4. Oktober 2024 Bernhard Sander: Barniers erster Haushalt

Griechische Verhältnisse in Frankreich

Um der Linken möglichst jeden Einfluss auf die die Staatsgeschäfte zu verwehren, hat sich Ministerpräsident Michel Barnier von der Unterstützung des Rassemblement National (RN) abhängig gemacht.[1] RN braucht aktuell Erfolge, da neun ihrer EU-Abgeordneten, darunter die Fraktionsvorsitzende Marine Le Pen selbst, vor Gericht stehen, weil sie die Parteikasse durch fiktive Arbeitsverhältnisse aufgebessert haben.

Die Zeit drängt, die Mehrheit für den Haushaltsentwurf ist wichtiger als eine gewonnene Vertrauensfrage für das neue Kabinett. Wegen einer zu hohen Neuverschuldung, die der Premier jetzt mit 6,1% angibt (»Wenn nichts passiert, liegt sie im nächsten Jahr noch höher«), betreibt die EU-Kommission bereits ein Defizitverfahren gegen Frankreich. Das Ziel bleibt, die Neuverschuldung in Etappen wieder unter den europäischen Grenzwert von 3% zu bringen.

Bis zum 31. Oktober muss Paris bereits der EU-Kommission einen Plan zur Sanierung seiner öffentlichen Finanzen vorlegen. Es klafft aktuell ein Loch von 60 Mrd. Euro, um wenigstens auf 5% Neuverschuldung zu rückzugehen. Die Zusage, bis 2027 auf 3% zu senken, gab Barnier in seiner Haushaltsrede endgültig auf. Die neue Zielmarke ist nun 2029.

»In den sieben Jahren, in denen sie an den Schalthebeln der Macht sitzen, haben Emmanuel Macron und sein Wirtschaftsminister Bruno Le Maire das Land gegen die Wand gefahren: eine um mehr als eine Billion Euro gestiegene Verschuldung, ein Staatsdefizit von mehr als 6%, eine schwächelnde und unausgewogene Handelsbilanz, eine nationale Zinsrate, die höher ist als die Spaniens – und bei einer Laufzeit von 10 Jahren auch höher als die Griechenlands –, eine über ein Jahrzehnt anhaltende Stagnation der Industrieproduktion und zuletzt eine Rückkehr der steigenden Arbeitslosenkurve« – so lautet die Bilanz der Zeitschrift regards.[2]

Barnier verlässt angesichts der Haushaltsnot die Leitlinie des Notenbankpräsidenten (4/5 des Volumens durch Einsparungen zu erwirtschaften) und erklärte, dass angesichts der Schuldenlast zwei Drittel der Sanierungsbemühungen durch Ausgabenkürzungen erreicht werden sollen. Er wies dann auf die »Notwendigkeit« hin, »Steuerbetrug zu bekämpfen« und »Sozialbetrug zu bekämpfen«. Laut Rechnungshof beläuft sich der geschätzte Betrag des Steuerbetrugs jedoch auf fast 100 Mrd. Euro, während der Betrug bei Sozialleistungen auf 2,3 Mrd. Euro geschätzt wird.

Staatspräsident Macron stimmte öffentlich einer »außergewöhnlichen« Besteuerung für große Unternehmen zu, meint aber, dass sie »begrenzt« sein müsse. Auf einem Forum in Berlin am Tag nach der politischen Erklärung von Michel Barnier meinte der Staatschef, dass eine »außergewöhnliche Besteuerung von Unternehmen«, wie von der Regierung angekündigt, eine Tatsache sei, die »von den großen Unternehmen gut verstanden« werde.

Es kursiert eine vorläufige Maßnahmenliste, die aber den Einspar-Zielen in Summe nicht gerecht wird. In Summe sollen 20 Mrd. Euro mehr eingenommen werden, was nach Barniers Faustformel auf Haushaltsstreichungen um 40 Mrd. Euro hinausliefe:

  • Eine einmalige Sonderabgabe in Höhe des Körperschaftsteuersatzes von 33,5% könnten acht Mrd. Euro in die Staatskasse fließen lassen.
  • Die Einführung einer Steuer auf Aktienrückkäufe bei Unternehmen mit einem Jahresumsatz oberhalb von einer Mrd. Euro könnten 200 Mio. Euro erbringen. 2023 hatten die im Index CAC40 notierten Konzerne Aktien im Wert von rd. 30 Mrd. Euro zurückgekauft, um mit dieser Angebotsverknappung den Wert ihrer Unternehmen zu steigern.
  • Die Ausbildungsbeihilfe für KMU könnte gestrichen werden, um so eine Mrd. Euro zu sparen.
  • Käufer*innen von SUVs sollen eine um 10.000 Euro höhere Strafabgabe zahlen, was zwar einen steuernden Effekt gegen die CO2-Schleudern haben, aber auch die Absätze in dem attraktiven Exportsegment schmälern könnte.
  • Der »außerordentliche« Beitrag zur Sanierung der öffentlichen Finanzen, den die Regierung von den »wohlhabendsten« Franzosen (Jahreseinkommen pro Kopf netto 83.000 Euro) im Rahmen des Haushaltsentwurfs 2025 verlangen wird, wird 0,3% der Haushalte betreffen, d.h. 65.000 Steuerhaushalte.

Überarbeiten möchte Barnier die umstrittene Rentenreform von Macron, die im Frühjahr 2023 zu landesweiten Protesten geführt hatte. Der Premier ließ dabei offen, ob er die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre wieder zurücknehmen werde.

Wichtig sei, »den Dialog wiederaufzunehmen«, sagte Barnier. »Bestimmte Grenzen« der Reform »können korrigiert werden«. Allerdings müsse darauf geachtet werden, dass das die Nachhaltigkeit des Rentensystems in Frankreich bewahrt werde. Barnier bekannte sich ferner dazu, die Kaufkraft zu stärken. Als eine Maßnahme kündigte er an, den gesetzlichen Mindestlohn zum 1. November um 2% zu erhöhen.

Der Rechnungshof, der per Generalvollmacht und nicht durch Einzelbeschluss der Regierung oder der Nationalversammlung damit beauftragt ist, Einsparungen zu ermitteln, um das öffentliche Defizit in Einklang mit den europäischen Vorgaben zu bringen, legt gleich nach: Gebietskörperschaften (Gemeinden, Departements, Regionalverwaltungen) sollten die Zahl ihrer Beschäftigten wieder auf das Niveau von 2010 zurückzusetzen. Konkret würde dies den Abbau von 100.000 Stellen und 4,1 Mrd. Euro Einsparpotenzial bis 2030 bedeuten.

Die Einwände gegen die geplanten Einnahmeverbesserungen, die bei 27 Abgeordneten im Präsidentenlager als unzumutbar angesehen werden, beziehen sich auf die Grundlinien Barniers. Vier Abgeordnete von Renaissance sind zu Horizons gewechselt. Der ehemalige Innenminister, Gérald Darmanin, kritisierte: »Das Geld der Reichsten fließt in die Wirtschaft und darf nicht in die öffentlichen Kassen fließen.« Er kündigte an, dem Haushalt seine Zustimmung zu verweigern. Ähnlich ließ sich der bisherige Premier Attal zitieren.

Die Steuererhöhungen treffen nicht die soziale Basis des RN, sie kann daher ihr Wohlwollen demonstrieren, um ihr Anti-Migrantenprogramm bei der Regierung Barnier auf der Tagesordnung zu halten. Barnier belohnt das Wohlverhalten mit Entgegenkommen in Migrationsfragen und in der inneren Sicherheit: Er kündigte in seiner Regierungserklärung einen härteren Kurs bei der Inneren Sicherheit sowie der Migration an. Frankreich habe über die Einwanderung »nicht mehr in zufriedenstellendem Maße die Kontrolle«, sagte er. Ausreisepflichtige Migrant*innen müssten schneller ausgewiesen und auch in Haft genommen werden können. Länder, die ihre Staatsangehörigen nicht zurücknehmen, sollten mit Visa-Beschränkungen bestraft werden. »Mehr ausweisen, weniger regularisieren« ist die Devise des neuen Innenministers Bruno Retailleau.

Barnier sprach sich auch für weitere Diskussionen über »die Schaffung eines Verfahrens des sofortigen Erscheinens vor Gericht für jugendliche Straftäter über 16 Jahre aus, die der Justiz bereits bekannt sind und wegen schwerer Handlungen gegen die körperliche Unversehrtheit von Personen verfolgt werden«. Er möchte »die Bedingungen für die Gewährung von Bewährungsstrafen überarbeiten und die Möglichkeiten der Strafminderung oder -anpassung einschränken«.

Aber auch die bürgerliche Mittelschicht ist mit dem konfrontiert, was die Republik und die Volksverbundenheit mit ihr zum großen Teil begründet: Die öffentliche und kostenlose Bildung, das öffentliche und kostenlose Gesundheitswesen und die öffentliche Sicherheit gehören zu den größten Ausgabenposten. Aber ist es in dieser Zeit noch undenkbar, eine Kürzung dieser Ausgaben unter dem auch in Frankreich allseits beliebten Schlachtruf des »Bürokratieabbaus« in Betracht zu ziehen? Die Linke ahnt das, diskutiert aber darüber nicht konstruktiv.

Auf der Linken divergieren die Einschätzungen des Haushaltes. Während die Abgeordneten von La France insoumise (LFI) in der Nationalversammlung nach Kräften die Rede Barniers zu stören versuchten, befindet die den Sozialisten nahe stehende Zeitschrift Politis: »Ohne weitreichende politische Ankündigungen wählt der neue Premierminister mit einer sehr unsicheren parlamentarischen Mehrheit den Weg des Stillstands. Dies ermöglicht es ihm, dank des Wohlwollens der extremen Rechten den Kopf über Wasser zu halten.«

Der Protest auf den Plätzen und Straßen in rd. 180 Orten enttäuschte die Gewerkschaften (170.000 Teilnehmende laut Gewerkschaft CGT). »Es war keine Mobilisierung, die dem entspricht, was sie sein sollte«, räumt Julie Ferrua aus dem Leitungsgremium von Solidaires (SUD) ein. Sophie Binet ist sogar »besorgt, eine große demokratische Müdigkeit an den Arbeitsplätzen festzustellen«.

Die Gewerkschaftseinheit sei durch diese Manifestation gestärkt worden, glaubt die CGT-Vorsitzende, die Zusammenarbeit (mit CFDT, FO) müsse aber ausgebaut werden. »Die Rentner sind die ersten, die unter dem Rückgang der öffentlichen Dienstleistungen leiden«, erläutert Sophie Binet, »insbesondere was den Zugang zur Gesundheitsversorgung betrifft«. Man wolle von Tag Eins an die Erhöhung der Renten, die Abschaffung der Reformen in der Arbeitslosen- und in der Rentenversicherung fordern. Letzteres ist vor allem deswegen wichtig, weil RN gleiches fordert, aber derzeit der Regierung Barnier wegen ihrer Migrationspolitik die Stange hält.

Die politische Linke will diesen Protest aufgreifen, müsse sich aber endlich den fiskalischen Realitäten stellen, dämmert zumindest einem Teil des intellektuellen Umfeldes: »Auf der Linken beruht das Hauptargument zur Beantwortung dieser Schuldenfrage, die allzu oft beiseitegeschoben wird, auf Steuererhöhungen für die Wohlhabenden und für die Unternehmen, die die höchsten Profite machen. Es geht hier nicht darum, zu sagen, dass dies unnötig oder nicht einmal notwendig ist (›tax the rich‹ muss eine zentrale Losung unserer Kämpfe bleiben), aber es darf uns nicht davon befreien, über Wege und Mittel nachzudenken, um besser als heute eine kostenlose Bildung für alle von hoher Qualität, ein kostenloses und für alle wirksames Gesundheitswesen und eine öffentliche Sicherheit in unmittelbarer Nähe der Bevölkerung zu gewährleisten. Die Steuerbereitschaft wird von den Franzosen trotz der hohen Abgabenquote nicht in Frage gestellt, solange die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen, d. h. dessen, was man kollektiv beschlossen hat, stimmt: ›Überall und für alle‹.«[3]

Ein erster Misstrauensantrag von LFI gegen das Kabinett Barnier ist gescheitert. Am 10. Oktober beschließt das Kabinett den konkreten Haushaltsentwurf; die Debatte in der Nationalversammlung wird zeigen, ob das Damokles-Schwert über Barnier fällt.

LFI stellte umgehend und erfolglos einen Misstrauensantrag gegen das Kabinett Barnier. Das gab Marine Le Pen Gelegenheit, ihre »verantwortungsvolle Entscheidung, sich zu weigern, die Regierung a priori zu zensieren« zu demonstrieren, indem sie ihren »Geist der Offenheit« hervorhob, ohne »Blankoscheck«. Sie würdigte Barniers »natürlichen Sinn für Höflichkeit« und seinen »angeborenen Respekt vor Menschen, auch vor Gegnern«. Im selben Moment blieb RN hart: »Wir fordern Sie auf, [...] ab dem ersten Quartal 2025 ein restriktives Einwanderungsgesetz auf die Tagesordnung zu setzen, das mindestens die vom Verfassungsrat zensierten Bestimmungen enthält«, wandte sich die Chefin der RN-Abgeordneten an den Premierminister. Le Pen zählte diese Forderung zu den »roten Linien«, die ein Misstrauensvotum ihrer Fraktion gegen die Regierung begründen könnten.

Anmerkungen

[1] Indirekt verweist er mit einem historischen Vergleich darauf, was für die Bürgerlichen auf dem Spiel steht: Er hielt seine Antrittsrede nach seiner eigenen Beschreibung vor »einer Nationalversammlung, die so gespalten ist wie seit 1958 nicht mehr, in der keine politische Partei allein oder mit ihren Verbündeten die absolute Mehrheit hat«. Damals ergriff De Gaulle die Macht und etablierte eine Verfassung des »permanenten Staatsstreichs« (Francois Mitterand). Der neue Mieter von Matignon will unter Berufung auf einen seiner Vorgänger, den Sozialdemokraten Michel Rocard, den »Dialog und die Kultur des Kompromisses zu einem Regierungsprinzip« machen. Mit dem Parlament, den politischen Kräften, den lokalen Gebietskörperschaften, den Sozialpartnern und den Überseegebieten »brauchen wir Zuhören, Respekt und Dialog«, betonte er. Eine hintergründige Kritik an der Art und Weise, wie die Macronie regierte, die oft als abgehoben und herablassend empfunden wird.
[2]  Quelle der Grafiken: https://regards.fr/deficit-public-les-taux-se-resserrent/#7f0281ea-4257-47b4-8e03-370ffa6b05a8-link compte X de Frederik Ducrozet, responsable de la recherche macroéconomique, Pictet Wealth Management
[3] Pablo Pillaud-Vivien, Barnier et la dette : vrai problème, mauvaises solutions https://regards.fr/barnier-et-la-dette-vrai-probleme-mauvaises-solutions/.

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