22. August 2024 Michael Brie: Sechs Thesen zur Beantwortung der Frage
Ist DIE LINKE noch zu retten?
Die beiden Parteivorsitzenden der Partei DIE LINKE haben angekündigt, auf dem nächsten Parteitag im Oktober dieses Jahres nicht mehr anzutreten. Zugleich wird darüber diskutiert, wie eine strategische Neuaufstellung der Partei aussehen könnte. Diese ist dringend notwendig, wenn DIE LINKE überhaupt noch eine Zukunft haben kann. Eine harte selbstkritische Aufarbeitung der Entwicklung seit 2012 ist erforderlich.
Die anhaltenden Neueintritte zeigen, dass es den Wunsch danach gibt und die Bereitschaft, sich zu engagieren. Das Warten anderer auf eine inhaltlich und personelle Neuaufstellung gehört auch dazu.
Zunächst sah es nach einem Weiter-So aus. Die Führung der Partei DIE LINKE brachte das Ergebnis der Europawahlen- und Kommunalwahlen am Abend des 9. Juni im ersten Satz ihres Briefes an die Mitglieder der Partei prägnant so auf den Punkt: »Die Linke ist in einer herausfordernden Lage.« Dies war wohl auch der erste Gedanke des Kapitäns der Titanic, nachdem ein Eisberg den Rumpf des Ozeanriesens in ganzer Länge aufgerissen hatte. Er hatte einfach den falschen Kurs zu falscher Zeit gewählt.
Wie aber konnte es dazu kommen, dass DIE LINKE einen Weg wählte, der ihr fast jeden politischen Einfluss raubt, nachdem sie doch 2005 so fulminant gestartet war? Ich werde dazu sechs Thesen formulieren und begründen. Dabei stütze ich mich auf Überlegungen, die in einem Artikel von Gabi Zimmer, Judith Dellheim, Dieter Hausold und mir formuliert sind (Zimmer et al. 2024). Die Thesen lauten:
- These 1: Das Ergebnis der Europawahlen für DIE LINKE war – auch – das Resultat einer über viele Jahre gewählten strategischen Richtungsentscheidung.
- These 2: DIE LINKE hat eine falsches Verständnis von Progressivität übernommen und sich damit ihrer Klassenbasis beraubt
- These 3: Es sind drei Bündnisse möglich, die auf Hegemonie zielen.
- These 4: Die Abspaltung des BSW entstand aus der Unfähigkeit oder dem Unwillen der Führung der LINKEN, die eigene Wählerschaft zusammenzuführen.
- These 5: DIE LINKE steht vor der – fast – unmöglichen Aufgabe, sich unter den Bedingungen der Konkurrenz im linkslibertären wie linkskonservativen Feld zu erneuern
[...]
These 6: Ohne sozialistische Identität kann es keine dezidiert linke Partei geben.
Linke Kräfte bedürfen unter dem überwältigenden Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse nach innen wie nach außen einer starken Identität. Diese können sie, so meine feste Überzeugung, nur in der sozialistischen Tradition, in der Tradition des Strebens nach einer solidarischen Gesellschaft als Alternative zur kapitalistischen Klassengesellschaft gewinnen. Dieser Bezugspunkt verlangt es, ganz »konservativ« die Klassenfrage zu stellen: Wem nützt es? Wessen Position in den Eigentums- und Machtverhältnissen wird gestärkt? Welche Wege öffnen zu sozialen, demokratischen, friedensorientierten Alternativen? Wenn solche Fragen im Zentrum stehen, hört die Berufung auf Sozialismus auf, eine bloße Phrase zu sein.
Linke Politik, die die Sicht von »unten« auf die kapitalistische Klassengesellschaft nicht absolut ernst nimmt und als Ausgangspunkt ihrer Politik begreift, verfehlt ihre zentrale Aufgabe. Sie wird die realen Arbeiterinnen und Arbeiter nicht für eine sozialistische Politik gewinnen können. Klassenverbindende Politik bleibt eine Phrase, wenn man gegen die Einstellungen in der Klasse konfrontativ agiert. Das Wesen einer sozialistischen Bewegung und Partei besteht in der Verbindung von realer Arbeiterbewegung, von realen sozialen Bewegungen und deren Anliegen mit dem Ziel der Schaffung solidarischer Gesellschaften. Rosa Luxemburg formulierte ihr Verständnis von sozialistischer, sprich revolutionärer Realpolitik, die im Kapitalismus auf die Überwindung des Kapitalismus zielt, folgerichtig so: »Es gab vor Marx eine von Arbeitern ge-führte bürgerliche Politik und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst seit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.« (Luxemburg 1978, 373) Diese Einheit braucht beides: Wirklichen Ausgangspunkt von der wirklichen lohnarbeitenden Klasse und dauerhafter Bezug auf das Ziel einer »Assoziation, in der die freie Entwicklung eines jeden zur Bedingung der freien Entwicklung aller wird« (Marx/Engels 1848, 482). Eine sozialistische Partei ist wie ein Vogel und wird nur dann fliegen können, wenn sie zwei Flügel hat - den des klassenbasierten »Konservatismus« der populären Verteidigung der Interessen der Lohnarbeitenden und den emanzipatorischen Flügel, der den Horizont von Solidarität öffnet.
Sozialistische Klassenpolitik bedeutet, die genannten Fragen in keiner Weise zu leugnen, sondern sie ausgehend von den Lohnabhängigen her und mit ihnen gemeinsam zu stellen. Sie verlangt, die Lage, die Sichtweisen, den Stolz auf die eigene Leistung, die Ansprüche auf Selbst- und Mitbestimmung der lohnarbeitenden Klassen in ihrer Widersprüchlichkeit zum Ausgangspunkt zu nehmen. Denn nur mit der lohnarbeitenden Klasse ist es möglich, dass Klimabewegung, Friedensbewegung, feministische, antirassistische und antifaschistische Bewegungen ihre Ziele erreichen können. Gelingt dies nicht, werden die lohnarbeitenden Klassen entweder ihr Schutzbedürfnis nur defensiv wahrnehmen können, resignieren oder sich der Neuen Rechten zuwenden. Radikale transformatorisch orientierte Realpolitik im Sinne von Rosa Luxemburg ist nur möglich durch ein in den lohnarbeitenden Klassen verwurzeltes politisches Projekt. Ansonsten bleibt linke Politik das freundliche Gesicht des neoliberalen kapitalistischen Mainstreams und stärkt nolens volens die Rechte.
Nur in dem Maße, wie es gelingt, den Gegensatz linker Positionen zu denen des liberalen Mainstreams wie der Rechten ins Zentrum zu rücken, werden viele der Spannungen, die in der Wählerschaft linker Parteien und ihren Unterstützern sowie vor allem auch in der Mitgliedschaft vorhanden sind, überbrückbar (Gomez/Ramiro 2022, 132). Das Parteiprogramm von 2011 ist gerade unter diesem Gesichtspunkt weiterhin aktuell. Es verkörpert das Grundverständnis einer Linken unter den Bedingungen des Finanzmarkt-Kapitalismus. Es ist diese linke Identität, die die Kraft gibt, sich hart gegen den Mainstream zu stellen. Wie Heinz Bierbaum mit Blick auf seine eigene Partei schreibt: »DIE LINKE muss sich als eine gesellschaftliche Oppositionskraft profilieren, die ausgehend von den konkreten, die Menschen bewegenden Probleme politische Perspektiven aufzeigt, die nicht nur darauf gerichtet sind, diese Probleme zu bewältigen, sondern eben auch gesellschaftliche Alternativen entwickelt. Es ist dies die über den Kapitalismus hinausweisende sozialistische Perspektive.« (Bierbaum 2024, 9) Ohne eine tief verwurzelte sozialistische Identität und die glaubwürdige Orientierung auf ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis kann der Anpassung an den liberalen Zeitgeist und die Disziplinierung durch ihn am Ende nicht widerstanden werden. Nur so entkommt die Linke dem Schicksal, zum Helfershelfer des autoritären Notstandskapitalismus zu werden (Soiland 2024). Das Ringen um diese Identität ist deshalb für jede dezidiert linke Partei eine der wichtigsten Zukunftsfragen.