26. Mai 2014 Redaktion Sozialismus: Die Wahlen zum Europäischen Parlament 2014

Im Schatten der Krise

Redlich Mühe haben sich die Eliten gegeben, den politischen Diskurs aufzuhellen. 2009, das Jahr der Großen Krise, in dem die Beteiligung an der Wahl des Europäischen Parlaments auf 43% abgesackt war, sollte vergessen sein. 2014 wird als das Jahr des Aufschwungs in eine neue Zukunft zelebriert: Rückkehr des Wachstums.

In Irland und Portugal wurden die »Rettungsschirme« eingeklappt, in Griechenland sogar ein Haushaltsüberschuss zusammen»gespart«. Im Konflikt um die Ukraine, wo parallel zu den Wahlen in den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Oli­garch zum Präsidenten gewählt wurde, der mit Waffendeals mehr verdient als mit Schokolade, erwies sich Europa als »Garant des Friedens«.[1] Und um dem Demos wirklich etwas zu bieten, konkurrierten erstmals Spitzenkandidaten um den Posten des EU-Kommissionspräsidenten.

Doch gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit lässt sich nicht einfach inszenieren, Zukunftspfade nicht deklarieren. Die Stimmung ist nicht unähnlich der sozialen Lage: 44% der Europäer glauben, dass »die Auswirkungen der Krise bereits ihren Höhepunkt erreicht haben«, während 47% befürchten, dass »das Schlimmste noch bevorsteht – so der Befund einer aktuellen Studie im Auftrag der EU-Kommission.[2] »Arbeitslosigkeit« und »die wirtschaftliche Situation« sind demnach die Themen, die die BürgerInnen vor allem beschäftigen. Bei deutlichen nationalen Unterschieden sind die Vertrauenswerte für die europäischen Institutionen gering.

Gleichwohl: Man ist geneigt, die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung nicht weiter zurückgegangen ist, bereits als Erfolg zu werten. Tatsächlich ist sie im EU-Durchschnitt sogar um knapp einen Prozentpunkt auf 43,9% gestiegen.[3] Doch Erfolg kann nicht sein, was dahinter steckt: das weit verbreitete Gefühl der Ohnmacht, als WahlbürgerIn tatsächlich im positiven Sinne etwas verändern zu können. Europa ist soziale und politische Realität, und als solche auch nicht nur Abgrenzungsfolie, aber kein Terrain, auf dem die politische Willensbildung eine starke Verankerung hat.

Die Konkurrenz der Spitzenkandidaten der beiden großen europäischen Parteien-Familien war als parlamentarische Revitalisierung gedacht – und in Deutschland, wo die SPD ansehnlich zulegte, ist das Kalkül zumindest teilweise mit Martin Schulz aufgegangen. Für Europa insgesamt lässt sich das nicht sagen.

Die europäische Sozialdemokratie ist 2014 über die 25%, die sie 2009 erzielte, nicht hinaus gekommen, während die Europäische Volkspartei mit ihrem Kandidaten Jean-Claude Juncker von 36 auf 28,2% abgesackt ist. So wie es in den zurückliegenden fünf Jahren eine informelle große Koalition beider »Familien« gab, so wird es auch in der kommenden Legislaturperiode sein.

Erkennbar schwer fiel den beiden Spitzen folglich auch die Arbeit der Zuspitzung. Zumal in einem Parlament, das auf fraktionsübergreifende Kompromisse angewiesen ist, um sich Gehör gegenüber Kommission und dem Rat der Regierungschefs zu verschaffen, und das in parlamentarischen Kernfragen wie der Haushalts- und Steuerpolitik ausgebootet ist. Sogar beim Streitthema TTIP hat das EU-Parlament wie in anderen Handelsfragen auch schlicht kein Mitspracherecht.

Das Experiment Spitzenkandidatur in einem Verfahren faktisch institutionalisierter großer Koalition ist nicht geeignet, die klaffende Demokratielücke zu schließen. Mit der Fortsetzung der Austeritätspolitik wird das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie, von Elitenherrschaft und Demos noch weiter auseinandertreten.

Klarer Gewinner der Europa-Wahlen sind die europaskeptischen Kräfte im rechten Parteienspektrum, vor allem die Rechtspopulisten und in Griechenland sogar offen faschistische Kräfte. In Frankreich ist der Front National mit 25% stärkste politische Kraft, in Dänemark ist es die Dänische Volkspartei mit 26,6%, in Großbritannien die UKIP. In Österreich konnte die FPÖ auf 20,5% zulegen und in Ungarn führt FIDESZ unangefochten mit 51,5%.

EU-parlamentarisch wird die Zusammenarbeit untereinander intensiviert werden – FN, Lega Nord, Vlaams Blok, die Partij voor de Vrijheid und FPÖ werden wohl dabei sein. Vorzurechnen, dass sie im Parlament nicht mehr als ein Zehntel der Mandate repräsentieren, unterschätzt die politische Brisanz dieser Entwicklung gewaltig.

Dass die Krise erhebliche Spuren in fast allen EU-Staaten hinterlassen hat, ist nicht verwunderlich. In einigen Ländern hat sie eine gegen das politische Establishment gerichtete Anti-Stimmung verstärkt. In Zeiten massiver ökonomischer Probleme, hoher Arbeitslosigkeit und drastischer Sparpolitik hatten Wahlforscher seit langem mit einer deutlichen Stärkung des rechten Spektrums gerechnet. Dies ist von den Wahlergebnissen bestätigt worden.

Die politische Konsequenz wird sein: Dort, wo es um die Stärkung der europäischen Institutionen oder den europäischen Haushalt geht, werden Sozialdemokraten und Konservative noch mehr um eine europäische GroKo auch mit Unterstützung der Liberalen bemüht sein. Die Stärkung der politischen Rechten ist Ausdruck der Krise der Demokratie. Der rechte Populismus vor allem im Zentrum und Norden Europas kommt als nationalistische Besitzstandswahrung daher. Und in den ärmeren Ländern der südlichen Peripherie drücken die Proteststimmen die Ohnmacht und die Perspektivlosigkeit über die schlechte ökonomisch-soziale Lage aus.

Im Schatten der ökonomischen, sozialen und politischen Krise verändert sich die politische Landkarte Europas – und ist nach diesen Wahlen teilweise nicht mehr wiederzuerkennen. In Griechenland ist das klientelistische Parteiensystem von ND und PASOK aufgesprengt, in Dänemark die alte Parteienstruktur des Wohlfahrtsstaates gebrochen, in Großbritannien das Zwei-Parteien-System ins Wanken gebracht – und in Frankreich repräsentiert die Partei des Präsidenten, die die nationalen Wahlen unter anderem damit gewonnen hatte, dass sie Europa politisch und sozial neu gestalten wollte, gerade noch 14% der Stimmen.

Von den anderen Parteien-Familien haben sich die Grünen mit 7,3% in etwa halten können – ähnlich wie in Deutschland, während sie in Frankreich kräftig verloren haben. Die Sozialisten konnten einen knappen Prozentpunkt hinzugewinnen und liegen jetzt bei 5,7%, sodass sie mit ca. 44 Abgeordneten im EU-Parlament vertreten sind.

Der Spitzenkandidat der Europäischen Linken, Alexis Tsipras, hat im Wahlkampf diese Wahl als die wichtigste in der Geschichte der Europäischen Union bezeichnet. Es gehe nicht nur darum, so der Vorsitzende der griechischen SYRIZA, neue Mitglieder des Europaparlaments zu wählen. »Wir stimmen für neue Machtverhältnisse in einem Europa, das am Scheideweg steht.« Es gehe vor allem darum, »die zerstörerische Sparpolitik zu stoppen« und »die Demokratie zurückzugewinnen«. Tspiras rief »diejenigen, die Europa kritisch betrachten, aber progressiv denken« dazu auf, ihr Wahlrecht in Anspruch zu nehmen und für eine Alternative zum Neoliberalismus zu optieren: »die jungen Menschen, die Frauen, die Arbeitslosen und die organisierten Lohnarbeiter müssen zu Pionieren des Wandels in Europa werden. Jetzt muss Europa nach links abbiegen«.

Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Wir befinden uns in einer Periode, in der der weitere Krisenverlauf noch nicht präzise eingeschätzt werden kann. Zu Recht wird die Formel von einer verlorenen Dekade für viele Länder vor allem in Südeuropa bemüht. Spanien, Portugal und Griechenland stecken weiter in einer Depression. Der griechische Premierminister Samaras würzte seine Wahlkampfauftritte mit der »frohen Botschaft«, das Land werde immerhin im Jahr 2020 in etwa das Vorkriseniveau wieder erreicht haben. Die soziale Ungleichheit, die ein Treiber der Krise war, wird durch die Krise noch schlimmer. Und im Ergebnis der Europawahlen ist – bei niedrigem Niveau der Wahl- und damit der Beteiligung an der Ausgestaltung der eigenen Belange – eben das bereits angesprochene »Weiter so« herausgekommen.

Das Wahlergebnis wird von der hegemonialen Elite als Aufforderung zur Fortsetzung der bekannten Mischung von Austeritäts- und Wettbewerbspolitik gedeutet. Wie schwierig und zeitaufwendig die Justierung eines übernationalen politischen Kompromisses durch eine Art Großer Koalition zwischen bürgerlichen Kräften und europäischer Sozialdemokratie auch sein mag, die politischen Weichen sind auf eine Fortsetzung des bisherigen Kurses gestellt. In diesem Sinne interpretiert der bundesdeutsche Finanzminister und neoliberale Vordenker Wolfgang Schäuble die Bestätigung des politischen Kräfteverhältnisses inklusive der rechtspopulistischen und eurokritischen Begleitmusik als Signal neuer europäischer Ernsthaftigkeit.[4]

Es ist also keineswegs so, dass die bisherigen politischen Akteure des »Elitenprojektes Europa« durch die anhaltenden ökonomischen Krisensymptome oder die deutlich verringerte Zustimmung zum bisherigen Kurs auch nur verunsichert wären. Im Gegenteil: Das bisherige Krisenmanagement und der letztlich begrenzte Legitimitätsverlust der europäischen Institutionen und der neoliberalen Akteure werden als Ermutigung für eine Fortsetzung gewertet. Das Vertrauen in Europa kehre zurück: Die vergangenen Krisenjahre hätten bewiesen, dass Europa und die herrschende Elite politisch handlungsfähig ist. Die national-europäische Doppeldemokratie könne für die Welt ein Modell für globales Regieren sein, für Europäer eine Quelle von Identifikation mit Europa.

Wolfgang Schäuble ist sich sicher – mindestens für die Mehrheit der wirtschaftlich-politischen Elite: »Die Krise in der Ukraine zwingt Europa zu neuer Ernsthaftigkeit und zu größerem Bemühen um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Sie zeigt, wie sehr wir Europäer weiter an uns arbeiten müssen, um in der neuen Weltunordnung zu bestehen.« Die europäische Antwort auf die neue Weltunordnung und die wachsenden Herausforderungen durch fallende und zerfallende Staaten ist sei Stärkung der europäischen Hegemonialposition.

Für Europa habe die Ukraine-Krise einen Katalysatoreffekt. »Die Krise in und um die Ukraine, die noch nicht völlig überwundene Krise im Euroraum und die gewaltigen globalen Herausforderungen, die ja ganz unabhängig von den europäischen Krisen nicht kleiner werden: All das zwingt uns Europäer, unablässig und konsequent an uns zu arbeiten, an unserer Wettbewerbsfähigkeit und an unseren politischen Strukturen. Es geht darum, im weltweiten Systemwettbewerb den Erfolg unseres europäischen Lebensmodells unter schwierigen Bedingungen auch künftig zu beweisen.« Wettbewerbs- und neoliberale Strukturpolitik sind die Schlüsselbegriffe der modernen bürgerlichen Konzeption für das weitere 21. Jahrhundert.

Die Herrschenden sprechen ihre weiteren politisch-ökonomischen Zielvorstellungen klar aus. Die linke Alternative eines Europas mit einer demokratischen Wirtschaftsordnung, einem Vorrang für die Binnenmarktentwicklung und deutlich veränderten Verteilungsrelationen ist in den Wahlen und den sie begleitenden politischen Auseinandersetzungen nur in groben Konturen sichtbar geworden. An der Konkretisierung und Verallgemeinerung ist zu arbeiten. Gerade für die europäische Linke gilt: In Absetzung von jedwedem Renationalisierungskurs kämpfen die Organisationen der Zivilgesellschaft und der Linken für ein stärkeres Europa, vor allem für die großen und übergreifenden Fragen, die kein Staat allein lösen kann. Für das Europäische Parlament brauchen wir ein einheitliches, ein europäisches Wahlgesetz. Und das Parlament muss auf der Basis der Gleichheit der Stimmen zusammengesetzt sein – es repräsentiert die Bürger als Bürger der EU.

Der globalisierten Welt wird der Nationalstaat nicht mehr gerecht werden. Der Nationalstaat kann die ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme des 21. Jahrhunderts nicht lösen. Dazu bedarf es einer neuen, sozialen Wirtschafts- und Sozialordnung und damit neuer Formen der Willensbildung und des Regierens.

[1] Institut für Demoskopie Allensbach: Ein veränderter Blick auf Europa? FAZ, 14.5.2014.
[2] Eurobarometer Survey aus dem März 2014, Bericht vom Mai 2014, in: eu.active
[3] In etlichen Ländern fanden zudem Wahlen zu Kommunalvertretungen statt, so auch in zehn Bundesländern Deutschlands.
[4] Wolfgang Schäuble: Die neue europäische Ernsthaftigkeit, in: FAZ vom 21.5.2014, nachzulesen unter www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/europas-zukunft/wolfgang-schaeuble-ueber-die-zukunft-der-eu-die-neue-europaeische-ernsthaftigkeit-12949008.html

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