9. Januar 2022 Redaktion Sozialismus.de: Unruhen in Kasachstan und ihre Hintergründe

»Großvater, tritt ab!«

Nursultan Nasarbajew

Seit Tagen kommt es in Kasachstan zu massiven Protesten. Auslöser dieser Unruhen waren gestiegene Treibstoffpreise. Die Demonstrationen richteten sich schließlich auch gegen die politische Führung.

Viele Menschen sind frustriert über die vorherrschende Korruption. Am Anfang der Proteste stand der Entscheid der Regierung, die bisherige Preisobergrenze für Flüssiggas per Anfang des Jahres aufzuheben. Die Preiserhöhung schlägt sich im flächenmäßig neuntgrößten Staat der Welt, der für die Güterversorgung in hohem Maß auf Lastwagentransporte angewiesen ist, rasch in den Haushaltskassen der Menschen nieder. So liegt der Mindestlohn unter 100 Euro pro Monat.

Der kasachische Präsident Kasym-Schomart Tokajew hat diese Preiserhöhungen unter dem Druck der Straße teilweise wieder rückgängig gemacht. Zugleich wurde die Staatsführung drastisch umgebaut. Die Rufe der Protestierenden »Alter Mann, verzieh dich!« zielten vor allem auf seinen Amtsvorgänger Nursultan Nasarbajew. Dieser altgediente Parteifunktionär war seit der Unabhängigkeit 1990 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fast drei Jahrzehnte lang Präsident des Landes.

Und er blieb auch nach seinem Rückzug 2019 die zentrale Machtfigur als Vorsitzender der Regierungspartei und Chef des Sicherheitsrats. Nasarbajew hatte seinen Nachfolger Tokajew 2019 selbst ernannt. Dieser hat als »uncharismatischer Bürokrat« die überlieferte Machtstruktur in Partei und Staatsapparat fortgeführt.

Kasachstan ist einer der Nachfolgestaaten aus der Konkursmasse der Sowjetunion. Der Großteil des Landes wird Zentralasien zugerechnet, nur ein kleiner Teil liegt am äußersten Rand von Osteuropa. Nur-Sultan ist die Hauptstadt, die Wirtschaftsmetropole Almaty ist die größte Stadt der Präsidialrepublik.


Staatsdiktator Nasarbajew und Kasachstans Verhältnis zu Russland

Fast drei Jahrzehnte prägte Nursultan Nasarbajew als Präsident Kasachstan. Der frühere Chef der Kommunistischen Partei regierte das Land nach seiner Unabhängigkeit mit autoritären Maßnahmen. Freie Wahlen waren nicht zugelassen. Nasarbajew nutzte die großen Öl- und Gasressourcen seines Landes, um die neue Hauptstadt Astana zu bauen, die 2019 zu seinen Ehren in Nur-Sultan umbenannt wurde.

Nasarbajew dominierte mit einer Machtclique die Politik des Landes und übt noch immer Einfluss aus. Der Ehrentitel »Führer der Nation« sichert ihm umfangreiche Privilegien und Immunität vor Strafverfolgung. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft dem System »weit verbreitete Unterdrückung der grundlegenden Menschenrechte« und ein repressives Vorgehen gegen Oppositionelle vor.

In dem Land lebt eine große russische Minderheit. Ihr Anteil lag in den 1970er Jahren bei mehr als 40%, inzwischen machen Russ*innen noch ein Fünftel der Bevölkerung aus. Nach offiziellen Angaben leben in Kasachstan Menschen mit einem Hintergrund aus 130 verschiedenen Nationalitäten, von denen viele zu Sowjetzeiten als politische Gefangene dorthin verschleppt worden waren. In der kasachischen Steppe sind u.a. deutsche, griechische und polnische Gemeinschaften entstanden.

Kasachstan ist stolz auf seine nomadische Tradition, feierte 2015 den 550. Jahrestag der Gründung des ersten Staates. Die Feierlichkeiten folgten auf umstrittene Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die Kasachen hätten vor ihrer Unabhängigkeit von Moskau nie einen eigenen Staat gehabt. Kasachstan und Russland pflegen gleichwohl traditionell enge Beziehungen, ihre gemeinsame Geschichte birgt aber auch Konfliktpotenzial. So kritisierte Russland 2019 einen kasachischen Dokumentarfilm, in dem die These aufgestellt wurde, dass die Zwangskollektivierung des Landes zu einem Völkermord geführt habe, bei dem in den 1930er Jahren bis zu 40% der Bevölkerung entweder durch Hungersnöte starben oder flohen.

Das von Russland betriebene Kosmodrom Baikonur in der kasachischen Steppe ist der weltweit größte Weltraumbahnhof und von der jetzt unabhängigen Republik Kasachstan nur gepachtet.

Nasarbajew baute mit Hilfe der im Sowjetstaat ausgebildeten politischen Clique in Kasachstan ein umfassendes System der Korruption und Vetternwirtschaft auf. Es brachte dem Clan des Langzeitherrschers Milliarden ein – und es ist der Grund für die Wut, die die Menschen nun auf die Straßen treibt. Immer offensichtlicher wurde, dass die Wut und die Frustration, die sich in dem zentralasiatischen Land gerade entlädt, nur am Rande mit den Preiserhöhungen für Flüssiggas zusammenhängen, die zum Auslöser der Unruhen wurden.


Kleptokratischer »Führer der Nation« mit Freunden im Westen

Für die Protestierenden geht es um Grundsätzlicheres: Es geht um Nursultan Nasarbajew, den »Großvater« und darum, was der heute 81-Jährige während seiner 29 Jahre als Präsident geschaffen hat. »Kasachstan ist ein Privatunternehmen Nasarbajews geworden«, sagte eine Demonstrantin in der Wirtschaftsmetropole Almaty. »Das Einzige, was hier blüht, ist die Korruption!« Diese Sicht teilen viele Kasach*innen, die in den letzten Tagen auf die Straße gingen. Der Protest gilt dem kleptokratischen System, das der Langzeitherrscher erschaffen hat – ein System, das dem herrschenden Clan sagenhaften Reichtum bescherte.

Der einstige Stahlarbeiter aus ärmlichen Verhältnissen hatte bereits unter sowjetischer Ägide als Politfunktionär Karriere gemacht und war der letzte kommunistische Führer der kasachischen Teilrepublik. Die Transformation des Landes zum Kapitalismus bewerkstelligte Nasarbajew geräuschlos. Es kam ihm zugute, dass in seinem Land gewaltige Bodenschätze lagerten: Erdöl, Gas, Uran, Erz, Chrom, Kohle. Die durch den Abbau erschlossenen Einnahmen halfen mit, das Land wirtschaftlich und politisch zu stabilisieren – Nasarbajew war clever genug, sein Volk zumindest an einem Teil des Rohstoffreichtums teilhaben zu lassen.

Wie in anderen einstigen Sowjetrepubliken hatte das Ende des Kalten Krieges für die Elite beispiellose Möglichkeiten geschaffen, sich an den natürlichen Besitztümern des Landes zu bereichern. Nasarbajew tolerierte das – solange ihm die Nutznießer loyal blieben. Gemäß Schätzungen wurden zwischen 1995 und 2005 Gelder in der Höhe von über einem Viertel der kasachischen Wirtschaftsleistung ins Ausland geschleust.

Auch Nasarbajews Familie profitierte vom direkten Zugriff auf die staatlichen Besitztümer. Seine drei Töchter und deren Ehemänner erlangten bereits in jungen Jahren wichtige Posten in Wirtschaft und Politik. Bald unterstanden zahlreiche Unternehmen im Finanz- und im Rohstoffsektor sowie in der Bau- und in der Medienbranche der Kontrolle der Familie des Führers. Wie umfassend das Vermögen ist, das Nasarbajews Familie über die Jahre angehäuft hat, ist unklar. Schätzungen gehen von bis zu sieben Mrd. US-Dollar aus, nach anderen Recherchen besitzt der engste Familienkreis Nasarbajews allein in Europa und den USA Immobilien im Gesamtwert von 785 Mio. US-Dollar.

Allein die Schweiz zeigt, wie stark das »System Nasarbajew« auf das Ausland ausstrahlte. Vor rund sechs Jahren sorgte eine kasachische Lobbying-Affäre in Bern während Wochen für große Aufregung und machte deutlich, wie problemlos Nasarbajew auch im Westen einflussreiche »Freunde« finden konnte, wenn der Einsatz stimmte.

Stellvertretend dafür steht auch die enge Zusammenarbeit zwischen dem kasachischen Machthaber und dem früheren britischen Premierminister Tony Blair, der diesem mehrmals beratend zur Seite stand. Er und unzählige weitere Lobbyisten, die sich für die Interessen Nasarbajews einspannen ließen, dürften mit dazu beigetragen haben, dass das kasachische Regime im Westen während Jahren primär als Stabilitätsanker und als lukrativer Geschäftspartner angeschaut wurde – und dass man deshalb gern bereit war, über die Menschenrechtsverletzungen und die Repression des autoritären Regimes hinwegzusehen.

Für den investigativen Journalisten bei der Financial Times Tom Burgis ist die jüngste Geschichte Kasachstans deshalb auch ein Beispiel dafür, wie ein »gut bezahltes globales Netzwerk von Anwälten, Bankern, Politikern und PR-Managern mithalf, Ansehen und Geld eines kleptokratischen Regimes zu waschen«.


Und nun ein stabileres System?

Die aktuelle kasachische Regierung unter Führung von Tokajew hat mit massivem Einsatz von Polizei und Militär, mit Zugeständnissen wie der Senkung der Ölpreise und Umbau des politischen Apparates auf die Proteste reagiert. Das Präsidialamt erklärte, man habe mithilfe der Streitkräfte des von Russland geführten Militärbündnisses »Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit« (OVKS) die Kontrolle über alle Verwaltungsgebäude zurückerlangt. Die Sicherheitskräfte setzten zudem die »Säuberung« bewohnter Gebiete von »Terroristen« fort.

Ausgelöst durch die Proteste ist offenbar auch ein Machtkampf innerhalb der Elite entbrannt. Der Inlandsgeheimdienst KNB erklärte, dass dessen früherer Leiter Karim Masimow unter dem Vorwurf »Hochverrrat« verhaftet worden sei. Masimow gilt als treuer Verbündeter von Nasarbajew. Tokajew entließ zudem weitere ranghohe Vertraute des früheren Präsidenten. Dieser sei laut einer russischen Nachrichtenagentur »freiwillig« als Vorsitzender des Sicherheitsrats zurückgetreten. Er sei sich bewusst gewesen, »dass die Unruhen und der Terror eine schnelle, harte und kompromisslose Reaktion der Führung des Landes erforderten«.

Das wirtschaftliche System ist durch diesen Schritt nicht stabilisiert. Der Internationale Währungsfonds (IWF) kritisiert seit Jahren die staatlichen Subventionen für fossile Brennstoffe. Solche Zahlungen würden nicht nur den öffentlichen Haushalt belasten, sie führten auch zu einem übermäßigen Energiekonsum und minderten die Anreize für Investitionen in ökologischere Energieformen.

Laut Schätzungen des IWF beliefen sich solche Subventionen im Jahr 2020 auf weltweit rund 5,9 Bio. US-Dollar oder umgerechnet 6,8% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Der IWF geht davon aus, dass diese Quote bis ins Jahr 2025 auf 7,4% steigen dürfte, was nicht zuletzt auf die Schwellenländer zurückzuführen ist. Eine Umkehrung des Trends ist politisch schwer umsetzbar. So zeigt das Beispiel Kasachstan, dass bei einer Freigabe der Preise oft soziale Unrast droht. Diese Gefahr besteht vor allem in Zeiten steigender Energiekosten und anziehender Inflationsraten.

In Kasachstan machen die Energiesubventionen laut Berechnungen der Internationalen Energieagentur (IEA) rund 1,9 Mrd. US-Dollar oder 2,6% des BIP aus. Aufgrund einer vergleichsweise guten Wirtschaftsentwicklung wagte man zu Beginn dieses Jahres eine »Reform«. So war der Wachstumseinbruch im ersten Pandemiejahr 2020 mit 2,5% relativ bescheiden geblieben, und 2021 setzte eine robuste Erholung mit einem Wachstum von 3,7% (Schätzung des IMF) ein. Kasachstan stützt sich neben dem Rohstoffreichtum, der niedrigen Staatsverschuldung, den hohen Devisenreserven und der logistischen Brückenfunktion zwischen Asien und Europa vor allem auf den Anschluss an die Eurasische Wirtschaftsunion mit über 180 Millionen Konsument*innen.

Einen Rückschlag erfährt aufgrund der unklaren Zukunft nun auch das wichtigste Reformprojekt der vergangenen Jahre: die Rohstoffabhängigkeit das 19 Mio. Einwohner*innen zählenden Land zu verringern. Kasachstan ist derzeit nicht nur der weltgrößte Produzent von Uran, es verfügt auch über Rohstoffe wie Erdöl, Erdgas, Erze und diverse Metalle. Erdöl und Erdgas zusammen machen mehr als die Hälfte der Exporte aus. Zusammen mit den übrigen Rohstoffen beträgt der Anteil rund 90%.

Die Erdöleinnahmen sind zwar eine wichtige Finanzierungsquelle und speisen auch einen Staatsfonds, der in Krisenzeiten viel finanzpolitische Flexibilität erlaubt. Letztlich bleibt das Land aber stark abhängig vom Auf und Ab der Rohstoffpreise. Die wirtschaftliche Struktur spiegelt zudem eine hohe Verletzlichkeit gegenüber dem globalen Trend zur Dekarbonisierung. So konstatierte der IWF im vergangenen November: »Das derzeitige Entwicklungsmodell, das auf der Produktion und dem Export natürlicher Ressourcen basiert, wird beim Übergang zu einer kohlenstoffarmen Weltwirtschaft nicht nachhaltig sein.«

Mit dem Ziel, die Abhängigkeit von den Rohstoffexporten zu verringern, forcierte die Regierung verarbeitende Industrien etwa im Bereich von Metallerzeugnissen (vor allem Eisen und Stahl) oder Nahrungsmitteln (Fleisch und Milch). Beim Strom, der zu 90% aus fossilen Energiequellen stammt, setzte man außerdem verstärkt auf Photovoltaik und Windkraft. Ihr Anteil am Strommix, so das Ziel, soll bis 2030 von 3% auf 15% steigen. Für einen solchen Umbau der Wirtschaft braucht es Wissen, Technologie und vor allem Investoren.


Signalwirkung für Autokraten

Organisationen wie der IWF oder die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) rieten Kasachstan seit Jahren, die Privatisierung der vielen Staatsbetriebe voranzutreiben und den staatlichen Fußabdruck namentlich in der Energie- und der Verkehrswirtschaft zu verringern. Die Regierung hatte jüngst zudem Signale ausgesandt, diese Vorhaben anzugehen, zu denen auch die Gründung einer unabhängigen Wettbewerbsbehörde gehörte.

Mit der teilweisen Liberalisierung der Energiepreise zu Beginn des Jahres und dem Teilrückzug des Staates wurden nun die Tumulte ausgelöst, deren langfristige Folgen noch kaum absehbar sind. Die Unruhen dürften manch anderen Autokraten in ihrer Marktskepsis und dem Bestreben bestärken, in der Wirtschaft weiterhin alle Fäden fest in der Hand zu halten.

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