26. November 2021 Andrew Fisher: Widersprüche in der Labour Party

Haushaltsdisziplin als Businessplan

Auf der Jahreskonferenz des Arbeitgeberverbands der britischen Industrie (CBI) am 22.11.2021 erklärte der Parteivorsitzende Keir Starmer, dass die Labour Party »nicht glaubt, dass die Lösung für jedes Problem darin besteht, es mit Geld zuzuschütten.«[1]

Er kündigte an, »ein strenges Regiment« zu führen, wenn Labour nach der nächsten Parlamentswahl die Regierung stellen würde: »Wir werden niemals Geld nur um des Geldes willen ausgeben.«

Starmers Rede war eine Positionierungsrede – sie sollte den Wirtschaftsführern vermitteln, dass Labour wieder »umsichtig« (ein vom ehemaligen Premierminister Gordon Brown geliebtes Adjektiv) und »fiskalisch glaubwürdig« ist (wie Ed Balls es als Schatten-Finanzminister von 2011 bis 2015 gern formulierte). Dies soll den Gegensatz zur angeblichen Verschwendungssucht der Ära von Jeremy Corbyn und John McDonnell markieren, die radikaler sein wollten als die Nachkriegsregierung von Attlee, die den Wohlfahrtsstaat und den NHS einführte.

Die Botschaft, die Starmer aussendet, lautet also: »Corbyn schlecht, Labour wieder verantwortlich«. Das Problem für den Labour-Vorsitzenden ist, dass diese Spar-Rhetorik auf einer internen Labour-Mythenbildung beruht. Sie hat in der Vergangenheit nicht funktioniert und steht im Widerspruch zu dem, was die Partei jetzt fordert.

Während seiner Regierungszeit von 2007 bis 2010 hatte Gordon Brown die Schuldenquote gesenkt, und sein Finanzminister Alistair Darling versprach, dass Labour »tiefere und härtere« Kürzungen als Margaret Thatcher vornehmen werde. Doch als der globale Finanzcrash kam, wurde Brown dennoch von den Konservativen erfolgreich als großer Verschwender dargestellt, der »das Dach nicht repariert hat, als die Sonne schien«. Und bei der Parlamentswahl 2010 zog das Narrativ von »Labours übermäßigen Ausgaben« und brachte die Konservativen mit Premierminister Cameron und Finanzminister Osborne wieder an die Regierung – nach 13 Regierungsjahren von New Labour.

Bei der Parlamentswahl 2015, als Ed Miliband Labour-Parteivorsitzender war, bestand sein Schatten-Finanzminister Balls darauf, eine Schuldenbremse (»budget responsibility lock«) auf der ersten Seite des Labour-Wahlprogramms einzufügen. Die Labour Party erlitt daraufhin eine Niederlage, die fast so verheerend war wie fünf Jahre zuvor die von Brown (und mit einem noch geringeren Stimmenanteil als bei Labours katastrophalem Ergebnis 2019).

Zwischenzeitlich erlebte die Labour Party 2017 mit Corbyns und McDonnells öffentlicher Ausgabenpolitik als Abkehr von der langjährigen Austeritätspolitik einen Stimmenzuwachs. Und 2019 war das Wahlergebnis zwar katastrophal, aber in der Wirtschaftspolitik hatte Labour die Unterstützung der Mehrheit der Wähler:innen (im Gegensatz zur Brexit-Politik), und zwar von der Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 50% für die höchsten 2% der Einkommensbezieher bis zur Übernahme von Wasserversorgung  und Eisenbahnen in öffentliches Eigentum.

Starmers Verpflichtung, kein Geld auszugeben, scheint auch im Widerspruch zur Position seiner finanzpolitischen Sprecherin im Schattenkabinett zu stehen. Denn Rachel Reeves fordert, 28 Mrd. Pfund pro Jahr für grüne Investitionen auszugeben, und hat das als Kern der Haushaltspolitik einer künftigen Labour-Regierung herausgestellt. Diese Summe ist sogar noch größer als die von John McDonnell in seinem auf zehn Jahre angelegten Green Transformation Fund von 250 Mrd. Pfund.

Starmers Orientierung auf Haushaltsdisziplin ist auch deswegen verwirrend, weil er selbst kürzlich zehn Mrd. Pfund für die vollständige Fertigstellung der HS2-Schnellbahnverbindung zugunsten Nordenglands eingefordert hat und außerdem in Aussicht stellte, die Ausgaben für internationale Entwicklungszusammenarbeit, die von der Johnson-Regierung halbiert worden sind, wieder auf 0,7% des Bruttonationaleinkommens zu erhöhen. Als die Tory-Regierung 1,4 Mrd. Pfund als Nachhilfen für Schüler:innen bereit stellen wollte, um durch die Corona-Pandemie bedingte Lernrückstände aufzuholen, kritisierte die Labour Party diese Summe als unzureichend und unterstützte stattdessen die Vorschläge von Sir Kevan Collins, eines ausgewiesenen Spezialisten für den Abbau von Lernrückständen, die 15 Mrd. Pfund kosten, also zehnmal mehr, als die Regierung zugesagt hatte.

Dasselbe trifft auch auf die Finanzierung des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS und der kommunalen Pflege- und Sozialfürsorgeeinrichtungen zu, bei denen Starmer und die Labour Party die Ausgabenpläne der Regierung als unzureichend kritisiert haben.

Ob es sich nun um den staatlichen Gesundheitsdienst, die Pflegedienste, die Eisenbahn, die internationale Entwicklungszusammenarbeit, den Green New Deal oder die Schulen handelt – immer fordert die Labour Party mehr Mittel. Und das ist auch richtig so. Der Reichtum der niedrig besteuerten Superreichen ist in die Höhe geschossen, während die Körperschaftssteuer in Großbritannien die niedrigste der G7-Staaten ist. Der Bedarf ist da und das Geld ist da.

Eine bessere Gesellschaft kostet Geld – und Politiker und Öffentlichkeit verstehen das. Deshalb versprach der US-Präsident Joe Biden bei der Vorstellung seines umfangreichen Infrastrukturgesetzes: »Euer Leben wird sich zum Besseren wenden.« In seiner Rede zur Lage der Nation sagte der US-Präsident den Amerikanern, dass die »Trickle-Down«-Wirtschaft noch nie funktioniert habe. Biden ist klug genug, um zu verstehen, dass man nicht für groß angelegte Investitionen plädieren und gleichzeitig so tun kann, als könne sich der Staat zurückhalten und alles dem Markt überlassen.

In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Survation unter Einwohnern von Hartlepool, einem Wahlkreis, den die Labour Party unter der Führung von Starmer im Mai verloren hat, sagten 67%, dass die Regierung vorrangig mehr in öffentliche Dienstleistungen investieren sollte. Nur 24% wünschten sich, dass der Schwerpunkt auf dem »Schuldenabbau« liegen sollte. Premierminister Johnson und sein Finanzminister Sunak haben das aufgegriffen und bei der kürzlichen Vorlage des Haushalts insbesondere auf die Zunahme der Ausgaben hingewiesen.

Starmer gibt derweil die Thatcherschen Vorstellungen über die Wirtschaft wieder, indem er gegenüber dem Rundfunksender City AM erklärt: »Wenn die Wirtschaft profitiert, profitieren wir alle davon.« Was für ein Blödsinn! Die Kinderarmut hat in den letzten zehn Jahren zugenommen und die Löhne stagnieren, während sich die Rentabilität der Unternehmen von der Flaute nach dem Bankencrash erholt hat.

Und so bleibt die Labour Party dabei, sich selbst zu widersprechen, indem sie das Dogma der freien Marktwirtschaft wiederholt und gleichzeitig für mehr Staatsausgaben in einer Vielzahl von Politikbereichen eintritt. Die Labour Party muss letztlich eine Entscheidung treffen. Entweder stutzt sie ihre fortschrittliche Programmatik weiter und fährt mit einer Rhetorik à la Thatcher fort, wie Starmer das in seiner Rede beim CBI gemacht hat, oder sie hält an ihrer Politik fest, das Land umzugestalten und setzt sich dafür mutig ein.

Die bisherigen Erfahrungen deuten darauf hin, dass sich die Labour Party unter Starmers Führung nach einer verwirrenden und quälenden Reise letztlich für die Zaghaftigkeit entscheiden wird. Der Erfolg oder Misserfolg dieser Strategie hängt dann davon ab, dass die Tories implodieren und Labour dann standardmäßig als die sicherere Alternative gewählt wird. Das ist ein riskanter Businessplan, in den niemand investiert.

Andrew Fisher war von 2016 bis 2019 Executive Director of Policy bei der Labour Party. Bei den Parlamentswahlen 2017 und 2019 koordinierte er die Arbeit am Wahlprogramm der Labour Party. Der hier dokumentierte Beitrag erschien zuerst am 23.11.2021 bei i-news unter dem Titel »Keir Starmer’s new penny-pinching rhetoric is at odds with what his party want.« (Übersetzung: Hinrich Kuhls)

Anmerkung

[1] Anm. d. Ü.: Auf Einladung des CBI (Confederation of British Industry) treten auf dessen Jahreskonferenz traditionell sowohl der britische Premierminister als auch der Oppositionsführer mit einer wirtschaftspolitischen Grundsatzrede auf. In diesem Jahr erntete Johnsons launige Rede im Kreis seiner Parlamentsfraktion heftige Kritik; Starmers Rede wurde in den Leitmedien überwiegend positiv aufgegriffen. Einen kritischen Vergleich beider Reden hat Phil Burton-Cartledge auf seinem Blog »All that is solid …« geschrieben: »Torynomics Vs Starmernomics

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