27. April 2023 Björn Radke: Ergebnisse des Copernicus-Jahresberichts

Intensivierung des Klimaschutzes überfällig

Deutschland droht die im Klimaschutzgesetz festgelegten Ziele zu verfehlen. 2022 wurden zwar im Vergleich zu 2021 rund 1,9% weniger CO2 ausgestoßen, aber beim Verkehr stiegen die Emissionen. In den Sektoren Gebäude und Verkehr hinkt die Entwicklung teils deutlich hinter den gesetzlichen Planvorgaben hinterher.

Deutschland hat sich das Ziel gesetzt, seinen Ausstoß an Treibhausgasen bis 2030 um 65% im Vergleich zum Jahr 1990 zu senken. Bis 2045 will man klimaneutral sein, also nicht mehr Treibhausgase ausstoßen als wieder gespeichert werden können. Der Expertenrat für Klimafragen kritisiert daher geplante Änderungen am Klimaschutzgesetz. Und der Klimawandel bleibt bedrohlich.


Klimawandel in Europa

Der Sommer 2022 war der heißeste in Europa seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Laut dem aktuell veröffentlichten Jahresbericht des Klimawandel-Dienstes des europäischen Erdbeobachtungsprogramms Copernicus lagen die Temperaturen 1,4 Grad über dem Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2020. Insgesamt war das vergangene Jahr das zweitwärmste auf dem Kontinent, das jemals registriert wurde. Zugleich steigt der CO2-Gehalt weiter an: Satelliten-Messungen weisen neue Rekorde auf.

Die Copernicus-Studie hat nach der Auswertung zusätzlicher Datenquellen festgestellt, dass es sich um die höchsten jemals gemessenen Werte an Treibhausgasen in der Atmosphäre handelt. Während des Sommers litten große Teile Europa unter einer Hitzewelle, in Großbritannien wurden im Juli erstmals mehr als 40 Grad gemessen. Auch in anderen Monaten war es deutlich zu warm. Im März und Mai lagen die täglichen Höchsttemperaturen bis zu acht Grad über dem Durchschnitt, der Oktober war der wärmste bislang.

Zudem war die Sonneneinstrahlung auf einem Rekordhoch, was zu einer Steigerung der Produktion von Solarstrom führte. Zu den hohen Temperaturen hinzu kam fehlender Niederschlag. Über das ganze Jahr hinweg war es 10% trockener als im Durchschnitt – Umstände, die Waldbrände begünstigten. 2022 ist in den EU-Staaten die bislang zweitgrößte Fläche in Flammen aufgegangen. Flüsse führten in zehn Monaten des Jahres weniger Wasser als im langjährigen Durchschnitt. Im Winter mündete zu wenig Schneefall in einen Rekordrückgang der Alpengletscher. Im Schnitt verlor jeder Gletscher 3,5 Meter an Dicke.

Im globalen Vergleich macht sich die Erderwärmung in Europa besonders stark bemerkbar. Dem Bericht zufolge heizt sich der Kontinent schneller auf als alle anderen. Die Temperaturen steigen doppelt so schnell wie im globalen Mittel: In den vergangenen fünf Jahren war es in Europa durchschnittlich 2,2 Grad wärmer als in der vorindustriellen Zeit, weltweit waren es 1,2 Grad.

Carlo Buontempo, der für den Klimawandel zuständige Direktor bei Copernicus, sprach von »alarmierenden Veränderungen«. Er verwies dabei insbesondere auf die Hitzewellen rund um das Mittelmeer und Temperaturhöchstwerte in Grönland. Dort hatten im September extreme Hitze und Regenfälle zu einem beispiellosen Schmelzen des Eisschildes geführt – in einer Jahreszeit, in der Niederschlag eigentlich als Schnee üblich ist.

Der Klimawandel hat die Durchschnittstemperaturen in Europa bereits um 2,2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit ansteigen lassen. Für 2023 deutet sich nach Angaben von C3S-Vizedirektorin Samantha Burgess zumindest für Teile des Kontinents erneut eine schwierige Lage ab. Die Böden in Südeuropa seien weiterhin »unglaublich« trocken. Dies werde Folgen haben, falls es im Frühjahr nicht »bedeutenden Niederschlag« gebe. Die anhaltende Trockenheit wirke sich bereits jetzt in der Vegetationsperiode aus. Sinkende Ernteerträge seien daher »wahrscheinlich«.

Die Konzentration der wichtigsten Treibhausgase in der Atmosphäre war dem C3S-Report zufolge 2022 ebenfalls auf einem neuen Rekordniveau in Europa. Die CO2-Emissionen durch von Trockenheit begünstigte Vegetationsbrände waren demnach so hoch wie zuletzt 2017.

Andererseits begünstige die höchste Sonneneinstrahlung seit vier Jahrzehnten die Stromerzeugung durch Solarenergie. Durch milde bis warme Temperaturen auch außerhalb der Sommermonate ging zudem der Energieverbrauch für Heizungen zurück. In Südeuropa stieg der Verbrauch jedoch durch die verstärkte Nutzung von Klimaanlagen. In diesem Teil des Kontinents wurde die bisher größte Anzahl an Tagen mit »sehr starkem Hitzestress« auf den menschlichen Körper festgestellt. »Wir betreten wirklich Neuland«, sagte C3S-Chef Carlo Buontempo mit Blick auf die Entwicklung des Klimas in Europa.


Vom Bremsen und Zögern

In Deutschland gibt das Klimaschutzgesetz jedem Sektor für jedes Jahr konkrete Obergrenzen vor. Laut Gesetz müssten Volker Wissing als verantwortlicher Minister für den Verkehrssektor ebenso wie Ministerin Klara Geywitz für den Bausektor daher ein Sofortprogramm vorlegen, um wieder auf Kurs für die Vorgaben der nächsten Jahre zu kommen.

Die FDP drängt schon länger darauf, das Klimaschutzgesetz zu ändern. Statt der konkreten Jahresziele pro Sektor will sie eine Betrachtung über mehrere Jahre hinweg. Die Emissionen, die in einem Sektor zu viel ausgestoßen werden, sollen außerdem durch geringere Emissionen in anderen Sektoren ausgeglichen werden können. Der Koalitionsausschuss der Ampelparteien hatte sich Ende März auf Grundlinien verständigt, um das umzusetzen. »Die Einhaltung der Klimaschutzziele soll zukünftig anhand einer sektorübergreifenden und mehrjährigen Gesamtrechnung überprüft werden«, heißt es im Beschlusspapier der Ampelkoalition. Sollten die Gesamtemissionen dann über der Vorgabe liegen, müsste die Regierung gemeinsam Lösungen finden.

Der Expertenrat für Klimafragen befürchtet, dass dadurch die Klimaziele verfehlt werden könnten. Die jährliche Bilanz, wie weit man beim Klimaschutz ist, wird verwässert und in die Zukunft verschoben. SPD, Grüne und FDP hatten sich im Koalitionsausschuss u.a. auf einen beschleunigten Ausbau der Autobahnen an 144 Stellen, Milliardeninvestitionen in das Schienennetz und eine Lockerung der Klimaschutzregeln verständigt. Bei Umweltschützer*innen waren vor allem die Beschleunigung von Autobahnprojekten und die Aufweichung der Klimaziele für einzelne Sektoren auf Kritik gestoßen.

Größter Streitpunkt: das Gebäudeenergiegesetz (GEG), das als ein wichtiger Baustein mithilfe des Heizungstausches ab 1.12024 den Beginn des Ausstiegs aus den fossilen Energieträgern einleiten soll. Der vom Ampelkabinett verabschiedete Gesetzentwurf von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bauministerin Klara Geywitz (SPD) sieht im Kern vor, dass jede neu eingebaute Heizung zu 65% mit erneuerbaren Energien betrieben werden muss.

Doch vor allem die FDP versucht diesen Gesetzentwurf aufzuweichen In einem Dringlichkeitsantrag auf ihrem Parteitag wurden mit deutlicher Zustimmung »große Änderungen« am Gebäudeenergiegesetz gefordert. Begründung: Die FDP wolle eine Klimaschutzpolitik, »die die Menschen mitnimmt, anstatt die Menschen zu bevormunden«. In diesem Sinne sperren sich die Freien Demokraten in allen Anliegen, die den Weg in die Transformation hin zu einer CO2-neutralen Gesellschaft bis 2045 einleiten.


Priorität Klimaziele

Wirtschaftsminister Habeck befürchtet bei der Debatte um die Umsetzung der Energiewende eine Ideologisierung, die letztlich die klimapolitisch notwendigen Schritte schwächt, und die Polarisierung der Gesellschaft verschärft. Es geht um den deutschen Beitrag zur globalen Einhaltung der Pariser Klimaziele. Die jüngsten wissenschaftlichen Studien belegen, dass der Klimawandel an Dynamik gewinnt und von den politischen Akteuren ein pragmatisches Handeln mit mehr Tempo erfordert.

Deutschland hat im vergangenen Jahr weniger Treibhausgase als 2021 freigesetzt. Doch der Rückgang könnte nur vorübergehend sein, warnt der Expertenrat der Bundesregierung. Mit Blick auf die Reform des Klimaschutzgesetzes rät der Rat zu größerer Stringenz. »Entscheidend ist, dass die derzeit im Klimaschutzgesetz festgelegte Emissionsmenge kumuliert über das Jahrzehnt nicht überschritten werden darf. Dieser Budgetansatz ist ein zentraler Grundgedanke des Gesetzes.« Eine mögliche Aufweichung »der ausdrücklichen Ressortverantwortung sowie die verschiedenen Überlegungen zur Änderung des Steuerungsmechanismus im Klimaschutzgesetz erhöhen das Risiko für zukünftige Zielverfehlungen. Dies ist insbesondere kritisch vor dem Hintergrund unserer schon im Zweijahresgutachten festgestellten enormen Herausforderungen für die Erreichung der Ziele für die kommenden Jahre bis 2030.«


Expertenrat sieht Handlungsbedarf

Der Expertenrat weißt eben zurecht darauf hin, dass trotz der bisher umgesetzten Infrastrukturmaßnahmen die gesetzten Ziele nicht erreicht worden seien. Zudem wäre die Verfehlung des Sektorziels im Gebäudesektor ohne verschiedene, für die Emissionsentwicklung günstige Effekte wie die milde Witterung und Einsparungen durch geändertes Heizverhalten noch deutlich größer ausgefallen. Im Verkehrssektor ist die notwendige Trendwende weiterhin nicht zu beobachten, die Emissionsentwicklung blieb auf gleichbleibend hohem Niveau. Auch verlief der Rückbau des fossilen Kapitalstocks und der Aufbau von nicht-fossilen Alternativen im Jahr 2022 deutlich langsamer als in den Zielen der Bundesregierung oder den Klimaneutralitätsszenarien anvisiert. Nachdrücklich plädiert der Expertenrat für eine Weiterverfolgung eines Budgetansatzes und eine klare Umsetzung dessen im Kontext der geplanten Novelle.

Ein Blick nach Frankreich zeigt, womit auch in den Breiten Mitteleuropas zu rechnen ist, wenn von einer strikten Umsetzung des Klimaschutzes abgewichen wird. In Frankreich hatte Präsident Emmanuel Macron kürzlich auf die Folgen der Dürre im letzten Sommer hingewiesen. »Wir hatten eine außergewöhnliche Dürre im vergangenen Sommer, mit 2.000 Kommunen, die um ihr Trinkwasser fürchten oder es sogar nicht mehr zur Verfügung stellen konnten«, sagte er. »Aber diese Dürre wird in Zukunft nicht außergewöhnlich sein – nichts deutet darauf hin, dass sich die Situation verbessern wird.« Aufgrund der Klimakrise stünde Frankreich im Jahr 2050 bis zu 40% weniger Wasser zur Verfügung. »Daher müssen wir nun vorsorgen, allein schon, um über den nächsten Sommer zu kommen.«

Ähnlich, wie das Energiesparen im Winter gelungen sei, sollen nun wichtige Sektoren bis zum Sommer Wassersparpläne ausarbeiten. Auch die Atomkraftwerke, die zu den größten Wassernutzern im Land zählen, sollen sparsamer Strom produzieren. Bestimmte Baulinien geben das meiste Wasser wieder zurück an die Flüsse, erwärmt durch den Kühlungsprozess im Reaktor. Bei anderen entweicht es als Wasserdampf unwiederbringlich in die Luft. Beides wird in trockenen Zeiten große Probleme bei der Energieversorgung bereiten: Das Land ist zu rund 70% von Atomstrom abhängig. Das für sie verfügbare Flusswasser wird in der Klimakrise weniger werden, und das von den Kraftwerken erwärmte Wasser, das in die Flüsse zurückgeleitet wird, belastet bei Hitze zusätzlich die Ökosysteme. Fachleute gehen davon aus, dass die Rhône, der größte Fluss Südfrankreichs mit fünf angesiedelten Kernkraftwerken, bis 2050 im Schnitt bis zu 40% weniger Wasser tragen wird.

In Italien sind die Pegelstände von Flüssen und Seen bedenklich niedrig – es könnte sogar schlimmer kommen als 2022. Am Gardasee ist der Wasserstand auf ein historisches Tief gefallen. Nach Angaben der zuständigen Comunità del Garda liegt er momentan bei 47 Zentimetern – vor einem Jahr waren es fast doppelt so viele! Der Gardasee ist nicht nur ein Urlaubsparadies, sondern auch das größte Wasserreservoir des Landes. Doch im Winter hat es in den Alpen um etwa die Hälfte weniger geschneit als sonst, deshalb konnten sich die Wasserspeicher nicht ausreichend füllen.

Daneben fiel viel zu wenig Regen, in der Po-Ebene um rund 60% weniger als üblich. Besonders stark getroffen ist das sogenannte Food-Valley Italiens, die fruchtbare Po-Ebene, wo es die meiste Produktion im Land gibt. In der weiten Ebene ist man auf künstliche Bewässerung angewiesen, und damit eben auch auf das Wasser aus dem Norden. Momentan, so der Landwirtschaftsverband Coldiretti, gelte SOS für die Frühjahrsaussaat von Mais, Soja, Sonnenblumen, Reis und Tomaten. Gleichzeitig führen Extremereignisse wie heftige Unwetter oder Hagel zu Einbußen. Die Schäden, die durch Dürre und Unwetter in Italien verursacht worden sind, beliefen sich im vergangenen Jahr auf mehr als sechs Mrd. Euro.

Schlussfolgerung: Die Folgen des Klimawandels zu bekämpfen wird immer kostspieliger, je länger dabei mit angezogener Handbremse manövriert wird.

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