28. Oktober 2019 Joachim Bischoff/Gerd Siebecke: Die Landtagswahl in Thüringen

Großartiger Wahlsieg der LINKEN

Foto: DIE LINKE.Thüringen, Flickr

DIE LINKE hat mit ihrem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow bei der Landtagswahl in Thüringen einen großartigen Wahlsieg errungen und wurde zur stärksten Partei. Sie erreichte bei einer von 52,7% auf 64,9% gestiegenen Wahlbeteiligung einen Stimmenanteil von 31% und legte damit noch einmal um 2,8% zu. Zudem konnte sie zwei zusätzliche Direktmandate (insgesamt 11) erringen und ist jetzt mit 29 Abgeordneten im Landtag vertreten.

Die CDU kam auf 21, 8% und hat mit einem Minus von 11,7% einen beträchtlichen Teil ihrer Wählerschaft verloren. Sie ist nurmehr drittstärkste Partei.

Die AfD, die 2014 erstmals antrat, konnte ihren Stimmenanteil von damals 10,6% auf nunmehr 23,4% mehr als verdoppeln und wird mit 22 Abgeordneten im Landtag vertreten sein. Ihr Spitzenkandidat und Fraktionsvorsitzender, Björn Höcke, zugleich der politische Kopf des völkisch-nationalistischen, rechtsextremen Flügels dieser Partei, ist – neben den Vorsitzenden der ostdeutschen Landesverbände Sachsen und Brandenburg – inzwischen auch bundesweit ein gewichtiger Faktor der neuen Rechtspartei.

Die Grünen haben – wie schon in den vorhergehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland – ihr politisches Gewicht nicht erhöhen können, verloren 0,5% und überwanden die 5%-Hürde mit 5,2% nur knapp. Die Sozialdemokraten müssen mit -4,2% noch einmal deutliche Stimmenverluste verarbeiten und blieben mit 8,2% einstellig. Die FDP hat mit einem äußert knappen Ergebnis von 5,0% den Wiedereinzug in den Landtag geschafft.

Wie schon vor Wochen in den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg hat die Polarisierung zwischen der größten Regierungspartei und der AfD dazu beigetragen, dass alle anderen Parteien (außer der FDP) verlieren.

DIE LINKE hat im Unterschied zu Sachsen und Brandenburg sehr gut abgeschnitten und ihr Stimmenergebnis noch ausbauen können – nicht zuletzt deshalb, weil sie mit dem Ministerpräsidenten auf einem schwierigen sozio-ökonomischen Terrain in den letzten fünf Jahren einiges bewegt hat. Dazu gehört, dass sie als politische Kraft die Gegnerschaft gegen eine Systemveränderung von rechts bündeln konntet.


Aufwertung des völkisch-nationalistischen »Flügel«

Erneut hat bei einer ostdeutschen Landtagswahl fast ein Viertel der Wähler*innen ihr Kreuz bei der AfD gemacht. Innerhalb kürzester Zeit konnte sich die erst vor sechs Jahren gegründete Rechtspartei flächendeckend in Ostdeutschland als politisches Schwergewicht festsetzen. Der Erfolg stützt sich auf kommunale Verankerung und zeigt sich in allen ostdeutschen Landtagen. Noch nie im Nachkriegs-Deutschland haben die Rechten so viel parlamentarische Präsenz gehabt, noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg hat überhaupt eine neue Partei einen derart rasanten Aufschwung erlebt.

Während früher die PDS und später DIE LINKE als führende Interessenpartei der Ostdeutschen galt, so hat sie diesen politischen Titel schrittweise – mit der Ausnahme von Thüringen – verloren. Das Thüringer Ergebnis wird von der AfD parteiintern als Stärkung des völkisch-nationalistischen Flügels gewertet. Woher kommt die Stärkung dieses Weltbildes?

Laut Umfragen beurteilt eine Mehrheit der Wahlberechtigten die wirtschaftliche Lage in Thüringen positiv. 34% finden, dass sich die Lebensumstände im Land in den vergangenen Jahren verbessert hätten, 51% sehen keine Veränderung und lediglich 13% sprechen von einer Verschlechterung. Trotzdem haben 70% der Bürger*innen im Osten auch nach Jahrzehnten der staatlichen Einheit das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein.

In Thüringen lebt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern, die Existenzbedingungen des Großteils sind durch ländliche Lebensbedingungen geprägt. In nahezu allen Wahlkreisen sank zudem die Zahl der Wahlberechtigten seit 2014. An der fehlenden bzw. mangelhaften Infrastruktur, Lohnunterschieden und prekärer Arbeit hat sich seit der Wende insgesamt wenig zum Besseren verändert. In diesen Zusammenhang muss eingeordnet werden, dass das Projekt der kommunalen und regionalen Neuordnung von der rot-rot-grünen Regierungskoalition nicht umgesetzt werden konnte.

Die Linke insgesamt hat seit geraumer Zeit Schwierigkeiten, dieser Unzufriedenheit im politischen Raum eine Stimme zu geben und die Problemlagen zuzuspitzen, die vielen unter den Nägeln brennen. Diese politische Schwachstelle hat die AfD aufgegriffen. Ihre Erzählung für den Osten lautet: »30 Jahre nach der friedlichen Revolution und der politischen Wende in Ostdeutschland ist der Wille zur Veränderung in großen Teilen der Bevölkerung zu spüren. Damals gingen zigtausende Menschen in der DDR auf die Straße, um friedlich gegen das totalitäre SED-Regime zu protestieren und einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Sie wollten die Freiheit und bekamen Altersarmut, Bildungsexperimente und eine Öko-Diktatur.«[1]

Die AfD knüpft an den Transformationsschock an und holt einen Großteil der Ostdeutschen bei ihrer Umbruchserfahrung ab. Nichts hat seit der Wende die Wunden zwischen Ost und West wieder so aufgerissen wie die Erfolge der Rechten. Unbestritten ist, dass die tiefsitzende Wut auf das politische Establishment auch in Westdeutschland eine soziale Basis oder einen Nährboden hat. [2]

Diese Wut – wenn auch ungleich ausgeprägt in Ost- und Westdeutschland – ist die Grundlage für den zügigen Aufstieg des neuen Rechtsradikalismus, der sich in anderen kapitalistischen Ländern längst ausgebreitet hat und zum Teil hoffähig geworden ist. Die Anhänger*innen und Wähler*innen interessieren sich nicht so sehr für die Positionen der rechten Partei. Sie wählen sie nicht wegen ihrer Antworten auf landesspezifische Probleme.

Wir haben es nicht mit einer kurzzeitigen Protesterscheinung zu tun, sondern mit einer rechtsradikalen Systemkritik, die die demokratische Ordnung der kapitalistischen Gesellschaft formell respektiert, zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend infrage stellt: Das Land soll zurückgeholt werden, indem die bisherige politische Klasse entmachtet und der »große Bevölkerungsaustausch« umgekehrt wird.

Björn Höcke etwa greift den vermeintlichen »Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch« an. Als zentrales Ziel fordert er als großes Remigrationsprojekt eine Säuberung Deutschlands von »kulturfremden« Menschen. Aus der gescheiterten Willkommenskultur in der Migrationspolitik müsse endlich eine »Verabschiedungskultur« werden. Mit einer AfD-Regierung werde es ein großes Aufräumen geben: »Wir wollen diese Zustände nicht haben.« Schluss also mit verwahrlosten Innenstädten, Drogenkonsum, Vereinsamung, Zusammenrottungen von Jugendlichen, Korsos auf den Autobahnen. Die Familie müsse wieder im Mittelpunkt der Politik stehen – in Thüringen ebenso wie in ganz Deutschland.

 

Ein Teil der AfD-Wähler*innen sympathisiert offen mit diesen rechtsradikalen Anschauungen, andere denken, sie könnten Höcke als Randerscheinung ignorieren, wiederum andere übersehen die innerparteilichen Wirren des »gärigen Haufens« und wählen »den Wechsel«, in der Hoffnung, dass das, was da kommen wird, auf jeden Fall besser sei als das, was ist.

Die skandalösen Auffassungen in der AfD werden von den Medien breit abgehandelt – von der völkischen »Erfurter Resolution« über Alexander Gaulands »Vogelschiss-Äußerungen« und Höckes Bewertungen des Berliner Holocaust-Mahnmal bis zu den von der AfD angeführten rechtsradikalen Krawallen in Chemnitz –, lösen im politischen Raum jedoch wenig Distanzierungen unter den Anhängern aus. Einstellungsstudien zeigen darüber hinaus, dass Rassismus, Islamfeindlichkeit und Antisemitismus in der Wählerschaft und dem Funktionärskörper der Partei weit verbreitet sind.

Es soll gar nicht bestritten werden, dass Wähler*innen ihre Stimmabgabe zugunsten der AfD eher als Protest gegenüber anderen Parteien und der Politik überhaupt verstanden wissen wollen. Gleichwohl gründet das Wahlvotum für die AfD auf der mehr oder minder vagen Vorstellung eines rechten Weltbildes. Sie wird als rechtsradikale Partei gewählt und ein großer Teil der Wähler*innen trägt die völkisch-nationalistische Ausrichtung mit.


Das rot-rot-grüne Projekt

Die Vertreter*innen der bisherigen rot-rot-grünen Regierungskoalition haben im Wahlkampf mit der massiv reduzierten Arbeitslosigkeit, der Bekämpfung der Abwanderungstendenzen argumentiert und auf die gelungenen Anstrengungen zur Verbesserung der kommunalen Infrastruktur (Kita, Bildung, Gesundheit, Pflege) verwiesen. Bodo Ramelow hat am Wahlabend sein Bedauern darüber ausgesprochen, dass die geräuschlose und erfolgreiche Zusammenarbeit der Koalitionspartner sich in den Wahlergebnissen für die SPD und die Grünen nicht wiederspiegelt.

Statt einem geplanten gibt es zwei beitragsfreie Kita-Jahre. Dank der vergleichsweise guten konjunkturellen Entwicklung standen Rot-Rot-Grün fünf Mrd. Euro mehr zur Verfügung als der Vorgängerregierung. Die Mittel wurden in Investitionen vor allem in die Infrastruktur zu lenken versucht, auch wenn vor allem die Baukapazitäten für das Förderangebot oft nicht ausreichten (von 400 Mio. Euro für die Sanierung von Schulen beispielsweise wurden bislang lediglich 220 Mio. abgerufen). Und es wurden Privatisierungstendenzen bei der Daseinsvorsorge umgekehrt – so etwa die rund 70 Mio. Euro teure Übernahme von 5.000 Geraer Wohnungen in Landeseigentum.

In der Tat steht Thüringen steht im Vergleich zu anderen ostdeutschen Bundesländern ökonomisch gut da, selbst wenn die ostdeutsche Wirtschaft insgesamt in diesem Jahr deutlich kräftiger wächst als im Bundesschnitt. Nach der Herbstprognose soll es 2019 im Osten (inklusive Berlin) ein Plus von 1,0% geben (für ganz Deutschland erwarten die Forscher ein Plus von 0,5%). Aber es gibt nach wie vor gravierende Defizite: vor allem der verbreitete Niedriglohn mit den Konsequenzen für niedrige Renten und die gerade für ein überwiegend ländliches Bundesland heruntergewirtschaftete öffentliche Infrastruktur.

Es ging und geht also auch in Zukunft darum, die Situation der Leute zu verbessern, die sich allein gelassen, benachteiligt und von der Politik verraten fühlen. Wenn drei Viertel in den ostdeutschen Bundesländern den Eindruck haben, dass die Politik die Interessen der ländlichen Regionen unzureichend im Blick hat, dann muss man dafür sorgen, dass diese strukturschwachen Gebiete besser versorgt werden.

Angesichts der Verluste von SPD und Grünen hat die bisherige Regierungskoalition trotz der Zugewinne der Linkspartei keine Mehrheit im Thüringischen Landtag. Der eindeutige Wähler*innenauftrag an Bodo Ramelow zur Regierungsbildung wird schwierig umzusetzen sein. Die Thüringer Verfassung bietet zwar die Möglichkeit, dass die bisherige Regierung geschäftsführend im Amt bleibt, bis ein neuer Ministerpräsident gewählt wird, aber eine Dauerlösung kann das nicht sein.

Deshalb war es ein kluger und richtiger Hinweis des bisherigen und auch zukünftigen Ministerpräsidenten am Wahlabend, dass nunmehr noch stärker auf basisdemokratische Elemente im Parlament gesetzt werden müsse: »Lasst uns doch auch mal ausloten, was es an gemeinsamer Kraft im Parlament gibt.« In Thüringen habe man es in den letzten fünf Jahren immer wieder geschafft, »über scheinbare parteipolitische Gräben hinweg« in entscheidenden Fragen an einem Strang zu ziehen.


Was kann von Thüringen gelernt werden?

Während das liberale Milieu der urbanen Zentren verständnislos beobachtet, wie sich der Osten teilweise einer rückwärtsgewandten und männlich dominierten Frust-Partei hingibt, die offen völkische und nationalistische Ideen gutheißt, muss genauer hingeschaut werden. Denn die Probleme in abgehängten Regionen des Ostens und Westens sind sich recht ähnlich. Rechtspopulismus ist keine Ostmode, sondern eine besonders im Osten starke rechte Rebellion gegen tiefgreifende Veränderungen, die unsere gesamte Gesellschaft seit Längerem durchmacht.

Deutschland leidet unter einem gewaltigen Gestaltungsstau. Es rächt sich, dass die etablierten Parteien jahrelang den Prozessen wie Globalisierung, Digitalisierung und Migration zu wenig Gestaltung aufgezwungen haben. Unter dem Regime von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist zwar bei eher niedrigen Wachstumsraten und teilweise verbunden mit schmerzhaften Sozialkürzungen eine deutliche Erhöhung des Arbeitskräftepotenzials der Republik erreicht worden. Eine gesunkene Investitionsquote, der deutlich ausgeweitete Niedriglohnsektor und eine erhebliche Absenkung bei dem Niveau der Alterssicherung – diese Resultate der Logik neoliberaler Strukturreformen wurden durch Ausweitung der Beschäftigung kompensiert. Aber das Programm des Laissez-faire zerstört gesellschaftliche Strukturen und überlässt Teile der Bevölkerung sich selbst.

Insofern müssen insgesamt Konzeptionen zur Gestaltung der zukünftigen Gesellschaft entwickelt sowie offensiver und konkreter vertreten werden: Es geht um mehr Investitionen in abgehängten Regionen, mehr Engagement für Schulen, mehr Fortschrittsteilhabe durch großflächige Digitalisierung.

Von den Ergebnissen in Thüringen könnte das Signal ausgehen, dass es eine Möglichkeit gibt, die zersplitterte Linke in Deutschland über alle Gräben hinweg in einem Regierungsbündnis zu sammeln. Und zwar unter verantwortungsvoller Führung der Linkspartei. Eine gesellschaftliche Reformkoalition könnte auch auf Bundesebene die ökonomische Stagnation, den politischen Stillstand und die latente Gefahr einer weiteren Ausbreitung des Rechtspopulismus beenden.

Der weitere Verlauf des reformorientierten Politikansatzes in Thüringen kann zudem zeigen, in welche Richtung sich die Linkspartei entwickeln sollte. Denn wenn es der Partei nicht bald gelingt, auch auf Bundesebene Vorschläge auf den Tisch zu legen, die zur Überwindung der gegenwärtigen Fehlentwicklung der Berliner Republik beitragen, wird sie außerhalb von Thüringen, Berlin und Bremen mehr und mehr in die politische Bedeutungslosigkeit absinken.

Anmerkungen

[1] Thüringenpost der AfD zur Landtagswahl.
[2] Siehe hierzu ausführlicher Dieter Sauer/Ursula Stöger/Joachim Bischoff/Richard Detje/Bernhard Müller, Rechtspopulismus und Gewerkschaften. Eine arbeitsweltliche Spurensuche, Hamburg 2018; sowie Joachim Bischoff, Eine kritische Theorie des neuen Rechtsradikalismus. Was eine Analyse von Theodor W. Adorno für uns bedeutet, in: Sozialismus.de, Heft 9-2019, S. 26ff.

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