11. Februar 2023 Redaktion Sozialismus.de: der ukrainische Präsident auf Europa-Tour

In London, Paris und Brüssel gefeiert wie ein Held

Selenskyj und EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola

Die Europareise des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist nach einem Besuch der USA im Dezember erst der zweite Auslandsaufenthalt seit dem russischen Einmarsch am 24. Februar vergangenen Jahres.

Sie hatte am Mittwoch in Großbritannien begonnen, wo er Premierminister Rishi Sunak sowie König Charles III. traf. Am Mittwochabend kam er dann in Paris mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz zusammen. Danach reiste er nach Brüssel weiter, wo er die Repräsentanten der politischen Klasse der EU in einer emotionalen Rede im Europaparlament auf den gemeinsamen Kampf gegen Russland eingeschworen hat.

Für Selenskyj gibt es keinen Unterschied zwischen der Ukraine und der EU mehr: »Dies ist unser Europa, die EU ist unsere Heimat, der Beitritt ist der Weg nach Hause […]Nur unser Sieg wird den Erhalt unserer europäischen Werte garantieren.« Gemeinsam müsse man den »historischen Kampf« gegen Russland zu Ende führen. »Wir kämpfen gegen anti-europäischste Kraft der Welt.« Die Abgeordneten des Parlaments applaudierten mit Standing Ovations nebst Rufen »Slawa Ukraini!« (Ruhm der Ukraine) – eine Grußformel aus dem ukrainisch-nationalistischen Milieu.

In seiner Rede hob Selenskyj vor allem den Unterschied zwischen der »europäisch-ukrainischen« und der russischen Lebensweise hervor. »Es wird versucht, den europäischen ›Way of life‹ mit einem totalen Krieg zu zerstören. Wir lassen das nicht zu.« Die Ukraine verteidigt sich seit fast einem Jahr gegen eine russische Invasion. Zugleich strebt das osteuropäische Land in die EU. »Für die Ukraine ist es der Weg nach Hause«, sagte Selenskyj.

In Russlands brutalem Krieg gehe es nicht nur um Territorium, zugleich seien Menschenleben nichts mehr wert. »Wir verteidigen uns gegen die anti-europäischste Kraft der zeitgenössischen Welt. Wir Ukrainer auf dem Schlachtfeld zusammen mit Ihnen.« An die EU-Bürger*innen gerichtet sagte Selenskyj, dass das Schicksal Europas niemals nur von Politikern abhängig gewesen sei: »Jeder und jede ist wichtig für unseren gemeinsamen Sieg.« Er dankte für die Lieferung von Waffen und Munition, von Brennstoffen und Energieausrüstung, von all den Tausenden Dingen, die in dem Krieg gebraucht würden.

Die Ukraine will noch in diesem Jahr mit Verhandlungen über den EU-Beitritt beginnen, darüber müssen jedoch die 27 Mitgliedstaaten einstimmig entscheiden. Erst im Sommer war das Land zum Beitrittskandidaten geworden.

Bereits in London und Paris hatte der ukrainische Präsident um weitere Militärhilfe geworben, insbesondere um Kampfjets. Der deutsche Bundeskanzler versprach ihm Unterstützung so lange wie nötig, der französische Präsident von »Unterstützung bis zum Sieg«. EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola wurde konkreter. »Nun müssen die Staaten als nächsten Schritt erwägen, rasch weitreichende Systeme und Flugzeuge bereitzustellen.« Diese würden benötigt, um die Freiheit zu schützen, die zu viele für selbstverständlich gehalten hätten. »Unsere Reaktion muss der Bedrohung angemessen sein – und die Bedrohung ist existenziell.«


Gelungene Propaganda-Show für weitere Waffen

Wolodymyr Selenskyj ist ein überzeugender Rhetoriker, im PR-Kampf gegen Wladimir Putin um die öffentliche Meinung, um Sympathien und Hilfsbereitschaft hat er die Nase vorn gegenüber den verbreiteten Politik-Apparatschiks. Er spielt seine Erfahrung als Schauspieler in der Unterhaltungsindustrie aus.

Schon die Debatte um die Lieferung westlicher Kampfpanzer (zu dieser siehe auch unsere Kommentierung in Heft 2-2023) hat er für die Ukraine entschieden, die eine neue Phase des Krieges und eine weitere Eskalation bedeutet. Deutschland wird 14 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 schicken, wie Olaf Scholz am 25. Januar verkündete. Die Regierung in Berlin erlaubt zudem die Modernisierung und den Export von 178 älteren Leopard 1 aus Industriebeständen. Damit wäre die Ukraine schon bald mit fast 300 modernen Kampfpanzern aus dem Westen ausgerüstet.

Die Debatten um die Panzerlieferungen erinnerten zeitweilig an den Mythos einer kriegsentscheidenden Waffe (der V2-Rakete im Zweiten Weltkrieg), die jedwede Erdung gegenüber dem Kriegsgeschehen verloren hatte. Was den Leopard-Kampfpanzer für die Ukraine besonders attraktiv macht, ist, dass in kurzer Zeit Besatzungen ausgebildet werden können, und die Logistik verhältnismäßig einfach zu handhaben ist. Wieviel Leopard-Kampfpanzer insgesamt und wann genau in Europa verfügbar sind, die auch mit anderen Waffensystemen der westlichen Länder kombiniert werden können, ist nach wie vor unklar.

Noch während des ideologisch-publizistischen Ringens um die Panzer setzten die ukrainischen Militärs und Politiker auf Eskalation: Jetzt sollen Raketenwaffen und Jets die Kriegsentscheidung bringen. Trotz Selenskyjs Inszenierung in emotional aufgeladenen Worten und Bildern wie vor dem Europäischen Parlament stößt seine Forderung nach Kampfflugzeugen nicht überall auf offene Ohren.

Die damit verbundene nächste Eskalationsstufe schließen mehrheitlich westliche Politiker*innen und Militärs noch aus, auch wenn dies ukrainischen Politiker*innen dies noch nicht als abschließende Entscheidung sehen. Deshalb warnen sie vor dem »moralischen Bankrott des Westens«, sollten der »verzweifelten Ukraine« Mittel vorenthalten werden und die Angreifer so die Oberhand gewinnen könnten.

Abgesehen von naheliegenden Hindernissen – längere Ausbildung und größere Logistikprobleme – bleibt der Haupteinwand: Mit Kampfflugzeugen würde sich die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland deutlich erhöhen. Der Westen will zwar seine Werte- und Kulturordnung sowie seine Einflussbereiche gegen Russland verteidigen. Zugleich liegt es aber im westlichen Interesse, nicht zur unmittelbaren Kriegspartei zu werden.

In allen westlichen Ländern ist die öffentliche Meinung über den Krieg und seine materiellen Lasten gespalten. Je länger der Krieg dauert, umso spürbarer wird der finanzielle Tribut für die Kriegsführung, in Teilen der europäischen Länder auch die Last für die Unterbringung und Ausstattung der Kriegsflüchtlinge. Der Enthusiasmus für die blau-gelbe Sache ist trotz beeindruckendem Polit-Pathos begrenzt und die innergesellschaftlichen Kräfteverhältnisse können sich ändern.

Schon heute sind zu Beginn des zweiten Kriegsjahrs die Anforderungen nach dem Krieg gigantisch: Die Wiederherstellung eines lebensfähigen kapitalistischen Reproduktionssystems kostet Billionen, dazu kommt der Erhalt der Ukraine als funktionsfähiger Staat, die nach wie vor massiv mit Korruption zu kämpfen hat, weshalb eine rasch geforderte Eingliederung in NATO und EU unrealistisch ist. Die Befreiung aller besetzten Gebiete durch Russland wird demgegenüber sekundär.

Es steigt auf westlicher Seite das Interesse an Waffenstillstand und Verhandlungen. Die inzwischen mehr als 150.000 Unterschriften der von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht und weiteren 69 prominenten Erstunterzeichner*innen auf den Weg gebrachten Petition »Manifest für den Frieden« machen dies ebenso deutlich wie die zögerliche Haltung von Politiker*innen und Militärs.

Weder Europäer noch Amerikaner wollen der Ukraine westliche Jets geben, weil die Folgen dieser Kriegsausweitung kaum beherrschbar erscheinen. Anders als bei den Kampfpanzern steht Deutschland bei diesem Thema allerdings nicht im Fokus, da es in diesem Bereich nichts zu bieten hat, was die Ukraine dringend haben will, also auch nichts entschieden werden muss.

Trotz der proklamierten »großen Anstrengungen« zur Unterstützung Kiews seitens des Westens, wollen weder die USA noch die NATO um keinen Preis in den Krieg hineingezogen werden, auch wenn Selenskyj und andere ukrainische Vertreter wie der ehemalige Botschafter in Deutschland und jetzige Vize-Außenminister Andrij Melnyk immer wieder und mit markigen Worten –  für Letzteren sind die Unterzeichner der genannten Petition, in der für Verhandlungen und Diplomatie geworben wird, »Putins Handlanger*innen«, deren Aufruf in die »Mülltonne gehöre« – versuchen, den Westen möglichst tief in den Konflikt einzubinden.

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