13. Juli 2022 Otto König/Richard Detje: NATO beschließt neues »Strategisches Konzept«

»Kalter Krieg 2.0«

Auf ihrem Gipfel in Madrid hat die NATO eine Vergrößerung und geografische Entgrenzung des Militärpakts über den nordatlantischen Raum hinaus bis nach Asien sowie den Aufbau eines neuen Streitkräftemodells von gewaltigen Dimensionen und mit hoher Einsatzbereitschaft beschlossen. Die russische Invasion in der Ukraine hat das »hirntote Bündnis«, wie der französische Präsident es einmal bezeichnete, revitalisiert.

Es werde seine »Reichweite vergrößern«, um »im Einklang mit unserem 360-Grad-Ansatz in allen Dimensionen und Richtungen abzuschrecken« und bei Bedarf auch »verteidigen«, heißt es im neuen »Strategischen Konzept«,[1] das auf dem Gipfel in der spanischen Hauptstadt Madrid verabschiedet wurde. Der Interventionsraum ist längst nicht mehr auf den Nordatlantik begrenzt. Vor allem der Indopazifik ist Ziel des »360-Grad-Ansatzes«. Auch die sogenannte südliche Flanke ist fest im Blick: die Länder Nordafrikas über den Nahen Osten bis zur Sahel-Region.

Die NATO will ihre Kapazitäten ausbauen: ihre »Ostflanke« gegen Russland hochzurüsten und bei Bedarf zugleich an ihrer »Südflanke« oder im Indischen bzw. im Pazifischen Ozean operieren zu können. »Wir werden einzeln und kollektiv das volle Spektrum an Streitkräften, Fähigkeiten, Plänen, Ressourcen, Mitteln und Infrastruktur liefern, das zur Abschreckung und Verteidigung benötigt wird, und zwar auch für hochintensive dimensionsübergreifende Kriegsführung gegen gleichwertige Wettbewerber, die Kernwaffen besitzen«, heißt es in dem Konzept. Für NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg steht fest: »Wir werden unsere Kampfverbände an der östlichen Flanke verstärken, unsere schnellen Eingreifkräfte auf 300.000 erhöhen, mehr Ausrüstung in Position bringen und mehr Kommandozentren.«

Neben der Militarisierung ihrer Ostflanke hat die NATO auch die Südflanke ins Visier genommen. »Der Nahe Osten, Nordafrika und die Sahelregion« seien gegenwärtig durch »Konflikte, Fragilität und Instabilität« bedroht, ist im strategischen Konzept zu lesen. Dies schaffe nicht nur »einen fruchtbaren Boden« für Terrorismus, sondern ermögliche auch, dass sich »strategische Wettbewerber destabilisierend […] einmischen«. Deshalb werde man die eigenen Aktivitäten verstärken, so Stoltenberg. Neben dem »Trainingseinsatz« im Irak wolle man nun auch in Mauretanien, ein Nachbarland Malis, den Kampf gegen Terrorismus und Migration fördern. Auch Tunesien soll zusätzliche Unterstützung bekommen.

Während in dem bisher gültigen Konzept aus dem Jahr 2010 die Russische Föderation noch überwiegend in einem positiven Licht erschien und von der Volksrepublik China keine Rede war, stellt das verabschiedete Konzept den vorläufigen Höhepunkt einer sich seit längerem abzeichnenden Entwicklung dar. War bisher noch vom Streben nach einer strategischen Partnerschaft mit Russland die Rede, heißt es jetzt: »Russland ist die bedeutendste und direkteste Bedrohung der Sicherheit für die Allianz sowie Frieden und Sicherheit im Euro-Atlantischen Raum.« Mit dem neuen strategischen Konzept sei eine notwendige Anpassung an die Realität vorgenommen worden. »Russland ist jetzt unser Feind«, fasste Christoph Heusgen, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, im Interview mit der Deutschen Welle diesen Ansatz zusammen.

Das Madrider NATO-Dokument weist zum ersten Mal China als ernste Bedrohung der Allianz aus. Hieß es in der Londoner Erklärung von 2019 noch, China biete »sowohl Chancen als auch Herausforderungen«, lautet drei Jahre später das Narrativ: »Die von der Volksrepublik China erklärten Ziele und ihre Politik des Zwangs stellen unsere Interessen, unsere Sicherheit und unsere Werte vor Herausforderungen«. Die Volksrepublik nutze »ein breites Spektrum an politischen, wirtschaftlichen und militärischen Werkzeugen«, um ihren globalen Einfluss zu stärken. Der indopazifische Raum sei für die NATO wichtig, da Entwicklungen in dieser Region unmittelbare Auswirkungen auf die euro-atlantische Sicherheit haben können.

Das Bündnis werde sich gemeinsam mit den »Herausforderungen« seitens Chinas befassen, die eigene »Widerstandskraft« stärken und für die »gemeinsamen Werte und die regelbasierte internationale Ordnung einschließlich der Freiheit der Schifffahrt eintreten.« Dies zielt auf die Gebietsstreitigkeiten insbesondere im Südchinesischen Meer ab, wo China auf eine Reihe von Inseln und damit faktisch auch auf die Durchfahrtsrechte in der Region Anspruch erhebt. Unter Verweis auf das Seerechtsübereinkommen lehnt der Westen diese Ansprüche ab und unterstreicht seine Rechtsauffassung durch immer häufigere Manöver zur angeblichen Verteidigung der »Freiheit der Schifffahrt« (Freedom of Navigation Operation).

Darüber hinaus vertiefe China ihre »strategische Partnerschaft« mit Russland beim Versuch, »die regelbasierte internationale Ordnung« zu schwächen, d.h. die transatlantische Dominanz zu unterminieren. Hier folgen die europäischen Bündnispartner vasallenhaft der USA, die in dem asiatischen Land einen globalen Rivalen ausgemacht hat. Während die NATO andere Länder als ihre imaginären Gegner darstellt, sei es das Bündnis selbst, das seinen Einfluss auf Kosten der Sicherheit anderer Länder ausgeweitet und eine Blockkonfrontation mit einer veralteten Mentalität des Kalten Krieges angezettelt habe, kommentiert China Daily.

Die NATO wolle ihr »Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv deutlich verstärken« und in diesem Zug eine »substanzielle und durchgängige Präsenz auf dem Land, zur See und in der Luft sicherstellen«, und zwar »vorne mit robusten, im Einsatzgebiet stationierten dimensionsübergreifenden kampfbereiten Streitkräften [und] Infrastruktur zur schnellen Verstärkung«, heißt es in dem in Madrid beschlossenen Strategischen Konzept. So sieht das neue NATO-Streitkräftemodell, wahlweise »New Force Model« oder »Allied Reaction Force« (ARF) genannt, einen weitreichenden Umbau der Truppenstrukturen in Europa vor. So sollen nicht wie bisher 40.000 Soldat*innen der »NATO Response Force« (NRF) in hoher Einsatzbereitschaft gehalten werden – einsatzbereit binnen maximal 30 Tagen –, sondern künftig mehr als 300.000, wobei deren Einsatzbereitschaft je nach Einheit zwischen zehn und 50 Tagen betragen soll.

Einzelnen Streitkräften sollen spezielle Operationsgebiete zugewiesen werden, für die sie im Kriegsfalle zuständig sind. Nur Teile von ihnen sollen dort fest stationiert sein; die Mehrheit der Truppen soll zwar regelmäßig in den Operationsgebieten Manöver durchführen, aber ihren Standort im Heimatland behalten. Um im Kriegsfall binnen kürzester Zeit intervenieren zu können, sollen sie in den Operationsgebieten Waffenlager anlegen. Das sichert ihre schnellstmögliche Verfügbarkeit an der Front.[2] Die Bundeswehr wird, wie Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) mitteilte, rund 15.000 Soldat*innen für das neue Streitkräftemodell bereithalten.

Teil davon ist die NATO-Battlegroup im litauischen Rukla, die kürzlich auf rund 1.600 Soldat*innen aufgestockt wurde; etwas mehr als 1.000 von ihnen kommen aus Deutschland. Die Battlegroup soll von Bataillonsstärke auf die Größe einer Kampfbrigade erweitert werden, was 3.000 bis 5.000 Militärkräften entspricht. Damit stünde Litauen als potenzielles Operationsgebiet der Bundeswehr im Falle eines Krieges fest.

Aufgestockt werden, wie der US-amerikanische Präsident Joe Biden bestätigte, auch die US-Streitkräfte in Europa – auf mehr als 100.000 Soldat*innen. Unter anderem richten sie in Polen ein neues festes Hauptquartier ein und entsenden zwei zusätzliche F-35-Geschwader nach Großbritannien. Die US-Truppen in der Bundesrepublik sollen ebenfalls erweitert werden – um über 600 Luftverteidigungskräfte. Dazu kommen neue atomare Waffen sowie – in der Abschlusserklärung des Gipfels nicht erwähnt – die für das kommende Jahr geplante Stationierung neuer US-Hyperschallwaffen in der Bundesrepublik. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nennt das treffend »NATOisierung Europas«.

Gemeint ist: Die Bereitschaft der USA, Europa als potenzielles atomares Schlachtfeld zu sehen, ist ungebrochen. Das gilt ebenso für die Bereitschaft der Bundesregierung, das nicht nur zuzulassen, sondern dabei auch noch »Führungsmacht« zu sein.[3] Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, sieht die NATO auf dem Weg zur alten Raumverantwortung und damit zu einem »Kalten Krieg 2.0«.

Laut der von der NATO veröffentlichten neuen Zahlen sind die Militärhaushalte der Mitgliedsländer von 895 Mrd. Dollar (2015) auf 1.190 Mrd. Dollar (2022) gestiegen. Stoltenberg lobte, inzwischen würden neun NATO-Mitgliedstaaten zwei oder mehr Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in das Militär investieren, 19 weitere hätten angekündigt, diesen Wert bis 2024 erreichen zu wollen. Doch auch das scheint nicht genug. In Madrid gab der Generalsekretär die neue Devise aus, diese 2% seien nur noch »ein Boden, keine Decke«.

Auf dem Gipfel in Madrid wurde erneut bestätigt, dass das NATO-Bündnis mit Menschenrechten und Demokratie wenig am Hut hat. Weil Finnland und Schweden »starke eigene Armeen« hätten, mache ihr Beitritt »auch die NATO stärker«, lobte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Ein giftiger Pfeil in Richtung gänzlich Unbeteiligter. Um die Zustimmung der Türkei zur Norderweiterung zu bekommen, haben sich die beiden bisher neutralen Länder in einer gemeinsamen Erklärung mit der Türkei zur Aufhebung ihres Waffenembargos und zur engen Kooperation mit der türkischen Justiz und deren Geheimdiensten verpflichtet. Darüber hinaus haben sie die Änderung des Auslieferungsrechts zugesagt. Amineh Kakabaveh, unabhängige Abgeordnete des schwedischen Parlaments, im Jahr 2016 »Schwedin des Jahres« und selbst kurdisch stämmig, spricht von einem »schwarzen Tag in Schwedens Geschichte« (Telepolis, 30.6.2022).

Noch während des NATO-Gipfels verlangte der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdoğan die Auslieferung von 73 Oppositionellen, gegen die er die üblichen Terrorvorwürfe erhob: Mitgliedschaft in der kurdischen PKK und der Volksbefreiungsarmee YPG bzw. der Gülen-Bewegung. Während der Bundestag in Berlin mittlerweile die NATO-Norderweiterung und damit auch den Dreier-Deal zur Kurdenverfolgung durchgewunken hat, lässt Erdoğan keinen Zweifel: Werden ihm die »Terroristen« nicht wie gefordert ans Messer geliefert, werden die Beitrittspapiere nicht ratifiziert.

Der Kompromiss war auch deshalb zustande gekommen, weil US-Präsident Joseph Biden seinerseits die Lieferung moderner F16-Kampfjets an die türkische Luftwaffe zusagte, die Erdoğan seit längerem für seine Armee gefordert hat. Zwar bestreitet die amerikanische Seite den Zusammenhang, aber die Gleichzeitigkeit der Ereignisse deutet darauf hin.[4]

Anmerkungen

[1] NATO 2022 – Strategic Concept.
[2] Press Conference by NATO Secretary General Jens Stoltenberg following the meeting of the North Atlantic Council at the level of Heads of State and Government (2022 NATO Summit). nato.int, 29.06.2022.
[3] Siehe auch Otto König/Richard Detje: Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik? »Brückenbauer«, nicht »Scharfmacher« sind gefragt, Sozialismus.de Aktuell vom 4.7.2022.
[4] Biden stellte in Madrid bei einem bilateralen Treffen mit Erdogan die Lieferung der Jets in Aussicht, während das Abkommen zwischen den Beitrittsländern Finnland und Schweden sowie der Türkei unterschrieben wurde.

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