3. Dezember 2021 Redaktion Sozialismus.de: Erdoğan riskiert den Bankrott der Türkei

Kampf gegen »Geldbarone« und »Wucherzinsen«

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Der Krisenalltag in der Türkei: galoppierende Preise, Wertverfall der Lira, zunehmende Proteste der Bevölkerung. Die Türkei steckt in einer tiefen Krise. Doch Präsident Recep Tayyip Erdoğan bleibt unbeirrt bei seinem Chaos-Kurs.

Er nimmt eine weitere Eskalition in Kauf. Wegen des Zerfalls der Währung verteuern sich die Importe, was sich bei den Konsumgütern niederschlägt. Der Preisanstieg erreicht bedrohliche Ausmaße. Es droht auch ein Anstieg der Brotpreise, da die Mehlpreise gestiegen sind. Der anhaltende Verfall der Kaufkraft kostet die Regierung viel Rückhalt bei ihren Stammwähler*innen. Bis jetzt macht sie aber keine Anstalten, die taumelnde Währung zu stützen.

Es sind Chaostage in der Türkei. Die jüngste Episode in diesem politischen Theater ist der Rücktritt von Finanzminister Lütfi Elvan. Dieser gehörte zu den Wenigen, die in wirtschaftlichen Belangen noch durch ökonmischen Sachverstand auffielen. Hintergrund ist der Sturzflug der türkischen Lira.

Die Währung hat dieses Jahr gegenüber dem US-Dollar bereits um 45% an Wert verloren – ein Minus, das weltweit beispiellos ist. Der sinkende Außenwert der Lira hat die Inflation des stark importabhängigen Landes auf 20% hochschnellen lassen. Was gegen diese Entwicklung dringend getan werden müsste, liegt auf der Hand: Die Zentralbank müsste das Geldangebot verknappen und somit die Zinsen erhöhen. Doch der türkische Präsident will davon nichts wissen. Unter seinem Druck hat die Währungsbehörde den Leitzins seit September gar um fünf Prozentpunkte gesenkt.

Erdoğan, der sich selbst als »Zinsfeind« bezeichnet, ist der Überzeugung, dass hohe Kreditkosten eher die Ursache für die Inflation sind als deren Bremse, und hat sich zur Rechtfertigung seiner Haltung sogar auf die islamische Lehre berufen, die Wucher verbietet. Er setzt auf niedrigere Zinsen, um das Wachstum anzukurbeln und seine schwächelnde Popularität vor den Wahlen im Jahr 2023 aufzuhübschen.

»Wir werden die Zins-Plage von den Schultern unseres Volkes nehmen«, sagte er vor der Fraktion seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP in Ankara. »Wir werden definitiv nicht zulassen, dass Zinsen unser Volk in die Knie zwingen. Solange ich in diesem Amt bin, werde ich meinen Kampf gegen die Zinsen bis zuletzt weiterführen. Und ich werde auch meinen Kampf gegen die Inflation fortführen.«

Verschärft wird die Situation durch den lockeren geldpolitischen Kurs der Zentralbank, die ihren Leitzins trotz der gestiegenen Inflation zuletzt zweimal verringert hat. Erdoğan betonte in seiner Fraktionsrede, dass die Notenbank unabhängig entscheide, beklagte zugleich, dass Investoren trotz Zinssenkungen davonliefen: »Was seid ihr für Menschen?« Kritiker*innen monieren dagegen, der Kurs werde maßgeblich vom Präsidenten beeinflusst, mit Befürwortern von hohen Zinsen könne dieser nicht zusammenarbeiten.

Der bisherige Finanzminister wollte nicht länger ein Komplize von solcher Misswirtschaft sein. Er wird nun ersetzt durch den loyalen Parteisoldaten Nureddin Nebati, der in der Vergangenheit die abstrusen Wirtschaftstheorien von Erdoğan stets eisern verteidigt hatte. Die Personalie zeigt, dass der Präsident ungeachtet der zusehends dramatischen Wirtschaftslage im Land keinerlei Lernbereitschaft erkennen lässt. Er entlässt Überbringer schlechter Nachrichten und ersetzt sie mit Leuten, die alles nachbeten, was er selbst von sich gibt.

Für die Lira bedeutet das nichts Gutes. Die Währung wird keinen Boden finden, solange Erdoğan die Gesetze der Ökonomie ignoriert. Wenn die Verzinsung des Geldes weit unter dessen Wertverlust liegt (derzeit beträgt der Abstand in der Türkei rund fünf Prozentpunkte), sind Lira-Anlagen ein sicheres Verlustgeschäft. Entsprechend machen Investoren einen weiten Bogen um das Land. Das ist nicht Ausdruck einer internationalen Verschwörung und auch kein Angriff auf die Unabhängigkeit der Türkei, wie der Präsident gern behauptet, sondern alltägliche kapitalistische Ökonomie.

Die Lira-Abwertung macht Importprodukte teurer. Schulden in Hartwährungen werden deutlich belastender für Betriebe und Banken. Alle Bürger*innen des Landes spüren das. Auch die Veteranen der Zentralbank und Erdoğans politische Rivalen warnen, dass die Inflation, die bereits bei 20% liegt, noch weiter ansteigen wird.

Während das kreditgetriebene Wachstum in früheren Zeiten der AKP Herrschaft gut funktioniert hat, bedeuten die kumulativen Auswirkungen dieser Politik und die durch die Pandemie verursachten Schäden, dass die potenziellen sozialen Kosten dieses Mal viel höher ausfallen dürften. Die galoppierende Lebensmittelinflation und die in die Höhe schießenden Mieten drücken derzeit auf die unteren Schichten – einschließlich Erdoğans traditioneller Basis. Meinungsforschungsinstitute sagen, dass auch die jüngsten Turbulenzen der Währungskrise unentschlossene Wähler*innen in die Hände der Opposition treiben werden.

Die Türkei braucht aber keinen neuen Finanzminister, sondern einen Staatspräsidenten, der einsieht, dass man die Geldentwertung nicht per Dekret beenden kann, sondern nur mit einer entsprechenden Wirtschaftspolitik. Von einer solchen Politik ist das Land derzeit meilenweit entfernt. Erdoğan hält daran fest, mit billigem Geld ein kreditfinanziertes Wachstum ankurbeln zu müssen. Er weiß, dass seine Popularitätsrate in der Vergangenheit eng mit der Höhe des Wirtschaftswachstums korrelierte. Im Jahr 2023 stehen Wahlen an.

Jetzt geldpolitisch auf die Bremse zu treten, ist unumgänglich. Ein solches Manöver könnte aber eine Rezession auslösen, die Erdoğan aus wahltaktischen Gründen unter allen Umständen zu verhindern versucht. Je länger eine geldpolitische Korrektur hinausgezögert wird, desto größer wird die Gefahr, dass die Inflation gänzlich außer Kontrolle gerät. Schon seit Jahren ignoriert der Präsident die formelle Unabhängigkeit der Zentralbank, in den vergangenen zwei Jahren hat er schon drei Notenbankchefs hinausgeworfen.

Es gibt durchaus auch Gewinner in der gegenwärtigen Krise. Die sinkenden Arbeitskosten durch den Währungszerfall verschaffen exportorientierten Branchen einen Wettbewerbsvorteil, auch wenn ein Teil davon durch höhere Importpreise für Rohstoffe aufgefressen wird. Zudem erlauben die tiefen Kreditkosten Firmen, ihre Produktion schnell einer steigenden Nachfrage anzupassen. Für 2021 wird für die Türkei ein Wachstum von 8,9% prognostiziert.

In der Bauwirtschaft, seit je eine wichtige Stütze des Präsidenten, profitieren große Firmen ebenfalls vom billigen Geld. Erdoğan hat immer auf ein kreditgetriebenes Wachstum gesetzt. Solange massive ausländische Investitionen ins Land flossen, war das kein Problem. Doch das ist, nicht zuletzt wegen der Entfremdung der Türkei von ihren traditionellen Partnern im Westen, schon länger nicht mehr der Fall.

Gewinner dieser Geldentwertung sind die Aktionäre, die sich über hohe Renditen freuen. Auch die reale Wirtschaft wächst mit hohem Tempo. Die Arbeitslosigkeit ist längst unter dem Niveau von Februar 2020, als die Coronakrise begann. Hohe Inflation begünstigt die, die verschuldet sind. Sowohl Privathaushalte als auch der Staat können sich bei einer Inflationsrate von 20% derzeit schnell entschulden.

Unternehmen sehen es zum Teil anders, weil sie ihre Schulden zum Teil in US-Dollar oder Euro aufgenommen haben. Auch die Steuern wurden unlängst angehoben. Dem Aktienmarkt scheint es nicht zu schaden. Das gilt solange, bis man die inflations- oder währungsbereinigte Performance betrachtet.

Leidtragende der Misere ist die Mehrheit der Bevölkerung, deren Löhne und Sozialtransfers immer rascher an Kaufkraft verlieren. Inwiefern dieser Trend dem Präsidenten auch in den eher ländlichen Gegenden Anatoliens gefährlich werden könnte, bleibt offen. Inzwischen gehen einige ehemalige Weggefährten von Erdoğan, die lange geschwiegen haben, auf Distanz zum Präsidenten, weil sie erkannt haben, dass diese Krise weitgehend hausgemacht ist.

Die Talfahrt der türkischen Lira hatte sich zuletzt beschleunigt. Die türkische Zentralbank hat Teile ihres Devisenschatzes verkauft, um die Lira zu stabilisieren. Doch schon wenige Stunden später ging es wieder abwärts. Die türkische Währung verliert aufgrund der Zinspolitik der Notenbank, die Zinspolitik der Notenbank, die wiederum von Präsident Recep Tayyip Erdogan bestimmt wird bestimmt wird, weiter an Wert. Er hat in den vergangenen Tagen nicht nur signalisiert, dass er nicht an eine Kehrtwende denkt, sondern überhöht seine selbstzerstörerische Politik inzwischen zu einem Kampf gegen ausländische »Geldbarone«.

Für die Regierung, die ohnehin in einem Umfragetief steckt, ist der Währungszerfall und die Zerstörung der Wertrelationen politisch gefährlich. Die zugewanderten einfachen Arbeiter in den Städten, die besonders unter dem Wertzerfall des Geldes leiden, bildeten lange Zeit die Kernwählerschaft der AKP. Selbst der traditionell sehr zurückhaltende Unternehmerverband des Landes kritisierte schon vor einigen Wochen die Währungspolitik des Landes. Deutliche Worte fand auch der ehemalige Vizechef der Zentralbank, Semih Tümen. In seiner ersten Stellungnahme seit seiner Entlassung im Oktober forderte er »ein Ende dieses irrationalen Experiments, das keine Aussicht auf Erfolg« habe.

Noch hat dieser zivilgesellschaftliche Unmut nicht die Dichte und Verallgemeinerung erreicht, die die AKP zu einer Umkehr veranlassen würden. Der Staatsapparat ist weitgehend auf den Präsidenten ausgerichtet, was die politischen Prozesse belegen. Es sieht also so aus, dass Erdoğan weiterhin die Zerstörung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses vorantreiben kann.

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