18. März 2025 Bernhard Sander: Nachbeben der Rüstungsbeschlüsse in Belgien und den Niederlanden
Haushaltsdisziplin oder europäische Souveränität?
Die Beschlüsse der EU-Kommission zur militärischen Aufrüstung angesichts der Alleingänge der US-Regierung bringen die Regierungen in Belgien und den Niederlanden ins Wanken. Der Aufwand für die NATO soll über die bisher beschlossenen 2% des BIP hinauswachsen.
Belgiens Regierung will militärische Kapazitäten ausweiten
Für Belgien, dessen Fünfer-Koalition (»Arizona«) aus wallonischen Christdemokraten, Liberalen beider großer Sprachgruppen sowie der flämischen Sozialdemokraten unter Führung der rechtsnationalistischen Neuen Flämischen Allianz (NVA) nach über acht Monaten zäher Verhandlungen gerade erst zustande gekommen war, stehen nun auf der Suche nach Geld für die Aufrüstung »Koalitionsverhandlungen 2.0« an.
Die belgische Bundesregierung muss zunächst einmal das Zwei-Prozent-Ziel der Nato plötzlich viel schneller erreichen als geplant: Bis zum Sommer müssen Mehrausgaben von rund vier Mrd. Euro fest eingeplant werden. Das erst im Februar zusammengenagelte fragile Koalitions-Konstrukt hatte sich auf Eckpunkte für einen Haushalt geeinigt, der »eigentlich schon hinfällig, für die Tonne« war (RTBF Roger Pint) als sie vereidigt wurde.
Nach den neuesten Zahlen des »Monitoring-Komitees«, das die Haushaltsentwicklung permanent überwacht, ist das Haushaltsloch noch größer als gedacht: Es soll im belgischen Bundeshaushalt in diesem Jahr bei 22,96 Mrd. Euro liegen. Das entspricht 3,6% des Brutto-Inlandsprodukts (BIP).
Bei der letzten Schätzung im Oktober 2024 ging diese Behörde noch von einem Haushaltsloch von etwa 20,51 Mrd. Euro aus, 3,3% des BIP. Das belgische Monitoring-Komitee schätzt, dass die Ausgaben für die soziale Sicherheit etwa 869 Mio. Euro höher ausfallen werden, als ursprünglich berechnet. Schwerwiegend sind wohl vor allem die hohen Ausgaben für Renten und für Krankheitsausfälle sowie Langzeitarbeitslose und Langzeitkranke. Ohne Reformen geht das Monitoring-Komitee davon aus, dass sich das Haushaltsloch in Belgien bis 2029 auf bis zu fast 43 Mrd. Euro erhöhen kann, was etwa 6% des BIP entsprechen würde.
Da brechen gleich die bekannten Bruchlinien wieder auf: Auf der linken Arizona-Seite lehnen die Sozialdemokraten von Vooruit und CD&V weitere Einschnitte in den Sozialausgaben ab, die wallonischen Les Engagés (ehemals Christdemokraten genannt) wollen zusätzliche Einnahmen aus der Kapitalertragssteuer ziehen, vielleicht sogar über eine Besteuerung von Mieteinkünften. Neue Steuern sind aber unannehmbar für den rechten Koalitionsflügel, allen voran die liberale MR. Deren Parteichef Georges-Louis Bouchez hatte stattdessen Einschnitte beim Kindergeld vorgeschlagen, insbesondere bei kinderreichen Familien. Nur eins verbindet alle Parteien: Allesamt fordern sie mehr Geld für die Ressorts, in denen sie Verantwortung tragen.
Ende Februar hatte die EU-Kommission in einem Defizit-Verfahren der Föderalregierung die Frist gesetzt, den Haushaltsplan für die nächsten Jahre bis Mitte März einzureichen. Ursprünglich hätte das im September geschehen sollen. Allerdings erhielt Belgien aufgrund der damals noch laufenden Regierungsbildung zwei Fristverlängerungen.
Da nach wie vor kein föderaler Haushalt für das laufende Jahr steht, sind in der Kammer die vorläufigen Zwölftel für die Monate April, Mai und Juni gebilligt worden, was faktisch einer Haushaltssperre gleichkommt.
Die Regierungsparteien sowie die wallonische SP und die flämischen Liberalen Open VLD stimmten in der Kammer für die Zwölftel, der Vlaams Belang sowie die PTB stimmten dagegen, die wallonischen Grünen Ecolo enthielt sich.
Die EU will ihren Ausstoß von Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um 55% reduzieren. Von Belgien wird erwartet, dass die Emissionen in Bereichen wie Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft um 47% gesenkt werden. Der belgische Plan ist noch nicht eingereicht worden, weil Flandern nicht über 40% hinausgehen will.
Außer Belgien müssen auch noch Estland, Polen, Kroatien und die Slowakei ihre Klima-Pläne einreichen; der niederländische Klimaplan stellt einen Rückschritt gegenüber dem zuerst von der Regierung Rutte IV eingereichten Vorhaben dar. Die Länder haben dafür jetzt zwei weitere Monate Zeit. Danach kann die EU-Kommission den Europäischen Gerichtshof einschalten.
Nun muss die belgische Regierung die Militärausgaben draufsatteln. Verteidigungsminister Theo Francken will einen Plan vorlegen, der eine spürbare Erhöhung der Rüstungsausgaben von acht auf zwölf Mrd. Euro vorsieht. Auf diese Weise erreicht Belgien dann das Zwei-Prozent-Ziel der Nato, wenn auch erstmal nur auf dem Papier. Das BIP Belgiens wird in 2025 etwas mehr als 600 Mrd. Euro betragen.
Außenminister Maxime Prévot drohte: »Unsere Verbündeten haben es satt, sind mit ihrer Geduld am Ende. Das Zwei-Prozent-Ziel ist jetzt ein absolutes Muss.« Diverse Drohungen stehen im Raum. Man hörte schon die Idee, dass die belgischen Vertreter beim nächsten Nato-Gipfel draußen bleiben müssten. Es bestehen NATO-Pläne, die eine oder andere ihrer Agenturen aus Brüssel abzuziehen und in ein anderes Land zu verlegen.
Das bedeutet erhebliche Arbeitsplatzverluste für die belgische Dienstleistungsgesellschaft. Andererseits hofft man hinter den belgischen Kabinetts-Schreibtischen, dass die europäischen Länder zumindest Teile ihres Verteidigungsetats aus ihren Haushalten herausrechnen dürfen. Premier Bart De Wever hat die Parole ausgegeben: »Peace through strength« (»Frieden durch Stärke«). Das ist ein Zitat des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan.
Auch die belgische Regierung scheint wild entschlossen, durch die Erweiterung der militärischen Kapazitäten im sich verändernden globalen Machtgefüge an einer angestrebten europäischen Machtfazilität teilzuhaben. »Erstmal scheint es darauf hinauszulaufen, dass die Europäer am Ende einen – bislang noch hypothetischen – Frieden in der Ukraine absichern müssen. Darüber hinaus gilt es aber auch und vor allem, Russland davon abzuhalten, seine imperialistischen Träume hinsichtlich einer Wiederherstellung der alten Sowjet-Einflusszone zu verwirklichen«, so die Einschätzung im belgischen Staatsrundfunk.
»Die Gefahr eines russischen Angriffs ist real«, sagte der neue Verteidigungsminister Theo Francken in der RTBF. Schon längst sei ein hybrider Krieg im Gange, mit Sabotageakten, Cyberangriffen und Desinformationskampagnen zwecks Wahlbeeinflussung. »Die Russen sind derzeit regelrecht hyperaktiv«, sagt der Politiker von der ehemals flämischen rechtspopulistischen N-VA.
Donald Trumps neue außenpolitische Generallinie, dass Europa seine Probleme künftig selber lösen muss, verschafft den Falken in den einzelnen EU-Ländern die Legitimation als ultimativer Weckruf an die eigenen Reihen (mal kamouffliert mit der Lüge Trumps »Die Ukraine habe den Krieg angefangen«, mal psychologisiert als Trumps »Flatterhaftigkeit«). Jetzt werden auch die Europäer hyperaktiv. 2014 hatten sich die Mitgliedstaaten der Allianz dazu verpflichtet, den Gegenwert von 2% des Bruttoinlandsproduktes in die Verteidigung zu investieren. Deadline war 2024, doch hat Belgien dieses Ziel spektakulär verfehlt (Aktuell sind es 1,3%).
Die neue Regierung hat sich eigentlich vorgenommen, das Zwei-Prozent-Ziel im Jahr 2029 erreicht zu haben. »Viel zu spät«, schimpfte aber schon die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas. Jetzt steht plötzlich eine neue Deadline im Raum: Bis zum Nato-Gipfel in Den Haag soll jedes Land einen ebenso konkreten wie kurzfristigen Fahrplan aufzeigen können, ansonsten gibt es richtig Ärger. Dieser Nato-Gipfel findet statt am 24. und 25. Juni 2025.
Um die Mehrausgben fürs Militär zu kompensieren, schlägt Haushaltsminister Van Peteghem (CD&V) vor, staatliche Beteiligungen an Unternehmen und Bankenanteile zu veräußern und dabei auch Länder und Regionen einzubeziehen. Man könne auch eingefrorene russische Werte zu solchen Finanzierungen bzw. Kompensierungen nutzen (was rechtlich aber problematisch sein kann). Theo Francken (N-VA) möchte die Verkaufserlöse gezielt in einen noch zu gründenden Verteidigungsfonds (Sondervermögen) einspeisen.
Um vom Kampf um die Haushaltslücken abzulenken und die eigene Klientel bei der Stange zu halten, lanciert die NVA, die unter dem Druck der orthodox-flämisch-identitären Vlams Belang steht, auch Luftballons wie diese: In Forest lässt Audi bald eine fertige Autofabrik zurück. Warum sollte man nicht darüber nachdenken, dass ein belgisches Unternehmen dort künftig Militärfahrzeuge baut? Das würde außerdem neue Arbeitsplätze schaffen.
Regierungsbeben in den Niederlanden
In den Niederlanden führten die auf EU-Ebene mit Zustimmung der nationalen Vertreter gefassten Beschlüsse zur Aufrüstung ebenfalls zu Unstimmigkeiten bis hin zu einem regelrechten Regierungsbeben. In Den Haag hatten sich nach ebenfalls langen Verhandlungen die EU-freundlichen Liberalen von VVD, die anti-europäisch rechtspopulistische Bürger- und Bauernbewegung (BBB) und die neuformierte rechtspopulistisch-staatsfeindliche Bewegung für einen Neuen Gesellschaftsvertrag unter Führung der sozial-nationalistisch-identitären PVV von Geert Wilders auf eine Regierung verständigt, der die führenden Köpfe der beteiligten Fraktionen gar nicht angehören. Faktisch hat die Regierung keine eigene Mehrheit im Parlament. In den liberalen und linken Schichten des Landes führte diese anti-islamische Hardliner-Koalition zwar zu Entsetzen, aber noch zu keiner wirksamen Abwehrfront.
Während man in Belgien sich einstweilen in den Sphären der Umverteilung des nationalen Wirtschaftsprodukts herumzankt, blicken die Niederländer*innen nüchtern auf die wirtschaftlichen Folgen der neuen Weltlage: Die Vereinigten Staaten sind der viertgrößte Exportmarkt der Niederlande.
Ein US-Zoll von 25% auf alle EU-Einfuhren würde das niederländische BIP in den nächsten zwei Jahren verringern, so die Ökonomen der Rabobank. Wenn die Vereinigten Staaten die EU vollständig von Zöllen verschonen, dürfte das niederländische BIP-Wachstum 2025 1,7% und 2026 1,2% erreichen, so die Bank in ihrer jüngsten vierteljährlichen Aktualisierung. Bei einer generellen Einführung von Zöllen in Höhe von 25% würde das Wachstum jedoch auf 1,5% bzw. 0,7% sinken.
»Letztendlich ist die EU unser größter Markt«, sagte Rabobank-Ökonom Frank van Es dem Financieele Dagblad. »Und der Handel mit den USA wird nicht völlig zum Erliegen kommen. Ich möchte jedoch betonen, dass die Auswirkungen auf bestimmte Sektoren oder Unternehmen erheblich sein könnten.« Nach einer Untersuchung von ABN Amro würden sich die niederländischen Lebensmittelexporte in die USA im Wert von 2,3 Mrd. Euro im Jahr 2023 mehr als halbieren, wenn ein Einfuhrzoll von 25% vollständig an die Kund*innen weitergegeben würde.
Mehrausgaben für Rüstung müssen entweder erwirtschaftet oder durch Umverteilung aufgebracht werden. Der parteilose, ehemalige Sozialdemokrat Schoofs, der mit Segen der PVV der Regierung vorsteht hatte daher vorsorglich der Forderung an die Kommission zugestimmt, »zusätzlichen Finanzierungsquellen für die Verteidigung auf EU-Ebene zuzustimmen«, worauf letztlich auch die Belgische Mitte-Rechts-Regierung hofft. Doch dann stimmten drei der vier Regierungstragenden Fraktionen (PVV, BBB, NSC) dafür, die Regierung aufzufordern, »die Teilnahme an Re-arm Europe nicht zu gestatten und gegebenenfalls über ein opt-out zu verhandeln«. Nun sind das alles keine prinzipiellen Pazifisten (»Wir brauchen mehr nachhaltige Investitionen in Verteidigung«, sagt etwa Pieter Omzigt vom NSC).
Das treibende Motiv wie schon bei der gemeinsamen Ablehnung von Eurobonds und des nach Covid aufgelegten 650 Mrd. Euro schweren European Recovery Program ist die seltsame Glaubensstrenge in Sachen Staatsverschuldung, von der sich nun lediglich VVD in einem Teilaspekt verabschiedet hat. Das niederländische Parlament hat jedenfalls mit Stimmen der Linken (Sozialdemokraten-Grünen) und den genannten Rechten von der Leyens Aufrüstungsplan abgelehnt, auch mit Stimmen der regierungstragenden Fraktionen.
Das niederländische Votum bleibt einstweilen folgenlos, da der EU-Ministerrat nicht auf Einstimmigkeit angewiesen ist. Die Niederlande mit einem besonders niedrigen Staatsdefizit von 42% des BIP können sich wiederum sehr viel günstiger an den Kapitalmärkten finanzieren als die EU oder andere wesentliche Länder.
Belgien wie die Niederlande hoffen zudem darauf, dass die EU-Kommission den Staaten auf jeweiligen Antrag hin mehr Spielraum – nämlich bis zu 1,5% des BIP – bei der Verschuldung gewähren will, einen Spielraum, den die künftige Regierung Merz mit Billigung der Grünen im Bundestag nicht ausschöpfen will und damit für die kleinen EU-Staaten faktisch begrenzt.
Mit immer geringeren finanziellen Spielräumen werden konjunkturelle Dellen und großformatige globale Neujustierungen immer direkter Rückstöße in den politischen Machtgefügen und damit politische Labilitäten auslösen. Und nicht nur in den kleinen EU-Staaten, denn auch in Frankreich verfügt die Rechts-Mitte-Regierung über keine eigene Mehrheit und in Deutschland stellt sich im Falle eines unüberbrückbaren Haushaltskonflikts unmittelbar die Frage nach der Alternative.
Fazit: Der auf EU-Ebene propagierte Aufrüstungskurs stößt in etlichen Mitgliedsländern der Europäischen Union auf Widerstand, weil sie sich vor dem Hintergrund einer eh schon drückenden Staatsverschuldung und großen gesellschaftlichen Herausforderungen eine teure militärische Aufrüstung nicht leisten können oder wollen. Vor diesem Hintergrund hat die propagierte »Koalition der Willigen« wenig Aussichten auf Erfolg.