4. Juni 2025 Bernhard Sander: Rechtspopulist lässt die Regierung der Niederlande platzen
Grauenvolles Regieren
Die Rechts-Regierung in den Niederlanden ist nach nicht einmal einem Jahr am Streit über das Asylrecht zerbrochen. Der Rechtspopulist Geert Wilders, dessen »Partei für die Freiheit« (PVV) die stärkste Kraft innerhalb der Koalition war, hatte bereits vor einer Woche Vorschläge präsentiert und die übrigen Koalitionsparteien unter Druck gesetzt, diese anzunehmen, sonst sei »die PVV weg«.
Die PVV hatte bei der Parlamentswahl in den Niederlanden im November 2023 die meisten Stimmen erhalten und ist mit 37 von 150 Sitzen die stärkste Kraft im Parlament. »Grauenvoll« – so urteilte ein Teil der öffentlichen Meinung schon wenige Wochen nach dem mühevollen Zustandekommen über die Vorhaben der Koalition aus vier Rechtsparteien:
- den Rechtsliberalen (VVD) mit ihren in 12 Regierungsjahren aufgebrauchten neoliberalen Ideen,
- der rechtspopulistischen, aus den gegen Umweltauflagen gegründeten Protestfluktuation BBB (Bauern- und Bürger-Bewegung),
- der islamfeindlichen PVV um Geert Wilders
- und dem aus der Christdemokratie abgespaltenen Neuen Gesellschaftsvertrag (NSC), der sich vor allem gegen das niederländische Poldermodell richtete.
Das Poldermodell beschreibt Institutionen und Methoden, dass verschiedene Interessen so lange verhandelt werden, bis Kompromisse möglich sind. Das war faktisch schon von den PVV-geführten Regierungen eine arg ramponierte Normalitätsvorstellung, die die Niederländer*innen von ihrem politischen System hatten.
Die ideologischen Gräben vor allem zwischen der VVD und den anderen Parteien blieben in der Koalition tief und der Weg erwies sich als nicht gangbar, eine mit Expert*innen und Partei-Statthalter*innen bestückte Regierung unter der Führung eines ehemaligen Sozialdemokraten und Karrierebeamten zu bilden, während die Parteivorsitzenden als Fraktionschefs von außen die Steuerungskommandos rufen.
Neben der Geschwindigkeit und Radikalität, mit der gegen Migrant*innen vorangegangen werden soll, bestimmte das Thema Etatdisziplin und Aufrüstung die Konfliktlage in der Koalition. Dies hat letztlich auch zum Bruch geführt.
Bereits im März eskalierte in der Regierung der Streit über die Notwendigkeit erhöhter Militärausgaben. Die Niederländer*innen sind mehrheitlich an einer nationalen Autonomie orientiert. Die Abgeordneten stimmten mit 73 zu 71 Stimmen für den Antrag, den Aufrüstungsplan der EU nicht zu unterstützen, was das Kabinett in eine heikle Lage brachte, da Ministerpräsident Dick Schoof bereits seine Zustimmung gegeben hatte. Die VVD war der einzige Koalitionspartner, der den von der rechtsextremen Ein-Mann-Partei JA21 ausgearbeiteten Antrag nicht unterstützte.
Die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen hatte vorgeschlagen, 800 Mrd. Euro für den Aufbau der europäischen Verteidigung aufzubringen, und sagte, die Rechnung könne durch eine Lockerung der EU-Haushaltsdefizitregeln und ein kollektives Darlehensprogramm in Höhe von 150 Mio. Euro bezahlt werden. Die Niederlande galten unter der Führung von Ministerpräsident Rutte (VVD) in der Frage der Haushaltsdisziplin bisher immer als treue Vasallen Deutschlands.
Der niederländische Finanzminister Eelco Heinen, der die VVD vertritt, wiegelte zur Vermeidung einer Koalitionskrise erst einmal ab, die Ablehnung sei verfrüht. »Es gibt noch gar keinen Plan«, sagte er laut einer Pressemitteilung der Europäischen Kommission. »Wir haben immer gesagt: Wartet auf die Pläne und schaut euch die Bedingungen an, die die Niederlande festgelegt haben. Darin steht, dass wir keine zusätzlichen Steuergelder in andere Länder schicken, dass wir die Haushaltsregeln einhalten und dass die Schuldentragfähigkeit wichtig ist.«
Statt der EU-Pläne wollte die gescheiterte Koalition die nationalen Spielräume ausweiten. Das militärische Personal sollte kurzfristig bis 2030 von 74.000 auf 100.000 Soldaten, Reservisten und Zivilangestellte aufgestockt werden (und um »beunruhigende Szenarien vorzubereiten« werden 200.000 für eine »Kriegsorganisation« in Erwägung gezogen). Angesichts der ausgesetzten Wehrpflicht arbeitete man wie in Deutschland an Plänen für nationale Pflichtdienste, Anreizsysteme usw. Insgesamt wenden die Niederlande rund 22 Mrd. Euro, also 2% der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auf (einschließlich Ukraine-Hilfen).
Ein Teil der Medien sieht sich als Mahner einer auch militärisch starken EU. Die Spaltung der Niederlande zeige erneut, dass die Niederlande ein unberechenbarer Partner in Europa geworden seien: »Eine Koalition, die sich in einem so grundlegenden Punkt nicht einigen kann, hat einfach keine Existenzberechtigung mehr«, kommentierte ein Leitartikel der »Volkskrant«. »Wenn Schoof nicht arbeitslos werden will, muss er jetzt seine Regierungspartner dazu zwingen, sich um die Einigkeit zu bemühen, die diese Zeiten erfordern. Das ist das Mindeste, was er von den Menschen erwarten kann, die ihn letztes Jahr ins Amt des Ministerpräsidenten gewählt haben.« Das Scheitern der Rechts-Koalition zeigt, dass der Ministerpräsident niemanden zwingen konnte.
Doch setzt in dieser Krise, für die auch Wilders keine Lösung präsentieren kann, die PVV wie schon seit Jahren die Agenda. In dem sie Wilders Ein-Mann-Partei ohne demokratische Willensbildungsstrukturen und trotz seiner Vorstrafen wegen Volksverhetzung als ganz normales Phänomen im niederländischen Verfassungsrahmen agieren ließen, normalisierten die Parteien bis hinein in die Grünen und die Sozialdemokratie zu lange die PVV. Beispiel: Wilders hat in seinem Wahlprogramm aufgeschrieben, dass die Niederlande kein islamisches Land seien, weshalb es »keine islamischen Schulen, Korane und Moscheen« geben dürfe. Das war eine deutliche Ansage zur Einschränkung der Religionsfreiheit.
Zur neuen Normalität gehören seit Wilders Auftreten auch die Beleidigung von Frauen mit Kopftüchern, die Bezeichnung des Korans als »faschistisches Buch«, die Polemik über das kaputte Rechtssystem in den Niederlanden, die Erzählung vom Nepp-Parlament und die Forderung nach dem Entzug des Stimmrechts für Menschen mit doppelter Nationalität.
Bei BBB und NSC kommt erschwerend hinzu, dass sie entweder nur vom Ansehen der einzelnen Führungsfigur oder der Attraktivität eines einzelnen Themas ohne ausgefeiltes, in zeitweiliger Regierungsarbeit auf Belastbarkeit getestetes Programm, in die Regierungspositionen rückten. Nachdem NSC Anfang April von den erreichten 20 auf prognostizierte 19 Parlamentssessel abgesackt war (ähnlich wie BBB), trat der fast wie ein Heiliger verehrte Vorsitzende Pieter Omtzigt aufgrund anhaltender Burn-out-Problemen Anfang Mai zurück. Die Verschiebungen in der Wähler*innengunst öffnete für Wilders ein Fenster der Möglichkeiten.
In dieser Überforderungslage strapazierte Wilders seine Koalitionspartner Ende Mai mit einem 10-Punkte-Programm und forderte dessen Umsetzung »spätestens binnen weniger Wochen«. Für den Fall, dass die aus seiner Sicht nötigen Veränderungen nicht kommen, sagte Wilders über seine Partei PVV: »Dann sind wir weg.« In seinem Anti-Eliten-Gestus stellte er das Programm nicht als Gesetzentwurf oder Kabinettsvorlage vor, sondern auf einer Pressekonferenz. Er diskreditierte damit auch die eigene Ministerin, die für »das härteste Asylregime ever« angetreten war, aber mit dem Kabinett nicht geliefert hatte.
Er forderte u.a. Grenzschließungen für Asylsuchende, schärfere Grenzkontrollen und die Abschiebung verurteilter »Straftäter« mit doppelter Staatsbürgerschaft. So müssten etwa »Zehntausende Syrer« in ihr Land zurückkehren. Zur Zukunft der von Ministerpräsident Dick Schoof angeführten Vierparteien-Koalition sagte Wilders, die PVV sei seit Antritt der Regierung im vergangenen Jahr »sehr vernünftig« gewesen, nun würden jedoch »die Handschuhe ausgezogen«.
Vor der Parlamentswahl und in den Koalitionsgesprächen hatte Wilders noch generös und konsensorientiert auf die offen verfassungsfeindlichen Forderungen seines Wahlprogramms und auf einen Regierungsposten verzichtet. Die neue VVD-Vorsitzende Dilan Yeşilgöz-Zegerius schloss daraufhin eine Koalition mit ihm nicht mehr aus und legitimierte damit ein faktisch schon bestehendes Lagerdenken: hier die Linken unter Frans Timmermans (Grün-links und Partei der Arbeit arbeiten an einem Fusionsprojekt), dort ihre rechtsliberale Partei mit Wilders im Gepäck. Ihre Rechnung ging nicht auf, durch diese Frontbildung wieder die Oberhand des bürgerlichen Lagers zurückzugewinnen.
Und Geert Wilders ist derjenige, der das niederländische Poldermodell zerstört und das Freund-Feind-Denken mit aller Macht und mit den Möglichkeiten einer Regierungspartei etabliert. Im Fall der Migrationspolitik wollte er eine Art Notstandsverordnung verabschieden lassen, um am Parlament vorbei regieren zu können. Das hat bis jetzt wegen des Widerstands der Zivilgesellschaft nicht geklappt, aber auch dieser Gedanke ist ein Stück »normalisiert« (über 1.100 Priester, Rabbi, Imame hatten Anfang des Jahres eine Resolution gegen die PVV-Pläne im Koalitionsvertrag unterzeichnet und an die Regierung gesandt. Die Asylpläne seien nur zu vergleichen mit dem Umgang der Niederlande gegenüber den aus Deutschland geflüchtete Juden in den 1930er-Jahren).
Auch wenn vordergründig die sinkenden Umfragewerte von Wilders PVV der Anlass für seine jetzige Entscheidung gewesen sein sollten, so sind doch die fremdenfeindlichen, nationalistischen und Anti-Eliten-Vorbehalte, die vor allem BBB, PVV und NSC erstarken ließen, so virulent, dass sie bei geeigneter Ansprache jederzeit große Wähler*innenmassen aktivieren können.
Die Verunsicherung in der Bevölkerung ist durch die »MAGA«-Politik sicherlich gestiegen: Die Vereinigten Staaten sind der viertgrößte Exportmarkt der Niederlande. Wenn die USA die EU vollständig von Zöllen verschonen würden, dürfte das niederländische BIP-Wachstum im Jahr 2025 1,7% und im Jahr 2026 1,2% erreichen, so die Rabobank im März. Bei einer generellen Einführung von Zöllen in Höhe von 25 % würde das Wachstum jedoch auf 1,5% bzw. 0,7% sinken.
Auch die Inflation würde in beiden Jahren um zusätzliche 0,4 Prozentpunkte steigen, so die Rabobank. Ohne Zölle liegen die Schätzungen bei 3,6% bzw. 3,1% und damit deutlich über dem Zielwert von 2%. Die Volkswirte der Bank gehen davon aus, dass Brüssel mit ähnlichen Importzöllen reagieren würde, und haben die Auswirkungen der Zölle auf Kanada, Mexiko und China berücksichtigt. Die Auswirkungen schwanken allerdings je nach Sektor: Nach einer Untersuchung von ABN Amro-Bank würden sich die niederländischen Lebensmittelexporte in die USA im Wert von 2,3 Mrd. Euro im Jahr 2023 mehr als halbieren, wenn ein Einfuhrzoll von 25% vollständig an die Kund*innen weitergegeben würde. Die niederländische Regierung hatte bisher eine überzeugende Strategie vorgelegt, wie damit umzugehen ist.
Dennoch hatte sich die geplatzte Regierung noch darauf einigen können, die Ausgaben für nationale Verteidigung zu erhöhen aber die Neuverschuldung im laufenden Jahr auf 2,6% und 3% im kommenden zu begrenzen, finanziert durch Kürzungen beim Arbeitslosengeld und der Arzneimittel-Erstattung.
Gleichzeitig vertieft sich die soziale Spaltung. Die reichsten Niederländer (u.a. Formel-1-Pilot Max Verstappen, die C&A-Eigentümer-Familie Brenninkmeyer, die Familie der Brauer-Dynastie Heineken, Mitglieder des Königshauses) werden immer reicher, trotz der wirtschaftlichen Abschwächung im letzten Jahr. Das geht aus der neuesten Ausgabe der Liste der 500 Reichsten von »Quote« hervor.
Das Wirtschaftsmagazin »Quote« beziffert das Gesamtvermögen der 500 reichsten Niederländer*innen auf 252,7 Mrd. Euro, etwa 5% mehr als vor einem Jahr. Das liegt deutlich über dem Wirtschaftswachstum von 0,2% und der Inflationsrate von 4,1% im Jahr 2023, so das Magazin.