30. Oktober 2018 Bernhard Sander: Der Zustand der französischen Linken

Im Zwielicht

Der Europawahlkampf wirft auch in Frankreich seine Schatten voraus. In der kommunistischen PCF hat sich die Basis gegen die Leitlinien des Vorstandes ausgesprochen und damit die Krise der Partei verschärft. Bei La France Insoumise (FI) und ihrem nicht gewählten Führer Jean Luc Mélenchon ist die Staatsanwaltschaft wegen Scheinarbeitsverhältnissen im Europaparlament vorstellig geworden.

Die Bewegung befindet sich damit in prominenter Gesellschaft mit dem rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) und der konservativ-liberalen MoDem, die die Regierung unterstützt.

Der PCF, ein imposantes Gebäude mit angeschlossenem Nostalgie-Verein, beharrt auf einem eigenständigen Antritt zur Europawahl und wird derzeit mit 2% taxiert. Im November tagt der 38. Parteitag und die Partei befindet sich auf einem Tiefpunkt ihrer Geschichte. Ihre letzte eigenständige Präsidentschaftskandidatur sammelte 2007 nur 1,93% der Stimmen, und die Parlamentswahlen 2017 brachten auch nur 2%. Viele Mandate in Départements, Gemeinderäten und Bürgermeisterpositionen gingen ebenso verloren wie Mitglieder.

Noch 2009 meldete die Partei, die einmal die stärkste Frankreichs war, 130.000 zahlende Mitglieder, heuer verbleiben 49.000. Die Hälfte der Mitgliedschaft wohnt in nur 16 Departements, d.h. der PCF hat seine Verankerung in der Fläche verloren. Da es sich um die altindustriellen Regionen im Norden, an der Rhonemündung und im Pariser Becken handelt, also dort wo sich André Chassaigne durchgesetzt hat, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Altersstruktur deutlich nach oben verschoben ist.

Das Papier, das der seit acht Jahren an der Spitze stehende Pierre Laurent vorlegte, erhielt 49 der 91 anwesenden Mitglieder der nationalen Leitung, einem Gremium mit nominell 170 Mitgliedern. Seine Linie ist das »Weiter so« und die Kooperation mit der linken Bewegung La France Insoumise. Der Flügel um Elsa Faucillon kritisiert genau das und fordert aufgrund der Nahtoderfahrung des letzten Parlamentswahlkampfes (»Nekrose«) eine Annäherung an FI. Die Leute um den Fraktionsvorsitzenden André Chassaigne bevorzugen Bündnisse mit den verbliebenen Sozialisten des PS bei den kommenden Kommunalwahlen, und halten eine eigenständige Kandidatur bei den nationalen Wahlen für identitätswahrend unabdingbar. Eine weitere Minderheit pocht ebenfalls auf die kommunistische Identität und verspricht eine Erneuerung in den sozialen Kämpfen.

Wirkliche ideologische Differenzen sind kaum zu erkennen, kurzfristige taktische Fragen dominieren. Aber: »Je kleiner der Käse, desto verbissener kämpfen die Mäuse.« So droht eine Personalisierung um die Charaktereigenschaften und Führungsfähigkeiten Pierre Laurents, der sich bemüht, die Strömungskonflikte zu moderieren. In der Kritik steht aber die Realo-Strömung um Chassaigne, die seit der Zeit des Präsidentschaftswahlkampfes von Robert Hue, der heute irgendeinen subalternen Posten in Macrons Regierungsmannschaft bekleidet, jede Erneuerung verhindert hat. Hier sammeln sich auch Traditionalisten um den ehemaligen Abgeordneten André Gérin, Bürgermeister des »Problem-Vororts« Vénissieux (bei Lyon), der sich gegen Einwanderung ausspricht und gegen die Ehe für alle.

30.833 der verbliebenen 49.218 eingetragenen Mitglieder haben sich an der Abstimmung beteiligt (62,65%). Die relative Mehrheit von ihnen entschied sich dafür, den Text der Strömung um Chassaigne zur Basis der Beratungen zu machen (42,15%). Der amtierende Vorsitzende kam mit 38% heraus, Elsa Faucillon sammelte knapp 12% hinter ihre Position. Die Vertreter der Basiskämpfe kamen auf knapp 8%.

Bei FI nehmen die internen Spannungen ebenfalls zu. Der Pressesprecher der Bewegung, Djordje Kuzmanovic, unterstrich Anfang September gegenüber der Wochenzeitschrift Nouvelle Observateur: »Man kann die Leute nicht im Mittelmeer sterben lassen. Aber wenn einer Person kein Asylrecht zusteht, muss man sie in ihr Land zurückschicken. Und zwar zügig.« Und er verallgemeinert: »Die polnischen Arbeiter leiden nicht unter der Ankunft afrikanischer Migranten sondern unter den ukrainischen Arbeitern.«

Daraufhin wurde von drei politischen Zeitschriften (Mediapart, Politis, Regards) ein Manifest für die Aufnahme von Geflüchteten lanciert, das die FI-Leitung nicht unterschreiben wollte. Am 26. September online gestellt, bekräftigt der Text, man dürfe »keine Zugeständnisse an Positionen der extremen Rechten machen …. Es ist illusorisch zu denken, man könne die Migrationsbewegungen eindämmen oder gar unterbrechen. Das versuchen zu wollen, endet immer damit, zum übelsten gezwungen zu sein.«

Jean-Luc Mélenchon, informeller Kopf von FI, distanzierte sich von der »strikt persönlichen Meinung« Kuzmanovics. Aber er betonte mehrfach, man »muss die Fluchtursachen bekämpfen« und das »Recht auf Leben und Arbeiten zuhause« verteidigen.

Wiederholt wird nach der Sommerpause vom PCF-Listenführer Ian Brossat mit Hinweis auf seine jüdischen Großeltern, die aus Polen nach Frankreich flohen, das Recht auf Asyl gegen die FI-Position in Stellung gebracht, wie sie der FI-Abgeordnete Adrien Quatennens in einem Tweet umreißt: »Die großen Ursachen der Bevölkerungsbewegungen sind bekannt: Krieg, ungleiche Handelsabkommen, Klimawandel. Und dagegen kann man nichts tun? Falsch. Wir können gegen diese Ursachen etwas tun.«[1] Brossat habe FI beleidigt und deshalb werde er nicht zum Pressefest der Humanité kommen.

Mélenchon selbst hatte schon 2016 im Europa-Parlament »dieses Europa der sozialen Gewalt« angegriffen, »wie wir es in jedem Land jedesmal sehen, wenn ein entwurzelter Arbeiter ankommt, der sein Brot jenen stiehlt, die sich an seiner Stelle befinden«. Das war, bevor er im Präsidentschaftswahlkampf die Menge bei seiner öffentlichen Wahlkampfrede am Alten Hafen von Marseille zu einer Schweigeminute für die Ertrunkenen aufforderte und die Aufnahme der Geflüchteten als menschliche Verpflichtung bezeichnete.

Mélenchon geißelte Ende August 2018 erneut jene Kräfte, »die die Einwanderung durch Freihandelsverträge organisieren und sie anschließend nutzen, um Druck auf die Löhne und die sozialen Errungenschaften auszuüben«. Als habe dieser Druck nicht schon in all den Jahren zuvor bestanden. Mélenchon würdigt gleichzeitig die Verdienste von Rettungsschiffen wie der Aquarius und fordert die Legalisierung des Aufenthaltsstatus der »sans papiers« (die oft jahrelang zwar einen Arbeitsvertrag aber keine Aufenthaltsberechtigung haben).[2]

Clementine Autain, Regards-Mitherausgeberin und Abgeordnete in der FI-Fraktion, machte mit einem Post deutlich: »In einer politischen Landschaft, in der fremdenfeindliche Gedanken gedeihen, … muss der Kampf gegen alles, aus dem die extremen Rechten und dem Faschismus Honig saugen können, ohne Zweideutigkeiten geführt werden. Für das Lager der ökologisch-sozialen Transformation ist in den Köpfen und an den Urnen kein Sieg möglich ohne Gegenoffensive in der Migrationsfrage.«[3] Brossat beansprucht diese Position für den PCF: »Wenn es nur noch eine Liste gibt, die die Fahne gegenüber den Populisten und Xenophoben hochhält, werden wir es sein.«

Manuel Bompard, der FI-Listenführer bei der Wahl zum EU-Parlament, setzt noch eins drauf: »Ich bin nicht für die Abschaffung der Grenzen. Sie sind programmatische Elemente von FI. Wenn man den solidarischen und ökologischen Protektionismus verteidigt, wie wir es tun, braucht es Grenzen. Das Recht auf Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit … braucht Kriterien: Man muss einen Arbeitsvertrag nachweisen wie die sans papiers, ein Kind in der Schule haben oder die Anerkennung eines Status als Wirtschafts- oder Klimaflüchtling, wie wir ihn fordern. Diese Kriterien, wie wir sie konzipieren wollen, sind sehr weitgehend. Sie erlauben es der Staatsgewalt, die Kontrolle zu wahren und zu entscheiden, wer sein nationales Territorium betreten und sich niederlassen darf.«

Die Beliebigkeit, mit der das Asylrecht oder die Bekämpfung der Fluchtursachen in Frankreich und in Deutschland mal zur Begründung der »no border«-Position und mal zur Begründung eines Einwanderungsgesetzes herangezogen werden, zeigt, dass es bei dieser Auseinandersetzung nicht nur um Inhalte, sondern um die Frage der politischen Hegemonie auf der Linken geht. Offenbar schert sich jenseits des Rheins keine der beteiligten Gruppen darum, dass der Konflikt gerne von den Leitmedien hochgekocht wird, um davon abzulenken, dass Präsident Macron auf dem Tiefpunkt seiner Beliebtheit angelangt ist und der RN von Marine Le Pen in den Umfragen als die stärkste Kraft (21%) ausgewiesen wird.

Mélenchon selbst kritisiert, »aus der Migrationsfrage das zentrale Wahlkampfthema zu machen, heißt Macron und Le Pen die Suppe zu servieren«.

Letztlich auch um diese internen Spannungen vergessen zu machen, polemisiert Mélenchon nach den Hausdurchsuchungen Ende Oktober, dass ihm und der Bewegung der politische Prozess gemacht werden solle und die Lügenpresse willfährig helfe. Bompard, Kampagnen-Leiter von FI, verklagte Mediapart wegen Geheimnisverrats in einem laufenden Verfahren. Es geht um den Anfangsverdacht aufgeblähter Rechnungen in der Präsidentschaftskampagne (die Grundlage für staatliche Wahlkampfkostenerstattung sind) zugunsten einer Firma, die der damaligen Kommunikationsberaterin Mélenchons, Sophia Chikirou, gehört.

Wegen ähnlicher Methoden wird auch gegen Macron ermittelt. Mediapart behauptete zudem, bei der Hausdurchsuchung seien 12.000 Euro gefunden worden und der Chef habe mit seiner Beraterin »ein Verhältnis, das über das Professionelle hinausgehe«. Mélenchon verteidigte Chikirou, sie habe sich nicht persönlich bereichert und die Darstellung sei »frauenfeindlich«. Der Chef selbst eskalierte den Streit und forderte seine Anhängerschaft auf: »Schadet ihnen, wo ihr nur könnt. Am Ende müssen Tausende sich sagen, diese Journalisten von Franceinfo (Staatssender) sind Lügner und Betrüger.« Er forderte in seinem Blog eine öffentliche Diskussion »in einem Kanal, der nicht der Regierung gehört«.

Die Journalistenvereinigung protestierte einmütig und die CGT-Gruppe beim Sender fürchtete, dass aufgehetzte FI-Anhänger die Aufforderung Mélenchons als Angriff auf die körperliche Unversehrtheit der Beschäftigten verstehen könnten. Chikirou selbst hatte diesen Krieg gegen die »politisch-mediale Kaste« im Präsidentschaftswahlkampf 2012 entwickelt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen.[4]

Während Marine Le Pen den Euro-Ausstieg per Parteitagsbeschluss auf eine Volksbefragung nach der Machtübernahme vertagt hat und seitdem Mühe hat, eine konsistente Position für die EU-Wahl zu entwickeln, fordert Mélenchon nun, Frankreich »aus allen Verträgen herauszuführen«. Das ist mehr als der bisherige Plan B. »Wir zahlen für Deutschland«, erklärte er im Parlament. Die französischen Präsidenten hätten sich »wie auf einem orientalischen Basar« in den Verhandlungen um die Verträge übertölpeln lassen von der Bundesregierung, sowohl beim Briten-Rabatt als auch bei den Kosten der Wiedervereinigung, als Deutschland eigenmächtig den Umtauschkurs eins zu eins festgelegt habe. »Die Wiedervereinigung hat uns 1.000 Milliarden gekostet«, behauptet er. Frankreich zahle freiwillig für eine EU, die das französische Sozialmodell zerstöre. Er sei dagegen, »dass die Welt ständig umzieht, das gilt für Waren und das gilt auch für Menschen«. Er hielt der EU entgegen, »die Grenzen zu zerstören« und damit die Konkurrenz durch Billigarbeiter zu organisieren. Er fordert eine »Konferenz über Grenzen«.[5]

Staatspräsident Emmanuel Macron hielt vor einem Jahr seine bedeutsame Europa-Rede in der Sorbonne-Universität. Die deutsche Bundesregierung ist mit wechselnden Themen mit sich selbst beschäftigt und hat offenbar weder die Risiken an den Finanz- und Gütermärkten im Blick, noch die sich drastisch nach rechts verschiebenden politischen Gewichte in den einzelnen Ländern der EU. Nur weil man ökonomische Hegemonialmacht Europas ist, glaubt man offenbar, man könne sich erlauben, die französische Initiative austrocknen zu lassen.

Relativ flott kommt Macron mit dem Aufbau einer neuen Militärkooperation voran, dessen Ziel es ist, Europa unabhängiger vom großen NATO-Partner USA zu machen. »Europa kann seine Sicherheit nicht mehr allein den Vereinigten Staaten anvertrauen«, schärfte er im August beim Empfang des Botschafter-Corps den Diplomaten ein. In der erwähnten Parlamentsdebatte hielt Mélenchon seinem Widersacher deshalb entgegen: »Wir haben Europa für den Frieden gebaut.« Doch die Fortschritte bei der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zeigten, »dass ein Europa des Krieges im Aufbau ist«.

Der Staatschef hat die Europawahl in acht Monaten bereits fest im Blick. Sein Lieblingsgegner ist der rechtskonservative ungarische Regierungschef Viktor Orban. Das Votum des Europaparlaments für ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn wurde in der französischen Machtzentrale deshalb als Erfolg gewertet. Macron wolle vor der Wahl die klassische europäische Rechte spalten, meinen Hauptstadt-Insider. Das kann der deutschen Kanzlerin kaum gelegen kommen – denn Orban gehört wie sie zur konservativen Europäischen Volkspartei (EVP). Nach innen kann sich Macron als Bollwerk gegen die europaweite Welle des Rechtspopulismus positionieren.

Innenpolitisch wird Macron in Ruhe gelassen. Der gewerkschaftliche Aktionstag gegen die geplanten Anpassungen an die europäischen Minimalstandards bei Rente, Krankenversicherung, Wohnungsbau usw. blieb mangels überzeugender Alternativen jedenfalls mau (300.000 Teilnehmende landesweit). Der Streit über das Einwanderungsrecht überlagert vieles und spielt den Rechtsradikalen in die Hände, aber auch Macron und seiner Facon der Verteidigung der vier europäischen Kapitalfreiheiten.

Das Ergebnis der Europawahl wird den Saldo der aktuellen Streitereien notieren. Bisher war die französische Linke und Mélenchon Mitglied der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament. Nun wurde zusammen mit Spaniens Podemos, dem portugiesischen Bloco de Esquerda, der Rot-Grünen Allianz aus Dänemark, der schwedischen Linkspartei und der Linksallianz aus Finnland eine neue Sammlungsbewegung ins Leben gerufen und man hofft darauf, eine eigene Fraktion bilden zu können, da man mit Syriza »nicht mehr in einem gemeinsamen Raum« sei.

[1] https://www.humanite.fr/immigration-un-tweet-une-crise-et-une-question-de-fond-660798
[2] https://www.lemonde.fr/la-france-insoumise/article/2018/10/02/la-question-de-l-immigration-au-centre-de-la-recomposition-de-la-gauche_5363100_5126047.html
[3] https://www.humanite.fr/la-france-insoumise-limmigration-fait-question-661484
[4] https://www.lemonde.fr/la-france-insoumise/article/2018/10/22/vise-par-les-juges-melenchon-cible-les-medias_5372766_5126047.html
[5] FAZ Printausgabe vom 24.10.18

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