23. März 2017 Otto König/Richard Detje: Türkei – Wahlkampf zur Abschaffung der Demokratie

Hayir!

Der Wahlkampf in der Türkei ist im vollen Gange. Es geht nicht darum, welche Partei das Land die nächsten Jahre regieren soll. Es geht um einen Systemwechsel, den gravierendsten Einschnitt, seit die Türkei unter Atatürk zu einem säkularen Staat wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg das Mehrparteiensystem einführte.

Am 16. April sollen die WählerInnen über die Einführung eines Präsidialsystems abstimmen, mit dem der Rechtsstaat, die Gewaltenteilung und parlamentarische Legislative abgeschafft würde. Das Narrativ der autoritären und »vom Volk« legitimierten Antwort auf den Putsch von minoritären Teilen der Militärs im Juli 2016 ist längere Zeit vorbereitet worden, wie auch der BND-Präsident Bruno Kahl nunmehr öffentlich kundtut: »Bereits vor dem 15. Juli hatte eine große Säuberungswelle der Regierung begonnen. Deshalb dachten Teile des Militärs, sie sollten schnell putschen, bevor es auch sie erwischt. Aber es war zu spät, und sie sind mit weggesäubert worden. … Was wir als Folge des Putsches gesehen haben, hätte sich – vielleicht nicht in der gleichen Tiefe und Radikalität – auch so ereignet. Der Putsch war nur ein willkommener Vorwand.«[1]

Es ist ein ungleicher, in weiten Bereichen einseitiger Wahlkampf. Die nationalistisch-islamistische AKP trommelt unterstützt von den regierungsnahen und gleichgeschalteten Medien kräftig für ein Evet (Ja). Kritiker, die für ein Hayir (Nein) zur »Präsidialdiktatur« werben, werden als »Terroristen« und »Staatsfeinde« kriminalisiert.

Kritische Presse und Meinungsfreiheit sind nahezu ausgeschaltet. Einem aktuellen Bericht des Europarats zufolge wurden 158 Zeitungen, Verlage, Rundfunk- und Fernsehsender per Notstandsdekrete verboten und 12.000 Internetseiten gesperrt. Über 200 JournalistInnen wurden vorübergehend festgenommen, 151 befinden sich aufgrund des Vorwurfs der »Unterstützung von Terrororganisationen« weiterhin in Haft.[2] Außer Cumhuriyet, Evrensel, T24 und Diken gibt es keine unabhängigen Medien mehr.

Anfang dieses Jahres saßen 41.000 wegen »Terrorverdacht« Beschuldigte in Untersuchungshaft – darunter über 2.000 Richter und Staatsanwälte. Gegen 100.000 laufen staatsrechtliche Ermittlungen, 36.000 müssen sich regelmäßig bei Polizeibehörden melden – und 5.000 Personen stehen auf Fahndungslisten. 

Am härtesten trifft es die die kurdisch-linke »Demokratische Partei der Völker« (HDP), deren 5,1 Millionen WählerInnen bei der Parlamentswahl im November 2015 Erdoğans Vorhaben einer autoritären Verfassungsänderung vereitelt hatten. Diese gut zehn Prozent der Wahlbevölkerung sollen ausgeschaltet werden. Der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas wurde im November letzten Jahres festgenommen – ihm drohen laut Anklage wegen PKK-Unterstützung und Feindschaft gegen das türkische Volk bis zu 142 Jahre Haft. In Haft befinden sich auch die 2. Vorsitzende Figen Yüsekdag, elf weitere Mitglieder der Parteiführung und – laut Human Right Watch – Tausende AktivistInnen und Parteimitglieder. Am brutalsten gehen AKP- und »Sicherheitskräfte« in Ostanatolien vor. BürgermeisterInnen wurden reihenweise ihrer Ämter enthoben; Städte und Gemeinden unter polizeilich-militärischer Sonderverwaltung gestellt. In Diyarbakir fordert die Anklageschrift gegen Bürgermeisterin Gültan Kisanak eine Haftstrafe von insgesamt 230 Jahren.

Gegen andere demokratische Kräfte in der Türkei, die nicht im Gefängnis sitzen, sondern »noch« in Freiheit von ihrem Recht Gebrauch machen wollen, auf der Straße für das »Nein« gegen die Abschaffung der Demokratie zu werben, geht die Polizei gewaltsam vor. Ministerpräsident Binali Yildirim richtete an sie die Warnung: Wer sich dem Wandel widersetzt, »wird ausgelöscht.«

Da Umfragen[3] in der Türkei trotz aller Repressionen noch keinen sicheren Wahlsieg für die Regierungspartei AKP und Staatschef Recep Tayyip Erdoğan erwarten lassen, tobt der Kampf um die Stimmen der Türken auch in Deutschland bzw. in Westeuropa. Allein in der Bundesrepublik sind 1,4 Millionen Türken beim Referendum stimmberechtigt. Die AKP-Regierung setzt auf Mobilisierung durch Eskalation – unter den Türken in Deutschland ist sie Mehrheitspartei.

Der Widerstand gegen die »Propaganda-Tour« von AKP-Ministern im europäischen Ausland wird mit rüden Tönen aus Ankara beantwortet. Auf gänzlich absurde Weise wird Inflationär der Faschismus-Vorwurf erhoben. Das Verbot des Auftritts des türkischen Justizministers Bekir Bozdag in der Stadt Gaggenau wird als »faschistisches Vorgehen« charakterisiert – von jenen, die eine Hexenjagd auf Andersdenkende in ihrem Land betreiben.

Der türkische Vize-Ministerpräsident Nurettin Canikli bezichtigt der Bundesrepublik sowie Österreich und den Niederlanden »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, da diese Länder durch Geld, Waffen und »moralische Unterstützung« Terroristen fördern würden, die in der Türkei Unschuldige ermorden, um ihnen nach der Flucht auch noch Schutz zu bieten. »Eure Praktiken unterscheiden sich nicht von den früheren Nazi-Praktiken«, erklärt Erdoğan nahezu täglich. Tausenden Anhängerinnen in Istanbul rief er mit Blick auf seine eignen Reisepläne nach Deutschland zu:[4] »Wenn sie mich nicht durch die Tür lassen, werde ich die ganze Welt aufwiegeln. Wenn ich will, komme ich«. Allerdings, ein solches Recht gibt es nicht, auch nicht für ihn. Das Bundesverfassungsgericht stellte vor kurzem fest, dass die deutsche Regierung das Recht habe, die Einreise und die Auftritte von ausländischen Regierungsvertretern zu verbieten.[5]

Die Bundesregierung nimmt in diesen Auseinandersetzungen eine zurückhaltende Position ein. Die Hexenjagd auf Oppositionelle wird allenfalls vorsichtig kommentiert und zu den schweren Verbrechen der türkischen Streitkräfte im Krieg gegen Teile der kurdischen Bevölkerung im Südosten der Türkei wird geschwiegen.[6] Dieses Schweigen wird vielfach mit dem Verweis auf das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen begründet. Doch die Motive sind vielfältiger – sie reichen von der NATO-Partnerschaft bis zu den engen wirtschaftlichen Beziehungen, wozu auch die Interessen der deutschen Rüstungsindustrie zählen. Immerhin gehört die Türkei zu den 15 größten Abnehmern deutscher Exporte. Deutsche Unternehmen haben in dem Land am Schwarzen Meer Direktinvestitionen von rund 13,3 Milliarden Euro getätigt und nutzen es als Drehscheibe für Geschäfte mit Staaten im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien.

Die Rolle und Bedeutung des Militärs hat sich unter dem AKP-Regime seit 2002 nachhaltig gewandelt – Erdoğan hat es verstanden, deren Einfluss im »Nationalen Sicherheitsrat« substanziell zu schwächen. Nach dem Putschversuch wurden mindestens 20.000 Militärs entlassen oder inhaftiert. Über ein eigenständiges politisches Gewicht verfügt die Militärführung nicht mehr. Andererseits sind die türkischen Streitkräfte die zweitgrößten im Nordatlantischen Bündnis und ihre wirtschaftliche Bedeutung ist immens. Die Militärindustrie – kontrolliert über den Pensionsfonds OYAK – deckt nicht nur große Bereiche des militärischen Eigenbedarfs ab, sondern zählt auch zu den stabilen Organisationen der türkischen Exportindustrie.  

Mit großer Sorge beobachten die politischen Berater der GroKo wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) seit geraumer Zeit, dass sich Ankara von der EU und NATO ab- und Russland zuwende. So treibt die Experten der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) die Frage um, ob die Türkei ihre traditionelle Mitgliedschaft in der NATO aufgeben und dafür der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) beitreten könne, einem Bündnis, dem neben China und Russland die vier zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan angehören.[7] Ihre Warnung fand Eingang in die Regierungserklärung von Kanzlerin Merkel, die im Bundestag ausführte: »Unser außen-, sicherheits- und geopolitisches Interesse kann es nicht sein, dass die Türkei, immerhin ein NATO-Partner, sich noch weiter von uns entfernt«, sonst riskiere man, dass die Zusammenhalt der NATO Schaden nehme.

Mit ihrer interessengeleiteten »Vogel-Strauß-Politik« unterlässt die Bundesregierung Hilfestellung bei Menschenrechtsverletzungen.[8] Es ist mehr als fragwürdig, wenn in Teilen der bundesdeutschen Medien die Frage aufgeworfen wird: Wie kann man Meinungsfreiheit in der Türkei fordern und diese gleichzeitig türkischen Regierungsmitgliedern auf Deutschland-Besuch verweigern? Gleich, wie man zu den Forderungen nach Auftrittsverboten steht: Wir halten es nicht für legitim, die Inhaftierung von Andersdenkenden mit absurden Terrorvorwürfen und die Verweigerung der Auftritte von wahlkämpfenden Ministern auf eine Stufe zu stellen. Zu recht schreibt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung: »Es geht nicht mehr nur darum, dass da ein Redner fragwürdige Ansichten vertritt. Es geht darum, dass dieser Redner seine Macht dazu genutzt hat, Menschen zu malträtieren – und das noch weiter forcieren und auch auf deutschem Boden propagieren will.« (6.3.2017)

[1] Interview mit BND-Präsident Kahl in SPIEGEL 12/2017 vom 18.3.2017, S. 40.
[2] Das Parlament, Nr. 9-10, 27.2.2017, S. 15.
[3] Laut einer Erhebung des renommierten Gezici-Instituts Anfang 2017 wollen 58% der WählerInnen gegen die Einführung des Präsidialsystems stimmen. (Telepolis, 5.2.2017)
[4] Dass Recep Tayyip Erdoğan mit seinem Urteil immer schnell zur Hand ist, zeigt der aktuelle Konflikt mit den Niederlanden. »Das sind Nachfahren der Nazis, das sind Faschisten«, beschimpfte er die niederländische Regierung, die sowohl den Auftritt des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu und der türkischen Familien- und Sozialministerin Fatma Betül Sayan Kaya in Rotterdam untersagt hatte.
[5] Ein einfacher deutscher Bürger kann nicht verhindern, dass ein ausländischer Minister oder gar Präsident auf deutschem Boden Wahlkampf macht; eine entsprechende Verfassungsbeschwerde scheiterte jetzt in Karlsruhe. Die Bundesregierung könnte das: Ausländische Regierungspolitiker haben in amtlicher Funktion kein Einreise- und Rederecht in Deutschland, darüber muss die Bundesregierung entscheiden, (Az: 2 BvR 483/17)
[6] Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte klagt die türkische Regierung an, von Juli 2015 bis Dezember 2016 bis zu 500.000 Menschen im Südosten der Türkei zu Vertriebenen gemacht, ganze Gemeinden niedergewalzt sowie mit Folter und Mord ein Schreckensregime errichtet zu haben.
[7] Vgl. Jan Gaspers/Mikko Huotari/Thomas Eder: Kann die Türkei die Shanghai-Karte spielen? Bundesakademie für Sicherheitspolitik: Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 6/2017.
[8] Die Bundesregierung verschärfte erneut ihren Kurs gegen die in Deutschland verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Zukünftig sind auch Fahnen mit Portraits des seit 17 Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Anführers Abdullah Öcalan auf Kundgebungen in Deutschland verboten, so Bundesinnenminister Thomas de Maizière.

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