5. Mai 2022 Adam Tooze

Ist die Eskalation in der Ukraine Teil der US-Strategie?

In den Frühlingstagen während des russischen Krieges gegen die Ukraine scheint Washington DC, das politische Zentrum der USA, von den Gespenstern der Geschichte heimgesucht zu werden.

Der US-Kongress hat das »Leih- und Pachtgesetz 2022 zur Verteidigung der Demokratie in der Ukraine« (»Ukraine Democracy Defense Lend-Lease Act of 2022«) beschlossen, um die Hilfe für die Ukraine zu beschleunigen - so wie es Franklin D. Roosevelt im März 1941 mit dem Leih- und Pachtgesetz (Lend-Lease Act 1941) zugunsten des Britischen Empire, Chinas und Griechenlands getan hat.

Die Summen, die in Washington ins Auge gefasst werden, sind enorm – insgesamt 47 Mrd. US-Dollar, was einem Drittel des ukrainischen Vorkriegs-BIP entspricht. Wenn der Kongress diese Summe zusätzlich zu den anderen westlichen Hilfen bewilligt, bedeutet dies, dass wir nichts weniger als einen vollumfänglichen Krieg finanzieren.

Das Leih- und Pachtgesetz von 1941 war eine Kriegsintervention. Die überwiegende Mehrheit der gelieferten Güter waren Waffen. Die 8. Armee der britischen Streitkräfte mit ihrem Oberbefehlshaber Montgomery kämpfte in der nordafrikanischen Wüste mit Sherman-Panzern, die mit dem Leih- und Pachtgesetz finanziert worden waren. Nach 1942 wurden die großen sowjetischen Gegenoffensiven mit Lastwagen aus dem Leih- und-Pacht-Programm durchgeführt.

Das Außergewöhnliche daran ist, dass sich die USA zum Zeitpunkt des Beginns des Leih-und-Pacht-Programms im März 1941 noch nicht im Krieg befanden. Das Gesetz war der entscheidende Moment, in dem die USA, obwohl sie nicht am Krieg teilnahmen, die Neutralität aufgaben. Es zwang die Juristen, einen neuen Begriff zu finden: die »Nichtkriegführung« oder »non-belligerency«. Im weiteren Sinne markierte das Gesetz den Aufstieg der Vereinigten Staaten zum neuen Hegemon. Im Guten wie im Schlechten sind sie es bis heute geblieben.

Die Geschichte ist jedoch komplex. Kratzt man an der Oberfläche, vervielfachen sich die Ambivalenzen. Welche Implikationen hat die Rückbesinnung auf das Leih- und Pachtgesetz tatsächlich für die Ausrichtung der US-Politik?

Vermutlich wird das Narrativ durch das Versprechen gestützt, dass ein guter Krieg, der gegen ein böses Regime geführt wird, durch die großzügige Unterstützung der Vereinigten Staaten gewonnen wird. Aber um diesen Erzählbogen zu vervollständigen, muss man die Uhr etwas weiter vorstellen: von der Verabschiedung des Leih- und Pachtgesetzes im März 1941 bis zur Atlantik-Charta im August 1941 und bis Pearl Harbor und dem Eintritt der USA in den Krieg im Dezember 1941. Das Leih- und Pachtgesetz, mit dem sowohl China als auch das Britische Empire unterstützt wurden, war ein entscheidender Schritt, um aus einem ursprünglich separaten japanischen Krieg gegen China und einem deutschen Krieg in Europa einen Weltkrieg zu machen.

Geplante Eskalation?

Wenn der US-Kongress nun ein neues Leih-und-Pacht-Programm auflegt, muss die Frage gestellt werden, ob eine Eskalation Teil des Plans ist.

Sowohl Freunde als auch Kritiker von Franklin D. Roosevelt haben immer darauf gepocht, dass es das verborgene Ziel des Leih- und Pachtgesetzes war, den Krieg mit Nazi-Deutschland zu provozieren. Heute neigen die meisten Historiker der Auffassung zu, dass die Absichten des Präsidenten eher ungewiss waren. Selbst nach Pearl Harbor war es nicht offensichtlich, dass Roosevelt eine Mehrheit für eine Kriegserklärung gegen Deutschland hätte finden können.

Wie Brendan Simms und Charlie Laderman in ihrem Buch Hitler's American Gamble,[1] einer außergewöhnlichen Rekonstruktion der schicksalhaften Woche nach Pearl Harbor, zeigen, bestand die unmittelbare Reaktion auf den japanischen Angriff darin, die Lieferungen im Rahmen des Leih-und-Pacht-Programms auszusetzen; London und Moskau waren entsetzt. Nicht Roosevelt, sondern Hitler rettete das Bündnis, indem er den Vereinigten Staaten am Nachmittag des 11. Dezember 1941 den Krieg erklärte.

Damals wie heute waren es unsere Gegner, die vor der Entscheidung standen, ob sie von der wirtschaftlichen zur militärischen Konfrontation übergehen sollten. Damals wie heute sind die Beweggründe dieser Gegner unklar.

Nach der Ankündigung der Sanktionen gegen die Zentralbank am 28. Februar rasselte Putin mit seinem nuklearen Säbel. Wer weiß, wie der russische Präsident reagieren wird, wenn Biden ein gigantisches Hilfspaket im Stil des Leih- und Pachtgesetzes unterzeichnet? Weitere Fragen stellen sich: Wird die Ukraine nur Waffen erhalten, um Putins Armee zu vertreiben? Oder werden wir Kiew ausrüsten, um Russland selbst anzugreifen?

1941 bestand die wichtigste anglo-amerikanische Vision darin, eine beispiellose strategische Bombenkampagne durchzuführen, um Deutschlands Städte zu zerstören und die Bevölkerung obdachlos zu machen. Mit konventionellen Bomben wäre das nur schwer zu bewerkstelligen gewesen. Doch Teil der Gegenleistung für die anglo-amerikanische Partnerschaft war die Tizard-Mission, durch die britisches Know-how, einschließlich der Entwicklung von Atombomben, an die USA weitergegeben wurde. Hinter der geschönten Darstellung eines guten Krieges, der mit dem Arsenal der Demokratie zu gewinnen ist, verbirgt sich die Entfesselung eines apokalyptischen Weltkrieges.

Dies war der Albtraum, der Roosevelts Gegner in Amerika 1941 umtrieb. Sie beklagten, dass die USA in einen zweiten schrecklichen Konflikt hineingezogen würden und dass die Weltordnung militarisiert würde. Und das war kein marginaler Standpunkt. Während das Leih- und Pachtgesetz in der Fassung von 2022 den Senat einstimmig passierte, stimmte 1941 ein Drittel des Senats dagegen.

Roosevelt wusste, dass die amerikanische Öffentlichkeit nicht für einen Krieg bereit war. Und er hoffte, dass das Leih- und Pachtgesetz es ihm ermöglichen würde, die Ausrufung des Krieges zu vermeiden. In diese Stimmung spielte Churchill hinein, als er im Februar 1941 an die USA appellierte, nicht in den Krieg einzutreten, sondern Großbritannien und seinem Imperium die entsprechenden Mittel zu geben, dann »werden wir die Arbeit beenden.« Doch gerade die Großzügigkeit und das Ausmaß des Leih-und-Pacht-Programms und die damit verbundene Verpflichtung machten deutlich, dass die USA dafür bezahlten, dass andere an ihrer Stelle kämpften.

Genau das ist auch heute der Fall. Die USA und ihre Verbündeten haben sich aus sehr guten Gründen dafür entschieden, eine Seite in einem Kampf zu unterstützen, in den sie sich nicht direkt einmischen werden. Wir agieren wie Franklin D. Roosevelt: Ein Auge ist gerichtet auf den heldenhaften Widerstand derjenigen, die sich dem Angriff widersetzen, und das andere Auge auf das geopolitische Gleichgewicht. Wenn Russland beschlossen hat, sich selbst am Felsen der Ukraine zu zerschmettern, und wenn die Ukraine bereit ist, zu kämpfen, dann soll es so sein.

Wenn das der Plan ist und Putin es zulässt, dass wir an ihm festhalten können, hat er sicherlich die Logik auf seiner Seite. Es ist ein so kaltblütiges Kalkül, dass es kein Wunder ist, dass wir es in ein Gewand wickeln wollen, das von den Geschichten des Zweiten Weltkriegs nur die eine Hälfte in der Erinnerung aufscheinen lässt. Darin wird der glückliche Ausgang vorausgesetzt, ohne dass jemals deutlich von den unabwendbaren Opfern gesprochen wird.

Adam Tooze ist Professor für Zeitgeschichte und Direktor des European Institute an der Columbia University in New York. Seine hier dokumentierte Intervention wurde zuerst am 4.5.2022 im Guardian unter dem Titel »Is escalation in Ukraine part of the US strategy?« publiziert (Übersetzung: Hinrich Kuhls). Sein Essay »Krieg und Frieden. Neue Weltordnung oder Ära zäher Kompromisse am Ausgang des ›Endes der Geschichte‹« ist im aktuellen Heft 5-2022 von Sozialismus.de erschienen.

Anmerkung

[1] Simms, Brendan/Laderman, Charlie: Hitler's American Gamble. Pearl Harbor and the German March to Global War, London 2021: Allen Lane. Auf deutsch erschienen als: Fünf Tage im Dezember. Von Pearl Harbor bis zur Kriegserklärung Hitlers an die USA – wie sich 1941 das Schicksal der Welt entschied, München 2021: DVA.

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