeitnehmerrechte in kirchlichen Betrieben zu stärken. Dafür sind konkrete Gesetzesänderungen nötig und möglich, um Diskriminierung von Beschäftigten zu verhindern und ihnen eine wirksamere demokratische Teilhabe zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.

Obwohl alle Parteiprogramme der Ampelkoalition mehr oder weniger die Abschaffung des kirchlichen Arbeitsrechts fordern, wurde eine butterweiche Vereinbarung im Koalitionsvertrag formuliert: »Gemeinsam mit den Kirchen prüfen wir, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Verkündungsnahe Tätigkeiten bleiben ausgenommen.« (Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis90/Die Grünen, FDP, 2021) ver.di und die kirchlichen Interessenvertretungen sind an dieser »Prüfung« zu beteiligen. Zu befürchten ist allerdings, dass maßgebliche Politiker* innen der Ampelkoalition ihre traditionelle Kirchennähe nutzen werden, um das Nebenarbeitsrecht der Kirchen zu konservieren. ver.di hat deshalb in diesen Tagen eine Petition gestartet, um den jahrzehntelangen Forderungen der Beschäftigten Nachdruck zu verleihen.

Gute Löhne nur mit Tarifvertrag-auch in Kirchenbetrieben. Das ist seit mehr als 100 Jahren ein immer wieder hart umkämpftes Prinzip, um Löhne und Arbeitsbedingungen verbindlich zu regeln. ver.di fordert diese Tarifpartnerschaft ausnahmslos auch mit kirchlichen Trägern. Zwar setzen kirchliche Arbeitgeber noch mehrheitlich auf einen internen Weg nach kirchlichen Regeln, ohne Beteiligungsmöglichkeit der abhängig Beschäftigten und öffentlicher Forderungsdiskussion. Aber auch in diesem Sektor verzeichnen die organisierten Beschäftigten seit Jahren deutliche Erfolge: Immer öfter werden Tarifverträge  zwischen ver.di und kirchlichen Arbeitgebern abgeschlossen, zum Beispiel im Bereich der Diakonie Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein, der evangelischen Kirche im Norden und in Berlin-Brandenburg-Schlesische-Oberlausitz, bei der Stadtmission Heidelberg oder im Bereich der diakonischen Altenhilfe in Hessen.

Streikrecht ist Grundrecht– na klar! Die Kirchen behaupten bis heute in ihren eigenen kirchenrechtlichen Verlautbarungen, in ihren Unternehmen sei das Streiken nicht erlaubt sei. Die großen kirchlichen Arbeitgeberverbände preisen immer wieder ihre angeblich durch Konsens geprägte Konfliktbewältigung, beispielhaft sei diese auch für die außerkirchliche Arbeitswelt. Eine vordemokratische Haltung, die allerdings immer wieder mutig von kirchlich Beschäftigten ignoriert wird mit dem Ergebnis, dass Arbeitgeber versuchen arbeitsrechtlich zu reagieren, also mit Kündigung drohen, wie kürzlich in einer katholischen Kita in Frankfurt/Main geschehen. Abhängig Beschäftigte haben grundsätzlich ein Streikrecht, so auch das Bundesarbeitsgericht in seiner wegweisenden Entscheidung 2012 zum Streikrecht in Kirchenbetrieben. Es leitet sich aus der Koalitionsfreiheit ab, die das Grundgesetz in Artikel 9 Abs. 3 garantiert. Voraussetzung für die Ausübung dieses Rechtes ist nach der bundesdeutschen Rechtsprechung, dass die zuständige Gewerkschaft zum Streik aufruft.

Literatur
Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im Arbeitsrecht und seine Grenzen, Peter Stein, HSI-Schriftenreihe
Betriebliche Mitbestimmung für das 21.Jahrhundert.Gesetzesentwurf des DGB zum Betriebsverfassungsgesetz

Berno Schuckart-Witsch war ver.di Gewerkschaftssekretär.

Anmerkungen

[1] Kirchliche Mitbestimmung im Vergleich https://gesundheit-soziales-bildung.verdi.de/service/publikationen/++co++1326ea5c-0312-11eb-8472-001a4a160119.
[2] 1952 wurden Kirchenbetriebe durch einfachgesetzliche Regelung im § 118. Abs.2 BetrVG von der Geltung ausgenommen. Dies geschah durch Intervention der beiden christlichen Kirchen bei Bundeskanzler Adenauer. Die CDU-Mehrheit beschloss diese Regelung gegen die Stimmen von SPD und KPD. Damit hatten die christlichen Kirchen sich objektiv an die Seite derjenigen Kräfte gestellt, die weitreichende Mitbestimmungsrechte nach Ende des Hitlerfaschismus verhindern wollten.

Zurück