10. Oktober 2017 Bernhard Sander

Jupiters Standbild auf deutschem Sockel

Foto: Ministère de l'Economie et des Finances français

Im Umfeld der deutschen Parlamentswahl hat der französische Staatspräsident Emmanuel Macron seine Interventionen für einen Neubeginn in Europa vervielfacht. Der Einzug einer autoritären nationalistischen Partei als drittstärkste Kraft in den Bundestag, aber auch einer liberal-national erneuerten FDP und die Aussicht auf deren Regierungsbeteiligung lassen nicht nur in Frankreich Befürchtungen aufkommen, dass die deutsche ökonomische Umklammerung sich weiter verstärken könnte.

Auch in den BeNeLux-Staaten wird mit Skepsis auf Deutschland geschaut. EU-Kommissionspräsident Juncker unterstützt den Reformkurs Macrons vorsichtig: »Ja wir brauchen jetzt eine enger vereintes, stärkeres und demokratischeres Europa. Wir müssen offen alle Ideen diskutieren und bis zum Mai 2019 entscheiden« (dann stehen EU-Parlamentswahlen an). Der belgische EU-Ratspräsident Van Rumpuy erinnert an den Durchbruch des Vlaams Blok 1991, der »seinerzeit erst der Anfang des Höhenfluges« war. Der liberale belgische Außenminister Didier Reynders folgert deshalb aus dem Rechtsruck in Deutschland: »Wir brauchen jetzt dringend Reformen in Europa«, etwa in der Flüchtlingspolitik, »in Bezug auf die Sozialpolitik oder auf wirklich sichtbare Maßnahmen der Konjukturbelebung«.

In den Niederlanden wird man sich bewusst, dass »alles was in Deutschland passiert, merken wir auch in den Niederlanden«. Bisher habe man Deutschland als einen Hort der Stabilität wahrgenommen. Aber die Wahlen haben die Bewegungsspielräume Merkels eingeschränkt. Eine EU-Politik im Interesse der seit Langem euroskeptischen Niederlande dürfte schwerer fallen, auch weil der sozialdemokratische Chef der Euro-Gruppe nur Finanzminister auf Abruf ist, nachdem seine Partei zur nur noch siebtstärkste Kraft deklassiert worden ist. Allerdings richten sich die Hoffnungen eher auf den »innenpolitischen« Macron.

Macrons EU-Vision lenkt von der dunklen Seite der Macht ab und kann schnell erlöschen. Gegenüber den EU-Volkswirtschaften, die von Rekordüberschuss zu Rekordüberschuss eilen, könnte der in Frankreich eingeschlagene Umbau-Plan mit neoliberaler Deregulierung der Arbeitsmärkte, Steuersenkungen für die Vermögenden und harten Streichungen in den sozialen Unterstützungszahlungen und den kommunalen Dienstleistungen scheitern, wenn es nicht zu einer Investitionsoffensive auf gesamteuropäischer Ebene kommt.

 

Der Umbau des politischen Systems

Der Staatspräsident verschiebt das Verfassungsgefüge und stärkt seinen innenpolitischen Zugriff, bevormundet das Kabinett und nutzt die Schwäche seiner Gegner aus, um sein an den skandinavischen Ländern orientiertes Flexurity-Konzept, eine Art Neoliberalismus light, durchzusetzen, ohne dafür die ideologische Hegemonie zu haben. Ob seine EU-Vision diese Hegemonie schafft, entscheiden nicht die am Boden liegenden politischen Gegner, sondern die deutsche Regierung.

Macrons Regierung hat sich keinesfalls konsolidiert, auch wenn die Straßenproteste einstweilen undramatisch ausfallen. Seine Popularitätswerte haben in den Umfragen jetzt zu dem Niveau seiner Amtsvorgänger zurückgefunden und entsprechen etwa den Prozenten in der Bevölkerung, die er in der ersten Wahlrunde hinter sich sammeln konnte. Die neuen Parlamentarier kommen überwiegend aus den gut situierten Bevölkerungskreisen. Weitgehend politisch unerfahren, lassen sie sich (noch) von seiner Jupiter-Autorität lenken, verzichten auf gesetzgebende Initiativen und beschränken sich auf eine Kontroll- und Durchwinkfunktion statt die gesellschaftlich-parteiische Debatte zu führen. Das Regieren mit Ordonanzen, zu dem seine Parlamentsmehrheit ihn bei wichtigen Projekten ermächtigt, entzieht dem Parlament die politische Konfrontation unterschiedlicher sozialer Interessen und damit verliert auch die Presse ein inhaltliches Strukturelement.

Die einst im Wechselspiel mit der parlamentarischen Rechten (Gaulisten/RPR/UMP/Republikanern) tonangebenden Sozialdemokraten vom PS laufen auseinander. Die Selbstzerstörung des überkommenen Parteiengefüges wird durch die neuen Fluktuationen im politischen Raum nicht kompensiert, auch wenn »La France Insoumise« als parlamentarischer Oppositionsführer wahrgenommen wird. Der Front National steckt durch die Wahlniederlage und durch den Austritt des stellvertretenden Vorsitzenden Phillipot in einer schweren Orientierungskrise.

 

Umbau der Produktions- und Verteilungsstrukturen in Frankreich

Nach der Vollendung der unter Hollande begonnenen Arbeitsmarktreformen folgt nun die weitere Privilegierung der vermögenden Schichten. Das fängt damit an, dass Gegenstände des Luxuskonsums (Yachten, Privatflugzeuge usw.) und Immobilien (unter einem Wert von 1,3 Mio. Euro) fiskalisch nicht mehr als zu versteuerndes Vermögen betrachtet werden. Gewinne aus Finanzoperationen sollen mit einer Flat-Tax entlastet werden. Die Operation zielt darauf, die Kleinsparer der Mittelschichten zu einer risikofreudigeren Finanzialisierung ihrer Vermögenswerte und Sparziele zu veranlassen, was wiederum Geld für Unternehmensbeteiligungen, Aktienkäufe und damit Investitionen mobilisiere und damit das versprochene Wachstum generiere. Finanzminister Bruno Le Maire, ein Überläufer aus der Sarkozy-Partei »Die Republikaner«, twitterte an den damaligen Haushaltsminister und Schatzmeister Sarkozys: »Alles, was ihr jahrelang gefordert habt, machen wir jetzt: Also unterstützt uns!«

Macron und seine Leute haben durchaus einen weiten Blick auf die ökonomischen Probleme des Landes. Selbst die exportfähigsten Hochtechnologie-Konzerne Frankreichs sind im Maßstab der Weltmarktkonkurrenz Zwerge. Daher hat er die Fusion des Werftenkomplex von Saint Nazaire, den er als Wirtschaftsminister noch quasi-verstaatlicht hatte, mit dem italienischen Branchenführer eingefädelt. Daher hat er der Fusion der deutschen und französischen Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn-Produzenten Alstom und Siemens zugestimmt, die zusammen nicht halb soviel Umsatz machen wie der chinesische Mittbewerber, gegen den die beiden Unternehmen bei großen russischen Infrastrukturprojekten die Ausschreibung verloren hatten. Auf kurze Sicht wird diese Industriepolitik allerdings französische Arbeitsplätze kosten.

 

Der Umbau der EU

»Wenn sie eine Koalition mit der FDP eingeht, bin ich tot«, soll Macron im Juli gesagt haben, als der Wahltriumpf der Rechten noch in den Sternen stand. Bereits jetzt treibt die euro-feindliche AfD die potentielle Kanzlerin und ihr potentielles Jamaika-Bündnis vor sich her. Der erste Beschluss der AfD-Fraktion warf Frankreich die »Beschneidung der deutschen Souveränität« vor, wenn Deutschland nach Macrons Willen für europäische Schulden haften solle.

Ähnlich dürften Macrons Ideen bei Teilen der FDP, aber auch beim scheidenden Finanzminister Schäuble aufgenommen worden sein. Im Wahlprogramm der FDP ist eine Beschneidung von europäischen Finanzhilfen vorgesehen, eine Koppelung an sogenannte Strukturreformen und die Möglichkeit der Staatsinsolvenz; gemeinsame Anleihen lehnt die FDP ab.

Damit ist der Konflikt mit Macrons Forderungen offen ausgesprochen. Er hatte, zuletzt im Auditorium der Sorbonne-Universität, ein flammendes Plädoyer für eine Erneuerung Europas gehalten. Einen Plan B, falls Merkel und die FDP sich querlegen, ist nirgendwo sichtbar, was aber auch taktische Gründe haben mag. Das Konzept Macrons beinhaltet auf ökonomischem Gebiet interessante europapolitische Ansätze, ohne sie wirklich zu operationalisieren.

Geht es nach dem Willen des französischen Präsidenten, dann soll die EU eine gemeinsame Anti-Terror-Ermittlungsbehörde erhalten, eine Geheimdienstakademie, eine Katastrophenschutzbehörde, einen Verteidigungshaushalt, eine Innovationsagentur, eine Asylbehörde und eine Finanztransaktionssteuer. Die Einwanderungsgesetze sollen harmonisiert werden – was einen Abschied von den unsäglichen Dublin-Regelungen und damit der Abschiebepraxis der Bundesregierung bedeuten könnte –, aber auch verbindlichere Aufnahmeverpflichtungen und -steuerung der anderen EU-Partner und somit eine Minderung des Migrationsdrucks.

Und die 19 Mitgliedsländer der Euro-Zone sollen ein gemeinsames Budget und einen gemeinsamen Finanzminister erhalten, vielleicht auch gemeinsame Steuern. Macron nannte keine Zahlen. Im Vorfeld seiner Rede war von Größenordnungen für den Euro-Haushalt von mehreren Prozentpunkten des Bruttoinlandprodukts der betreffenden Staaten die Rede.

Die von AfD, FDP und anderen abgelehnte gemeinsame Haushaltspolitik der Staaten mit Euro-Währung böte zumindest eine bessere Koordinierungsmöglichkeit für die Gestaltung solcher Industriepolitik, Investitionsprogramme und vor allem die Unterstützung schwächerer Partnerländer. Die Währungskrise 2010 infolge der Bankenkrise 2008 hat gezeigt, dass alle Länder der Währungsunion erhebliche Friktionen erleiden, wenn ein Land der Union wegbricht.

Eine Sozialunion soll mit der Schaffung eines europäischen Mindestlohns auf den Weg gebracht werden. Wenn dies nicht eine Absenkung des Niveaus auf den jeweils schlechtesten Standard bedeutet, stärkt dies die Kaufkraft und würde vor allem würde der unsäglichen Dumping-Konkurrenz eine Schranke setzen. Damit wäre ein erster Schritt zu einer Arbeitsmarktregulierung getan. Damit verlören innereuropäische Armutswanderungen etwas an Antriebskraft.

Einen weiteren Konstruktionsfehler der Währungsunion, die Steuerkonkurrenz, hat Macron ebenfalls erkannt, da er eine Vereinheitlichung der Unternehmenssteuern anstrebt.
Macron bringt die Finanztransaktionssteuer wieder ins Gespräch, mit der er die Flüchtlingsströme in den Ursprungsländern abschwächen will. Überhaupt soll der EU und ihrem künftigen Finanz»minister« eine eigene Steuerquelle geschaffen werden. Das würde die EU-Kommission von den nationalstaatlich motivierten Begrenzungen der Mittelzuweisungen etwas unabhängiger machen und damit ein Gegengewicht zu den Sachzwängen der Währungsunion sein.

Diese Erweiterung der Kompetenzen bedarf einer demokratischen Legitimation. Diese verspricht sich Macron von einer Stärkung des EU-Parlamentes, in dem als erstem Schritt die Mandate des ausscheidenden britischen Königreiches über gemeinsame Listen der europäischen Parteifamilien in Direktwahl vergeben werden sollen.

 

Die Debatte ist eröffnet

Die politischen Reaktionen in Deutschland und Frankreich sind verhalten bis ablehnend. Graf Lambsdorf, für die FDP im EU-Parlament: »Was wir nicht brauchen, sind zu viel Staat und neue Steuern. Die Eurozone braucht mehr Wettbewerbsfähigkeit, keine neuen Geldtöpfe.« Die sich abzeichnende neue Merkel-Regierung wird diese Schritte nicht mittun, sie könnte daher durchaus als anti-europäisch, gar nationalistisch vorgeführt werden.

Ifo-Präsident Clemens Fuest rät: »In der Außen- und Sicherheitspolitik oder auch bei der Handelspolitik wäre eine handlungsfähigere EU durchaus hilfreich. Aber Macrons Pläne für die Eurozone halte ich für nicht richtig.« Gustav Horn rät hingegen der SPD dazu, sich hinter Macron zu stellen.

Im Finanzministerium werden Abwehrpositionen durchgespielt. Dreh- und Angelpunkt ist der europäische Rettungsschirm ESM. Zu dessen Aufgaben soll künftig auch gehören, ein neues Insolvenzverfahren für zahlungsunfähige Mitgliedsländer zu überwachen. Dieser »Mechanismus zur Schuldenumstrukturierung« soll im Falle einer Staatspleite eine »faire Lastenteilung zwischen ESM und privaten Gläubigern« gewährleisten. Der ESM wäre damit verantwortlich »für künftige Umschuldungsmaßnahmen und ihre Koordinierung«. Damit aus dem Rettungsschirm ein europäischer Währungsfonds werden könne, müsse der ESM mehr Ressourcen auf die Prävention von Krisen verwenden, heißt es in dem Papier weiter. Dazu fehle ihm bislang aber das Mandat. »Es ist deshalb wichtig, die ESM-Befugnisse auszuweiten und ihm eine größere Rolle bei der Beobachtung von länderspezifischen Risiken zuzuweisen.« Voraussetzung dafür sei, dass der ESM über den Stabilitätspakt wache, was bislang Aufgabe der EU-Kommission ist.

Schäubles Beamte lehnen auch einen womöglich schuldenfinanzierten Extra-Haushalt für die Eurozone ab. Dabei handele es sich um eine Schuldenvergemeinschaftung, die »falsche Anreize setze, fundamentale rechtliche Fragen aufwerfe und die Stabilität der ganzen Eurozone infrage stelle«. Wie auch immer sie genannt würden, für Gemeinschaftsanleihen, mit denen eine solche »Fiskalkapazität« finanziert würde, gebe es auf den Finanzmärkten keinen Bedarf.

In Frankreich nimmt der sozialdemokratische PS das Ergebnis der Debatte schon vorweg: »Die europäische Union funktioniert nicht so, dass sich alle hinter Frankreich und hinter Jupiter einreihen.« Aber hier steht man auch stark unter dem Druck nationalistischer Kräfte. Der Oppositionsführer, Jean-Luc Mélenchon, spielt die nationalistische Karte bewusst: »Macrons Konzept besteht darin, Frankreich aufzulösen, um es in einem Europa aufgehen zu lassen, das sich aus unterschiedlichsten und wild zusammengeklebten Bruchstücken zusammensetzt, ein Europa mit gemeinsamer aggressiver Verteidigung, ein Europa, das ganz auf den gemeinsamen Markt ausgerichtet ist und wo Frankreich seine eigene Industrie, seine Schule, seine politische Unabhängigkeit aufgibt.« Diese Töne sind Wasser auf die Mühlen des Front National, dessen Vorsitzende Marin Le Pen es auf die Formel brachte, Macron wolle »mehr europäische Integration und dass wir noch mehr von unserer Souveränität opfern«. Die europapolitischen Tonangeber der alten und neuen Bundestagsfraktion der LINKEN ereifern sich derweil über die Frage der Selbständigkeit Kataloniens.

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