3. März 2020 Björn Radke/Gerd Siebecke: Die Strategiekonferenz der LINKEN in Kassel

Große Vielfalt, wenig Neuausrichtung

Foto: Martin Heinlein (flickr.com/photos/die_linke)

Im Oktober 2019 hatte der Parteivorstand der Linkspartei zu einer Strategiekonferenz nach den Hamburger Bürgerschaftswahlen in Kassel eingeladen. »Die Konferenz soll die Diskussion qualifizieren, wie die Partei sich weiter inhaltlich profilieren soll, wie ihre Zielgruppen definiert sind und wie die Parteientwicklung vorangebracht werden soll.«

Und es war vorgesehen, dass »die Konferenz keine Beschlüsse fassen, sondern strategische Vorstellungen zur Diskussion stellen und auch personell verknüpfen [soll]. Gemeinsamkeiten und Kontroversen in strategischen Orientierungen und personellen Angeboten sollen vor dem anstehenden Bundesparteitag im Juni 2020 in der Strategiekonferenz ein Forum bekommen.«

Die Vorgaben der Parteiführung beschränkten sich auf einige Dutzend Fragen, zu diesen gehörten: »Wie beschreibt ihr den aktuellen gesellschaftlichen Umbruch und wie seht ihr hierbei unsere Rolle als Partei? Wie können wir die Gesellschaft verändern? Wie ist eure Vision, mit der ihr Menschen ansprecht. Wie setzen wir Veränderungen durch? Und können wir das – mehr oder weniger – mit einer Stimme tun? Wie verbinden wir über die Spaltung von Klassen hinweg und spielen nicht die einen gegen die anderen (Gruppen, Milieus, Beschäftigtengruppen) aus? Wie sieht heute eine realistische und an die Wurzel der Probleme gehende linke Politik für Klimagerechtigkeit und anderes Wirtschaften, für Frieden und globale Solidarität aus?«

Schon die Resonanz war überraschend: Nahezu 250 schriftlich eingereichte Diskussionsbeiträge wurden in einem Reader zusammengefasst und sollten die vertiefte Grundlage für einen offenen Meinungsaustausch in Kassel werden.

Bereits im Laufe des Jahres 2019 hatte die gesellschaftliche Umbruchsituation reichliche Kontroversen in der Partei ausgelöst. Der chronische Niedergang der Sozialdemokratie und die keinesfalls berauschenden Ergebnisse der Europawahlen wurden gewürzt durch Aufstieg und Niedergang der Bewegung »aufstehen« und heftige Debatten über die gesellschaftliche Resonanz der neuen Rechten in Europa und der Berliner Republik.

In der Folge der Bremer Bürgerschaftswahlen kam es erstmals in einem westdeutschen Bundesland zu einer Regierungsbeteiligung mit den wenig geliebten Parteikonkurrenten SPD und Grünen. Aber diese grob skizzierte Umbruchsituation wurde in den nachfolgenden Monaten weiter getoppt durch das Wahlergebnis in Thüringen mit einem nachfolgenden politischen Patt, was zu einer heftigen innerparteilichen Krise der CDU sowohl in Thüringen wie auf Bundesebene führte.

Durch den politischen Coup der AfD in Erfurt wurde das gesamte Parteiensystem gründlich erschüttert mit keinesfalls überschaubaren Auswirkungen auf eine Nach-Merkel-Ära. Angesichts dieses immensen Problemgebirges ist die mit rund 450 Anwesenden hohe Teilnehmer*innenzahl der Strategiekonferenz eine beachtliche Leistung und Ausdruck einer großen Debattenbedarfs.

Die Konzentration auf den roten Faden für die Überprüfung und Weiterentwicklung einer linkssozialistischen Partei war in Kassel vom 29.2. bis 1.3. angesichts der aufgestauten Probleme des gesellschaftlichen Umbruchs nicht zu erwarten – und auch nicht zu leisten. Bemerkenswert war, dass die früher prägende Dominanz der innerparteilichen Strömungen die Kontroversen nicht blockierte. Vertreter der Bewegungslinken, der Antikapitalistischen Linken, der kommunistischen Plattform und verschiedener anderer Strömungen konnten ausführlich ihre eher fundamentalistische Kritik am Parlamentarismus und Regierungsbeteiligungen entwickeln, während die angedeuteten Aussichten auf eine Verschiebung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses durch Oppositionsarbeit im Vagen verblieben.

Die Anhänger eines radikalen Reformismus, die auf ihre positiven wie negativen Erfahrungen im Regierungsapparat zurückgreifen konnten – wie der frühere Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf,[1] die Fraktions- und Parteichefin in Thüringen Susanne Hennig-Wellsow und Bodo Ramelow – unterstrichen nachdrücklich die ökonomisch-ökologische Gefährdungslage des bundesdeutschen Kapitalismus sowie die Blockaden, die sich aus der sich abzeichnenden Polarisierungstendenz in der gesellschaftlichen Willensbildung ergeben.

Sie plädierten dafür, die Chancen eines »grundlegenden Systemwechsels« angesichts der durch den neoliberalen Finanzmarktkapitalismus »deformierten Demokratie« und der durch ihn maßgeblich verursachten »ökonomisch-ökologischen Doppelkrise« aufzugreifen. Deshalb sollte die Linke jetzt den »Kampf um linke Mehrheiten aufnehmen«. Die jüngste politische Krise in Thüringen gebe die Richtung für die Strategieentwicklung vor: »Nur auf der Grundlage einer breiten gesellschaftlichen Mobilisierung werden wir in der Lage sein, die Kräfteverhältnisse zu verschieben, und nur so können wir SPD und Grüne zu einer anderen Politik bewegen.«

Dafür sei es auch nötig, das Gemeinsame aller progressiven Kräfte herauszuarbeiten. Für die Gewinnung von Mieterinitiativen, der feministische Bewegung und der für Klimagerechtigkeit, Flüchtlingssolidarität oder antifaschistische und antirassistische Initiativen zur Beteiligung an einem solchen Projekt werde DIE LINKE gebraucht. Dabei geht es nicht allein um Mehrheiten in den Parlamenten, sondern vor allem um die Formierung breiter gesellschaftliche Bündnisse.

Scharf widersprochen wurde diesem Plädoyer für einen radikalen Reformismus durch zahlreiche Vertreter*innen in Kassel, die sich als Stimme der »Basis« präsentierten. Es sei ein Mythos, dass über Regierungsbeteiligungen ökonomisch-ökologische Projekte gegen das Kapital durchgesetzt werden könnten. Regierungsbeteiligungen würden zum Wert an sich: »Wenn wir in einer Bundesregierung sind, wird die Bewegungsorientierung Makulatur sein.« Die Botschaft der Fraktionsvorsitzenden im hessischen Landtag und stellvertretenden Parteivorsitzenden Janine Wissler lautete: »Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott und auch kein linker Minister.« Entscheidend sei die Solidarität der Linken mit Basisinitiativen, aktuell insbesondere mit der Friedensbewegung.

Über dieser Neuauflage der etwas älteren Kontroverse geriet die Auseinandersetzung und Verständigung über den aktuellen Krisencharakter des finanzgetriebenen Kapitalismus zur Nebensache. Unbefriedigend blieb daher auch der Versuch, das Thema eines linken Green New Deal in der strategischen Ausrichtung stark zu machen. Ein Green New Deal mit linken Akzenten beinhaltet keine vereinzelten Klimaschutzmaßnahmen, sondern fordert nicht weniger als eine ökologische Transformation der gesamten Industrie. Die Diskussion über einen SystemChange blieb in Kassel und bleibt auch sonst häufig in Details stecken. Unter den Tisch fällt dabei ebenfalls der Gesichtspunkt, dass die Systemkritik von rechts jeden Ansatz der Transformation von Wirtschaftsstrukturen vermissen lässt.

Die Strategiekonferenz vermittelte einen Eindruck über die innerparteiliche Bandbreite der Diskussion. Ein Konsens in Richtung der Weiterentwicklung oder gar Neuausrichtung der linkssozialistischen Partei zeichnete sich nicht ab. Es ist für die Parteiführung nach Kassel nicht einfacher geworden, aus der Hin- und Herwälzung des großen Problemgebirges die Punkte und Argumente herauszuarbeiten, die für die weitere politische Entwicklung Leitschnur sein könnten.

Anmerkung

[1] Siehe hierzu dessen Einleitungsbeitrag Wir leben in einer Zeitenwende auf Sozialismus.de vom 2.2.2020

Zurück