3. November 2023 Bernhard Sander: Nahost-Konflikt droht NUPES endgültig zu zerlegen
Frankreich: Hamas-Massaker verschärft Spaltungstendenzen
Die französische Gesellschaft ist seit längerem sozial und durch die vielfältigen Gemeinschaften der Migrant*innen tief gespalten. Spätestens seit den Attentaten auf französische Juden in Toulouse im Jahr 2012 wächst für diese Gruppierung das Bedrohungsgefühl und wird die vorherrschende latente Auswanderungsbereitschaft aktualisiert.
Aber auch die Kinder französischer Muslime sehen sich mit einer Diskriminierung konfrontiert, seit der rechtspopulistische Gründer des Front National in den Wahlkämpfen der späten 1980er-Jahren den Streit um das Kopftuch zur Existenzfrage der nationalen Identität emporredete. Die gesamte französische Linke verstand das Versagen des Integrationsversprechens der Nation nicht auch als sozialpolitische Herausforderung, sondern nur als laizistischen Glaubenskampf mit zunehmend repressiveren juristischen und polizeilichen Mitteln. Mit dieser Verkürzung konnte sie dem Rassemblement Nationale (RN) nichts entgegensetzen.
Mit den Jahren bildete sich in den von muslimischen Traditionen mit beeinflussten und auf deren Netzwerke zum Teil angewiesenen Bevölkerungsteilen ein widerständiges Alltagsverhalten heraus: Der erzwungene Spielabbruch im ersten Spiel der französischen und algerischen Nationalmannschaften 2002, die Drangsalierung der Nachbarschaft mit Halal-Vorschriften, die sich in immer kürzeren Abständen und weiteren Flächen ausbreitenden Jugendkrawalle in den Vorstädten usw. erschrecken die Menschen, die in jüdischer Tradition leben (vor allem, wenn sie von progromartigen Attacken in der Nachbarschaft begleitet werden).
In ein paar Hundert Schulen verweigerten wenige Tage vor dem Hamas-Überfall Jugendliche und Kinder die Teilnahme an Gedenkveranstaltungen, nachdem ein Literatur- und Geschichtslehrer auf dem Schulhof von einem radikalisierten »Schulversager« aus Tschetschenien erstochen worden war.
Das jüngste Massaker der Hamas und der nachfolgende Krieg um Palästina werden in Frankreich von der politischen Klasse umstandslos einer Radikalisierung des Islam zugeschrieben und vertiefen die sozial-kulturelle Spaltung. Der islamistische Terrorismus in den europäischen Staaten ist aber weder mit Repression aus der Welt zu schaffen noch durch Verharmlosung, Wegschauen und Duldung.
Mit Menschen, die bereit sind, um den Preis des eigenen Untergangs möglichst viele Mitmenschen zu vernichten, wird man nicht verhandeln können (obwohl man es in jedem konkreten Fall immer versuchen sollte). Aber man müsste Ziele definieren, die das Gleichheits- und Aufstiegsversprechen der französischen Republik für alle wieder glaubwürdig machen, um damit auch dem Universalismus und die religiöse Neutralität des Staates wieder herstellen zu können.
Auch die Reaktion des Staatspräsident Emmanuel Macron ordnet sich in Tradition seines Vorgängers Nicolas Sarkozy ein, der vom Wegkärchern der »asozialen Elemente« sprach. Er glaubt an die erzieherische Gewalt des Staates und appelliert zum wiederholten Male an die Verantwortung der Eltern, ohne sich um deregulierte Arbeitszeiten, Alleinerziehende, beengte Wohnverhältnisse zu scheren.
Der französische Präsident gab schon nach den Unruhen von Ende Juni, nachdem der junge Nahel M. bei einer Polizeikontrolle erschossen worden war, und in über 500 Gemeinden teils tagelange Krawalle ausbrachen, die Parole aus: »Die Lektion, die ich daraus ziehe, ist Ordnung, Ordnung, Ordnung!« Es brauche eine Rückkehr zur Autorität, auf jeder Ebene und zuallererst in der Familie.
Jetzt schlägt er dem Parlament u.a. einen Bußgeldkatalog für Verstöße gegen Ausgehverbote und ähnliches vor sowie einen Arbeitsdienst beim Militär, um Disziplin zu lernen. Doch die Führung der Armee widersprach öffentlich, sie sehe sich nicht als Sozialpädagogen für Aufgaben, an denen der das Bildungssystem gescheitert ist.
Fakt ist: Nach dem brutalen Massaker der Hamas in Israel und der Gefangennahme von mehreren Hundert Geiseln blieb der Aufschrei in Frankreich aus, was die jüdische Gemeinde Frankreichs empört und die jüdischen Menschen, die latent ausreisebereit in das vermeintlich sichere Israel waren, stark verunsichert.
Die linken Parteien in Frankreich sind in der Palästina/Israel-Problematik seit vielen Jahrzehnten unterschiedlicher Meinung und seit dem 7. Oktober und den Reaktionen der israelischen Regierung zerstritten. Der Vorgang ist die letzte Sprengladung am parlamentarischen Bündnis NUPES (Neue ökologische und soziale Volkseinheit). Viele ihrer Sympathisanten beteiligten sich massiv an den pro-palästinensischen Kundgebungen in Paris und anderswo mit Sprechchören wie »Israel Mörder – Macron Komplize«.
Aber Jean-Luc Mélenchon geht in populistischer Manier weiter. Es versucht, mit seinen unbedachten Äußerungen die weitgehend wahlabstinente Bevölkerung der Vorstädte zugunsten von La France insoumise (LFI) an die Urnen zu bringen. Er kommentierte Fotos pro-palästinensischer Demonstranten mit den Worten »Das hier ist Frankreich«. Eine Delegation aus dem französischen Parlament, die sich unter der Leitung ihrer Präsidentin (aus der Partei Macrons) in Israel aufhielt, »spräche nicht im Namen des französischen Volkes« und »ermutige Netanjahu zu Massakern«.
Justizminister Éric Dupond-Moretti prangert daraufhin die Linke an: »Ich habe etwas Mühe zu verstehen, warum [LFI] es nicht schafft, die Hamas als terroristische Bewegung zu bezeichnen. Es gilt, Klarheit zu schaffen. Es sind nicht die Muslime, die auf die Juden spucken, sondern die Islamisten. Man kann für die palästinensische Sache und einen palästinensischen Staat eintreten, aber man kann nicht hinnehmen, dass der wachsende Kommunitarismus in unserem Land diesen Antisemitismus fördert. Laizität bedeutet, dass jeder seine Religion frei ausüben kann, ohne deswegen angegriffen oder beschimpft zu werden«, erklärte er in der Tribune du Dimanche.
Während Grüne und Sozialdemokraten sich auf die Seite Israels gestellt haben, bestehen LFI und Kommunisten (PCF) auf einer differenzierten Betrachtung. Das Ehrenmitglied des EU-Parlaments, Francois Wurtz, veröffentlichte in L’Humanité eine Stellungnahme zum Einmarsch in Gaza, in der es nach der Schilderung der Folgen der israelischen Militäraktion unter anderem heißt: »Nichts, aber auch gar nichts kann eine solche Unmenschlichkeit rechtfertigen. Nicht einmal die Wut, die der Horror vom 7. Oktober ausgelöst hat. Man kann Delphine Horvilleur, der Rabbinerin, die das liberale Judentum in Frankreich verkörpert, nur zustimmen, wenn sie erklärt, dass ›keine Sache, wie gerecht sie auch sein mag, die Verbrechen der Hamas legitimiert‹ und dass ›ein bestimmtes Schweigen‹ sie überwältigt habe, einschließlich des Schweigens bestimmter Freunde, Unterstützer der palästinensischen Sache und unfähig, die Hamas klar zu verurteilen.«
Für die rechtsnationalistischen Kräfte um Marine Le Pen ist der Konflikt im Nahen Osten und in Frankreich wieder Treibstoff, um gegen »die neuen Hassprediger, die heute in Frankreich unsere jüdischen Mitbürger ins Visier nehmen und angreifen«, zu Felde zu ziehen Der Konflikt bietet dem RN die Möglichkeit, sich weiter als Teil der Mitte der sich von Überfremdung bedrohten Gesellschaft darzustellen und sich symbolisch zu normalisieren. Da kann man es der Konkurrenz um den gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour überlassen, deutlicher »den Islam« als unvereinbar mit der Republik zu brandmarken.
Der französische Präsident warnte in einer vom Élysée verbreiteten Erklärung vor einer Eskalation und zugleich die Hisbollah und einige andere Regime, »nicht Teil dessen zu sein, was passiert«. Das Staatsoberhaupt, das auch die palästinenische Autonomiebehörde in Ramallah besuchte, brachte in Israel zum Ausdruck, er spreche für ein Land, das ähnliches erlitten habe, eine »Nation, die wie Sie um ein junges Leben, ein gewöhnliches Leben und ein glückliches Leben getrauert hat, das von der Wildheit des Terrorismus niedergemäht wird. […] Der Kampf muss gnadenlos sein, aber nicht ohne Regeln, denn wir sind Demokratien, die gegen Terroristen kämpfen. […] Der Respekt vor der Bevölkerung erfordert in diesem Fall den Zugang zu Hilfe, und wir haben ausführlich darüber gesprochen, um die Elektrizität für Krankenhäuser, Kranke und Verletzte wiederherzustellen. Wir müssen diesen Kampf auch führen, indem wir darauf achten, den Brand in der gesamten Region zu vermeiden. [… Ich] möchte auch die Aufmerksamkeit aller auf die Aktionen einiger weniger gegen palästinensische Zivilisten lenken, deren Gewalt auch das Westjordanland in Brand zu bringen droht […] Die Sicherheit Israels, der gemeinsame Kampf gegen den Terrorismus, die Achtung des humanitären Rechts, die Öffnung eines politischen Horizonts, all diese Elemente sind untrennbar miteinander verbunden.«