21. Juli 2019 Joachim Bischoff/Gerd Siebecke: Zum Tod von Ágnes Heller (1929-2019)

»Ich habe im Leben nichts bereut«

Am 19. Juli 2019 verstarb im ungarischen Plattensee-Bad Balatonalmadi im Alter von 90 Jahren Ágnes Heller. Mit ihr verlieren wir eine wichtige kritische und marxistische Stimme.

Am 12. Mai 1929 in Budapest geboren und in einem jüdischen Elternhaus aufgewachsen, musste Ágnes Heller nach der Machtübernahme der faschistischen Pfeilkreuzler 1944 in Ungarn gemeinsam mit ihrer Mutter immer wieder vor den Nazis fliehen, entging jedoch Deportation und Ermordung – im Unterschied zu ihrem Vater, der in Auschwitz ermordet wurde, und zahlreichen weiteren Verwandten.

1947 begann sie an der Universität Budapest ein Studium der Physik und Chemie, wechselte unter dem Eindruck einer Vorlesung des marxistischen Philosophen Georg Lukács das Studienfach und begann, Philosophie zu studieren. »Ich habe Lukács gehört, ich habe überhaupt kein Wort verstanden. Aber eins verstand ich, dass dies die wichtige Sache ist und dass ich das verstehen muss und soll. Und dass mein ganzes Leben darüber gehen wird.«

1955 wurde sie von Lukács, mit dem sie bis an sein Lebensende befreundet war, promoviert und schließlich seine Assistentin. Nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands im Jahr 1956 ging sie auf kritische Distanz zum System: »Nach 1956 veränderte sich auch meine Philosophie. Ich bezeichnete mich nun als Marxistin, nicht mehr als Kommunistin. Ich war oppositionell geworden.«

Ungarn war danach während der gesamten Ära des Generalsekretärs der ungarischen KP János Kádár (1956-1988) nach ihrer Bewertung »in der Dunkelheit eines endlosen Tunnels« begraben. Ágnes Heller wurde aus der Partei ausgeschlossen, Berufs- und Schreibverbot folgten. Im Jahr 1965 überlistete sie die politische Aufsicht und fuhr zur Sommeruniversität der jugoslawischen Praxis-Gruppe auf der kroatischen Insel Korčula, wo sie Iring Fetscher, Leszek Kolakowski und Jürgen Habermas traf und sich in die Debatten kritischer Denker und Marxisten wie Herbert Marcuse, Erich Fromm, Jürgen Habermas und Ernst Bloch einmischte. »Und da kommt Ernst Bloch, der Alte, der Doyen des linken Denkens und umarmt mich und küsst mich – und das war doch ein wunderbares Moment.«

In Korčula war es auch, dass sie und ihre Freunde von der »Budapester Schule« (u.a. Ferenc Fehér, Mihály Vajda, Maria und György Márkus, Andras Hegedüs) 1968 auf offener Bühne gegen den Einmarsch der Sowjetarmee in die Tschechoslowakei protestierten. »1968 war mein erster wirklich radikaler Auftritt gegen die Regierung, als ich mit Freunden gegen die Besetzung der Tschechoslowakei durch die ungarische und die sowjetische Armee protestierte. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings verlor ich meinen Glauben an einen Kommunismus mit menschlichem Gesicht. Als Neue Linke hatte ich mich aber schon früher verstanden. 1965 lud man mich auf die kroatische Insel Korčula ein. Bereits dort, unter Linken aus Europa und Amerika, die alle keine Sozialisten waren, merkte ich, dass ich Teilnehmerin an einem Diskurs der damals sehr pluralistischen Linken geworden war.«

Weitere kritische Interventionen führten schließlich 1973 zu ihrer akademischen Maßregelung, im Jahr 1977 emigrierte sie mit ihrem Mann Ferenc Fehér (1933-1994) nach Australien und lehrte in Melbourne Soziologie. 1986 wurde sie auf den Hannah-Arendt-Lehrstuhl an der Philosophiefakultät der New School for Social Research in New York berufen.

Bereits in frühen Publikationen wandte sich Ágnes Heller in Anlehnung an die Arbeiten von Georg Lukács vernachlässigten Themen marxistischer vor allem aber »marxistischer-leninistischer« Theorie zu. »Ich war bereits in ›Der Mensch der Renaissance‹ (1967 entstanden – d.A.) davon überzeugt, und bin es auch seither, dass alle großen Leistungen der Kultur aus den Bedürfnissen, Konflikten und Problemen des täglichen Lebens hervorgehen.« Insofern trug ein anderes frühes Hauptwerk nicht zufällig den Titel »Das Alltagsleben«.

In ihrem Essay »Hypothese über eine marxistische Theorie der Werte« zitierte sie eine Passage aus dem »Grundrisse«-Manuskript von Marx: »Was ist der Reichtum andres, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen?« Der Beantwortung dieser Frage widmete sie zahlreiche Studien und Veröffentlichungen, die betont politisch waren.

In dieser Zeit entwickelte sich eine intensive publizistische Zusammenarbeit mit dem VSA: Verlag und der Zeitschrift Sozialismus, einschließlich von mehreren Besuchen in Hamburg (u.a. zur Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt im Jahr 1981). Es erschienen die Bücher »Theorie der Bedürfnisse« (1976), »Instinkt, Aggression, Charakter« (1977) »Philosophie des linken Radikalismus« (1978), »Theorie der Gefühle« (1980) sowie »Das Leben ändern« (1981).

In der Ausgabe 6-1980 veröffentlichte die Redaktion dieser Zeitschrift ihren Artikel »Frauen, bürgerliche Gesellschaft und Staat« (den wir anlässlich ihres Todes noch einmal zugänglich machen), der mit einer bereits damals bemerkenswerten Einschätzung endet: »Es ist sehr wahrscheinlich, dass große Familiengemeinschaften die Kernfamilien ersetzen. Die Tendenz zur Organisierung gemeinschaftlicher Formen des Alltagslebens in den gegenwärtigen Wohlfahrtsstaaten weist in diese Richtung. Gleichzeitig können wir aber auch Pluralismus in Bezug auf die Lebensformen prognostizieren, also nicht nur die Existenz von verschiedenen Typen von Familiengemeinschaften, sondern auch die Wiedergeburt der Kleinfamilie auf einer völlig neuen Grundlage. Eins jedoch ist sicher: Wenn wir die Erde zu unserem Heim machen wollen, dann müssen wir ein Heim auf der Erde haben.«

In diese Zeit fällt auch eine intensivere Auseinandersetzung – nicht zuletzt angestoßen durch die sich zuspitzenden Entwicklungen in Polen – mit den Gründen des beginnenden Niedergangs der realsozialistischen Länder. Bereits 1979 erschien im VSA: Verlag der Band »Diktatur über die Bedürfnisse. Sozialistische Kritik osteuropäischer Gesellschaftsformationen« mit Beiträgen von Ágnes Heller und Ferenc Fehér.

1983 folgte die deutsche Übersetzung der umfangreichen gemeinsam mit Ferenc Fehér und György Márkus verfassten Studie »Der sowjetische Weg. Bedürfnisdiktatur und entfremdeter Alltag«. Im Vorwort notierten die Autoren »Unsere Hoffnungen richten sich darauf, dass nach dem Zusammenbruch oder der radikalen Veränderung des sowjetischen Unterdrückungsregimes auch die lateinamerikanischen, asiatischen und afrikanischen (kapitalistischen bzw. fundamentalistischen) Diktaturen untergehen werden, während sich die westlichen Demokratien in die Richtung wirklicher Demokratie, also in sozialistischer Richtung radikalisieren. … Wir betonen die Überzeugung, dass die Welt nicht weniger, sondern mehr Sozialismus braucht, als sie heute hat.«

Auch wenn Ágnes Heller in späteren Schriften – unter anderem in ihrer Autobiografie »Der Affe auf dem Fahrrad: Eine Lebensgeschichte« (1997 bei Philo Fine Arts erschienen) – differenzierter argumentierte, hat sie sich als Verteidigerin progressiver demokratischer Werte immer wieder zu Wort gemeldet, Kontroversen nie gescheut. Als Viktor Orbán 2010, nach achtjähriger Abstinenz von der Regierungsmacht wiedergewählt wurde, war sie es, die ihre Stimme erhob – bei Demonstrationen, in Vorträgen, gegenüber den Medien, auch den deutschen, wie im Jahr 2011: »Orbán ist auch eine Vaterfigur. Das ist wieder einmal ein Mann. Er darf unsere Sorgen auf sich nehmen. Und für uns entscheiden und statt uns denken. Und er sagt, was wir denken sollen, was wir tun sollen, und dann ist alles in Ordnung.« Ihre entschiedene Gegnerschaft zur Regierung Orbáns hat sie noch in diesem Frühling in dem Buch »Paradox Europa« in der Edition Konturen verdichtet, das die gegenwärtige europäische Krise analysiert.

Dem DeutschlandfunkKultur (siehe auch die Gespräche in der »Langen Nacht mit Ágnes Heller«, die hier nachgehört werden können) gegenüber sagte sie anlässlich ihres 90. Geburtstag: »Ich habe im Leben nichts bereut … Natürlich habe ich schon mehrmals schlecht gewählt. Das heißt, das kann einen zu einem Besseren verändern, auch wenn man einen Fehler gemacht hat.« Auf kluge Interventionen von Ágnes Heller werden wir in Zukunft verzichten müssen.

Zurück