7. Mai 2022 Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Preissteigerungen belasten vor allem die »unteren Schichten«

Kampf gegen Kaufkraftverluste

Angesichts der steigenden Preissteigerungen, die im April in der Eurozone ein Rekordniveau von 7,5% erreichten, steigt der Druck auf die Europäische Zentralbank (EZB). Auch in Deutschland haben die Verbraucherpreise im April weiter zugelegt. Sie erhöhten sich um 7,4% im Vergleich zum Vorjahresmonat.

Die Preisentwicklung war schon zu Jahresbeginn stärker ausgefallen als zunächst erwartet. Aktuell wird sie durch den Krieg in der Ukraine noch weiter verstärkt. Diese Entwicklung bedeutet Einkommens- und Wohlstandsverluste vor allem für die Lohnabhängigen. Die Gewerkschaften können und wollen die Einkommensverluste nicht akzeptieren. Deshalb haben die Tarifkommissionen der IG Metall für die Stahlindustrie Nordwest und Ost als Forderungsempfehlung für die anstehende Tarifrunde Eisen und Stahl 2022 beschlossen: 8,2% mehr Geld; am 8. Mai verabschiedet der IG Metall-Vorstand die endgültige Tarifforderung.

Auch die verletzlichsten Menschen unserer Gesellschaft, die mit geringen Einkommen, sind besonders von den hohen Preissteigerungen betroffen, die die soziale Polarisierung in der Berliner Republik beschleunigen. »Haushalte mit geringeren Einkommen sind durch den Preisanstieg bei Haushaltsenergie überproportional belastet und sie spüren auch die Verteuerung der Nahrungsmittel stärker«, schreiben Sebastian Dullien und Silke Tober vom IMK in der Hans-Boeckler-Stiftung in ihrem aktuellen »Inflationsmonitor«.[1]

Viele Ökonom*innen und auch Politiker*innen hatten in den letzten Wochen die EZB dazu gedrängt, endlich die Zinsen zu erhöhen. Bisher hat sich deren Chefin Christine Lagarde dagegen gesträubt und erklärt, man wolle weitere Daten abwarten. Dies überzeugt die unteren Schichten nicht.


Steigende Haushaltskosten als sozialer Sprengsatz

Die Politik müsse entschiedener gegen Armut vorgehen, fordert Jochen Brühl, der Vorsitzende von »Tafel Deutschland«, dem Dachverband der mehr als 950 gemeinnützigen Tafeln in Deutschland, die überschüssige Lebensmittel sammeln und an Menschen in Not verteilen. Die Tafeln allein könnten »diesen Druck nicht aushalten«, den einer steigenden Nachfrage nach Lebensmitteln steht ein rückläufiges Spendenaufkommen entgegen. Konkret forderte Brühl zudem, bei den Entlastungspaketen nachzubessern: »Einmalzahlungen von wenigen hundert Euro reichen nicht aus und kommen zu spät«. Stattdessen müsse schnell eine Erhöhung der Harz-IV-Regelsätze sowie »deutliche Entlastungen für Menschen mit geringen Einkommen« kommen.

Es geht um eine zweifache politische Herausforderung: die Preissteigerung bekämpfen und durch Entlastungspakete die sozialen Folgen begrenzen. Die Möglichkeit der Bekämpfung ergibt sich durch Zins- und Kreditpolitik. Einige Notenbanken haben längst auf die galoppierende Inflation reagiert. Die US-amerikanische Fed hatte vor wenigen Wochen die Leitzinsen angehoben, jetzt erhöhte sie abermals deutlich um 0,5 Prozentpunkte. Auch die britische Notenbank hat die Zinswende eingeläutet. Der Druck auf die EZB zu handeln, steigt.

Die Kaufkraftverluste in Deutschland sind auf einem besorgniserregend hohen Niveau: Im April sind die Konsumentenpreise gemessen am deutschen Verbraucherpreisindex laut vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis)[2] gegenüber dem Vorjahresmonat um 7,4% und gegenüber dem Vormonat März um 0,8% gestiegen. Damit hat die Geldentwertung gegenüber März nochmals zugelegt. Gemessen am harmonisierten Verbraucherpreisindex der EU, der einen anderen Warenkorb verwendet und den auch die Europäische Zentralbank (EZB) für ihre Analysen benutzt, betrug der Preisanstieg gegenüber dem gleichen Vorjahresmonat im April sogar 7,8%.


Kostentreiber Energie und Lebensmittel

Ähnlich hohe Kaufkraftverluste verzeichnete Deutschland laut Destatis zuletzt im Herbst 1981, als infolge des ersten Golfkriegs zwischen dem Irak und Iran die Mineralölpreise stark gestiegen waren.

Verantwortlich sind auch jetzt Haushaltsenergie und Kraftstoffe, obwohl deren Preise in jüngster Zeit zum Teil etwas nachgelassen haben: Sie waren im Berichtsmonat 35,3% teurer als im April 2021, während sie im März im Vergleich zum Vorjahresmonat sogar um fast 40% gestiegen waren. Die zuvor schon hohen Energiepreise sind mit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in die Höhe geschossen. Russland ist oder war ein wichtiger Exporteur von Öl und Gas, hat aber soeben die Gas-Lieferungen nach Polen und Bulgarien eingestellt. Zugleich versucht der Westen, möglichst rasch von russischen Lieferungen unabhängig zu werden, was mit Kosten verbunden ist.

Zu den hohen Energiepreisen kommen weitere Effekte, namentlich Lieferengpässe durch den Unterbruch von Lieferketten aufgrund der Corona-Pandemie. Nach Einschätzung von Ökonom*innen wird es immer wieder zu Produktionsunterbrüchen und lahmgelegten Infrastrukturen kommen, solange China an seiner Null-Covid-Politik festhält und Millionenstädte abriegelt.

Beschleunigt hat sich im Berichtsmonat zudem der Anstieg der Nahrungsmittelpreise: Legten sie im März gegenüber dem Vorjahresmonat um 6,2% zu, waren es im April 8,5%. Auch dies hat einen Zusammenhang mit dem Krieg: In der als Kornkammer bekannten Ukraine werden massive Ernteausfälle befürchtet.

Die meisten Konjunkturforscher gehen inzwischen davon aus, dass die Teuerung vorerst auf hohem Niveau verharren wird. So sagen die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrer Mitte April publizierten »Gemeinschaftsdiagnose« für das ganze laufende Jahr eine durchschnittliche Jahresteuerung von 6,1% voraus. Damit wäre der Preisanstieg so kräftig wie seit 40 Jahren nicht mehr.

Die Institute argumentierten u.a., die starken Rohstoffpreisanstiege würden erst nach und nach auf der Stufe der Konsument*innen ankommen. Im Falle eines Lieferstopps für russische Energie würde die Teuerung gar 7,3% erreichen, den höchsten Wert seit Bestehen der Bundesrepublik.

Für 2023 erwartet die Gemeinschaftsdiagnose einen Rückgang der Inflationsrate auf 2,8%. Andere Prognosen, darunter jene der Bundesregierung und des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (»Wirtschaftsweise«), erwarten ähnliche Entwicklungen. Zum Vergleich: 2021 hat die deutsche Jahresteuerung 3,1% betragen, was gemessen an den Vorjahren bereits ein sehr hoher Wert war.


Entlastungspaket der Ampel-Koalition

Angesichts stark steigender Preise für Energie und Lebensmittel will die Bundesregierung Bürger*innen finanziell entlasten. Denn die steigenden Lebenshaltungskosten sind auch sozialpolitisch ein Problem: Je ärmer ein Haushalt, desto höher ist tendenziell seine Belastung. Die Ampel-Koalition hat zwei sogenannte Entlastungspakete geschnürt, das zuletzt beschlossene soll mehr als 15 Mrd. Euro umfassen und in Kürze von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden. Im Einzelnen sind darin vorgesehen:

300 Euro Energiepreispauschale: Arbeitnehmer*innen und Beamte bekommen im September 300 Euro ausgezahlt – und zwar von ihrem Arbeitgeber über die Gehaltsabrechnung. Selbständige bekommen das Geld auch, ihnen wird die Einkommensteuer-Vorauszahlung einmalig um diesen Betrag gekürzt. Faktisch ist die Entlastung aber deutlich geringer, da die 300 Euro am Ende wieder versteuert werden müssen. Wer nicht steuerpflichtig erwerbstätig ist, geht leer aus – also zum Beispiel Minijobber*innen, Rentner*innen, Kinder oder Arbeitslose.

Drei Monate günstiger Nahverkehr: Im Juni, Juli und August kann jede und jeder für neun Euro in ganz Deutschland den öffentlichen Nahverkehr nutzen – also Linienbusse, Straße-, U- und S-Bahnen sowie Regionalzüge, nicht aber Fernverkehrszüge. Dadurch sollen auch neue Kunden gewonnen werden. Die Fahrkarten sollen vor allem als Online-Ticket ab Ende Mai verkauft werden, Inhaber von Semestertickets, Monats- oder Jahresabos bekommen die Differenz überwiesen. Die Einnahmeausfälle für die Verkehrsbetriebe und -verbünde will der Bund den Ländern ersetzen.

Drei Monate günstigerer Sprit: Ebenfalls für diese drei Monate senkt die Bundesregierung die Steuer auf Benzin um 30 Cent je Liter und auf Diesel um 14 Cent je Liter – und damit auf das EU-weit vorgeschriebene Mindestmaß. Um so viel könnte dann also der Spritpreis günstiger werden, sofern die Mineralölkonzerne und Tankstellenbetreiber die Steuersenkung eins zu eins an die Autofahrer weitergeben. Unklar ist zudem, wie sich bis dahin der letztlich entscheidende Rohölpreis auf den Weltmärkten entwickelt.

100 Euro Kinderbonus: Für jedes Kind bekommen die Eltern im Juli einmalig 100 Euro ausbezahlt. Und zwar für alle Kinder, für die sie auch einen Anspruch auf Kindergeld haben. Bei der Steuererklärung wird das am Ende auf den Kinderfreibetrag angerechnet.

Einmalzahlung für Empfänger von Sozialleistungen: Wer beispielsweise Hartz IV oder Sozialhilfe bekommt, dem wird ein einmaliger Zuschuss von 200 Euro pro Kopf ausgezahlt.

Schon zuvor hatte sich die Ampel-Koalition am 23. Februar auf ein erstes Entlastungspaket geeinigt. Das sieht vor allem diverse Senkungen der Einkommensteuer vor: Der Grundfreibetrag steigt um 363 Euro auf 10.347 Euro im Jahr, der Arbeitnehmer-Pauschbetrag (also der pauschale Werbungskostenabzug, den jeder in Anspruch nehmen kann) um 200 Euro auf 1.200 Euro, die Pendlerpauschale ab dem 21. Kilometer von 35 auf 38 Cent. Zudem wird zum 1. Juli die EEG-Umlage gestrichen, was den Preis für eine Kilowattstunde Strom generell um knapp vier Cent senken soll.

Zugleich gibt es Hilfen für Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben: Bezieher*innen von Arbeitslosengeld erhalten einmalig 100 Euro, für Kinder und Jugendliche, die Sozialleistungen bekommen, werden von Juli an monatlich 20 Euro mehr ausgezahlt. Und einen nach Personen gestaffelten Heizkostenzuschuss gibt es für alle Bezieher von Wohngeld oder Bafög.


Anstieg (nicht nur) der Energiepreise verstärkt soziale Ungleichheit

In einer aktuellen Studie des DIW[3] werden die Verteilungswirkungen der höheren Energiepreise sowie der beschlossenen Entlastungspakete gegenübergestellt und auf Grundlage von Einzeldaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) simuliert. Die Be- und Entlastungen werden in Prozent des Haushaltsnettoeinkommens angegeben. Es handelt sich also um die relativen Einkommenseffekte bezogen auf das verfügbare Einkommen nach Abzug von Einkommensteuer und Sozialbeiträgen. Simuliert werden die Wirkungen bezogen auf das Jahreseinkommen 2022, gegliedert nach Dezilen des äquivalenzgewichteten Haushaltsnettoeinkommens.

»Im Durchschnitt über alle Haushalte und bezogen auf das Jahreseinkommen 2022 bedeuten die hohen Energiepreise mittelfristig – also im Verlaufe der nächsten zwölf bis 18 Monate – Realeinkommensverluste von 3,4% […] Diese sind reichlich ungleich über die Einkommensdezile verteilt und wirken ›regressiv‹: Die armen Haushalte werden in Relation zum Nettoeinkommen also deutlich stärker belastet als die reichen Haushalte. Im untersten Dezil – also bei den ärmsten 10% der Einkommensverteilung – machen die Energiepreissteigerungen knapp 7% des Nettoeinkommens aus und bei den mittleren Einkommen rund 4%. Die reichsten 10%, also die Personen im obersten Einkommensdezil, müssen im Durchschnitt hingegen nur knapp 2% ihres Haushaltsnettoeinkommens mehr für Energie aufwenden und werden somit relativ am wenigsten belastet.

Die regressive Belastungswirkung ist bei den Heizstoffen und beim Strom sehr ausgeprägt, denn diese Energieträger gehören zum Grundbedarf, für den arme Haushalte einen hohen Anteil ihres Haushaltsbudgets ausgeben. Dagegen sind die Belastungen durch die Preissteigerungen bei den Kraftstoffen bei den unteren und mittleren Einkommen nahezu proportional, beim Diesel sogar leicht progressiv – sie werden erst in den oberen beiden Einkommensdezilen spürbar regressiv. Haushalte mit höheren Einkommen haben mehr Kraftfahrzeuge und fahren längere Strecken, gerade auch bei den Arbeitswegen. Daher bleibt der Ausgabenanteil für Kraftstoffe über die Einkommensgruppen weitgehend gleich.«

Bei Haushalten mit niedrigen Einkommen sind die hohen Belastungen besonders gravierend, da sie zumeist nur geringe Möglichkeiten haben, ihr Konsumbudget durch weniger Sparen, Auflösung von Vermögen oder Verschuldung auszuweiten. Daher müssen sie wohl oder übel die Heizung herunterdrehen oder den Konsum an anderer Stelle einschränken. Staatliche Entlastungsprogramme sollten sich daher primär auf den unteren Bereich der Einkommensverteilung konzentrieren.

Die beiden von der Ampel-Koalition beschlossenen Entlastungspakete umfassen ein Entlastungsvolumen von insgesamt knapp 29 Mrd. Euro oder 0,8% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Davon entfallen 23,6 Mrd. Euro auf die privaten Haushalte. Für die Analyse der Verteilungswirkungen werden diese Maßnahmen auf das jährliche Haushaltsnettoeinkommen bezogen, also auch die Einmalzahlungen bei den Sozialleistungen sowie die Energiepreispauschale oder die dreimonatige Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe.


Ärmere Haushalte deutlich stärker belastet als reichere

Nimmt man die Belastungen durch die hohen Energiepreise und die Entlastungspakete zusammen, ergeben sich für das gesamte Jahr 2022 im Durchschnitt aller Haushalte per Saldo Belastungen in Höhe von 2,1%. Diese sind deutlich regressiv verteilt: Die unteren Dezile werden im Durchschnitt mit rund 3% belastet, während es in den oberen Einkommensgruppen deutlich unter 2% sind, im obersten Dezil nur 1,3%.

»Durch die hohen Energiepreise kommen auf die ärmeren Haushalte mittelfristig erhebliche Belastungen zu – ganz zu schweigen von den Preiserhöhungen bei weiteren Produkten, die in den hier vorgelegten Simulationsrechnungen noch nicht berücksichtigt sind. Die Entlastungspakete der Ampel-Koalition bringen in den nächsten Monaten spürbare Erleichterungen vor allem durch die Einmalzahlungen bei den Sozialleistungen oder die Energiepreispauschale. Mittelfristig dürften sich aber die Heizkosten verdoppeln, wie es in den Simulationsrechnungen berücksichtigt ist. Dann drohen den Geringverdienenden Realeinkommensverluste von durchschnittlich 3%, in vielen Fällen auch deutlich mehr. Diese müssen dann ihren Konsum anderweitig einschränken, da sie zumeist kaum Möglichkeiten haben, Ersparnisse zu verringern oder Schulden zu machen. Hier sollte die Politik bei den Sozialleistungen nachbessern, wenn die hohen Energiepreise aller Voraussicht nach noch bis weit in das nächste Jahr hinein anhalten.

Auch die Haushalte mit mittleren und höheren Einkommen werden von den hohen Energiepreisen spürbar getroffen, obwohl sie vor allem von den Entlastungen bei der Einkommensteuer sowie der einmaligen Energiepreispauschale profitieren. Noch höhere Entlastungen reißen neue Löcher in die öffentlichen Haushalte. Ferner heizen breite defizitfinanzierte Entlastungen die Inflation weiter an. Insgesamt wird die Volkswirtschaft durch die hohen Energiepreise ärmer, die Belastungen werden also durch die Entlastungsprogramme nur umverteilt und verschoben – und sei es in die Zukunft, indem die Staatsschulden ausgeweitet werden.«

Deshalb fordern die DIW-Forscher Besser- und Hochverdienende nicht zu entlasten und mittelfristig die Steuern auf höhere Einkommen und Vermögen zu erhöhen, um die fiskalische Nachhaltigkeit zu stärken – zumal angesichts der weiteren Herausforderungen für die öffentlichen Haushalte.

»In jedem Fall sollten die Entlastungen die Anreize zum Energiesparen erhalten. Insofern ist die Steuerentlastung bei den Kraftstoffen fragwürdig. Diese Mittel sollten besser zur Entlastung besonders betroffener Gruppen eingesetzt werden, wie Pendler*innen oder Unternehmen in Logistik und Verkehr. Auch das Neun-Euro-Monatsticket für den ÖPNV ist insoweit kritisch zu sehen, da es vermutlich erhebliche Mitnahmeeffekte auslösen wird. Hier wäre es sinnvoller, die Betriebskostenerhöhungen im ÖPNV aufzufangen und darüber hinaus gegebenenfalls die Preise für alle Tickets temporär um zum Beispiel 20% zu senken oder PendlerInnen mit einem Neukundenprogramm gezielter zum Umstieg zu bewegen.«

Die Abstimmung der verschiedenen Sozialleistungen sowie deren Kombination mit der Einkommensteuer bleiben eine dauernde Herausforderung. Auch bei der Energiepreispauschale gibt es noch viele offene Fragen, etwa zur Einbeziehung in die Lohnsteuer, zur Behandlung von Minijobber*innen, Rentner*innen oder von Selbständigen ohne Vorauszahlungen oder zur Versteuerung der Pauschale. »Daher sollte für künftige Herausforderungen das im Koalitionsvertrag vereinbarte Klimageld zügig auf den Weg gebracht werden, wie es im zweiten Entlastungspaket der Regierungskoalition auch vereinbart wurde. Damit könnten Direktzahlungen an alle privaten Haushalte schnell und unbürokratisch abgewickelt werden. Wenn dabei alle verfügbaren Informationen der Steuer- und Sozialbehörden zur Haushaltszusammensetzung und zum Einkommen genutzt werden, können die Leistungen auch nach sozioökonomischen Merkmalen differenziert werden.«


Wohlfahrtverbände und Gewerkschaften fordern Nachbesserungen

Zu Recht kritisiert der Paritätische Wohlfahrtsverband die vom Bundeskabinett im Rahmen des zweiten Entlastungspakets beschlossenen Hilfen für einkommensschwache Haushalte als völlig unzureichend. Statt einer Einmalleistung sei eine deutliche Anhebung der Regelsätze für Leistungen der Mindestsicherung wie Hartz IV um monatlich mindestens 200 Euro nötig.

»Die Monat für Monat dahinschmelzende Kaufkraft treibt die Ärmsten gerade buchstäblich an den Rand der Verzweiflung«, prognostiziert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Nicht nur die Energiekosten, sondern auch die Preise für Lebensmittel seien in den vergangenen Monaten außergewöhnlich stark angestiegen, während die Hartz-IV-Regelsätze zu Jahresbeginn um gerade einmal 0,7% erhöht wurden. »Arme Menschen dürfen nicht länger mit unzureichenden Einmalzahlungen vertröstet werden, sondern brauchen spürbare und dauerhafte Unterstützung in ihrer Not. Die Bundesregierung muss endlich einsehen, dass die Hartz-IV-Regelsätze schlicht viel zu niedrig sind.« Mindestens 200 Euro mehr im Monat werden benötigt, um die Grundsicherung annähernd bedarfsgerecht zu machen.

Der Paritätische appelliert an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags für wirksame Nachbesserungen zu sorgen. Neben einer dauerhaften und spürbaren Anhebung der Regelsätze in der Grundsicherung brauche es auch eine Ausweitung von Wohngeld und BaföG, damit mehr Menschen wirksam erreicht und entlastet werden. Der zuletzt beschlossene einmalige Heizkostenzuschuss werde zudem in der Höhe absehbar kaum ausreichen, um die Preisentwicklungen in diesem Jahr aufzufangen. Auch hier fordert der Verband eine nachhaltige und dauerhafte Lösung in Form einer echten Klimakomponente.

Zur Finanzierung der notwendigen Gegenmaßnahmen mahnt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die Dringlichkeit einer progressiven Steuerreform an, die hohe Einkommen, Vermögen oder Erbschaften stärker in die Pflicht nimmt. »Debatten um einen Sozialabbau zur Gegenfinanzierung sind unangebracht und ruinieren den gesellschaftlichen Zusammenhalt.« Mit dieser Forderung dürfte der DGB beim aktuellen Bundesfinanzminister auf massiven Widerstand stoßen, der jetzt schon sicher zähneknirschend wegen Corona-Krise und Ukraine-Krieg einen Ergänzungshaushalt von fast 40 Mrd. Euro vorlegen musste.


Neuverschuldung, Verteilungskämpfe und ein eiserner Lindner

Bundesfinanzminister Christian Lindner plant die Neuverschuldung im laufenden Jahr um weitere 39,2 Mrd. Euro zu erhöhen. Die zusätzlichen Mittel benötige die Regierung, »um insbesondere die finanziellen Auswirkungen der gestiegenen Energiekosten infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine abzufedern und ihre humanitären Anstrengungen im Zusammenhang mit diesem Angriff zu verstärken«, heißt es in der Kabinettvorlage.

Mitte März hatte Lindner bereits einen Haushaltsentwurf ins Kabinett eingebracht, der eine Kreditaufnahme von 99,7 Mrd. Euro vorsah. Doch schon damals war klar: Das Zahlenwerk ist wegen des Ukraine-Kriegs eigentlich bereits wieder überholt. Durch den Ergänzungshaushalt wird sich die geplante Neuverschuldung in diesem Jahr auf insgesamt 138,9 Mrd. Euro erhöhen.

Einerseits müssen Mindereinnahmen gedeckt werden. Diese resultieren zum Großteil aus dem zweiten Entlastungspaket, das die Ampelkoalition beschlossen hat. Der größere Teil der neuen Schulden ist für zusätzliche Ausgaben vorgesehen. Dazu zählen etwa neue Wirtschaftshilfen für Unternehmen, die von den Auswirkungen des Ukraine-Kriegs betroffen sind. Dafür veranschlagt Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) rund fünf Mrd. Euro. Das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium erhalten 1,5 Mrd. Euro zusätzlich für humanitäre Hilfe. Zudem stockt die Bundesregierung ihre Ausgaben für die sogenannte militärische Ertüchtigung von 200 Mio. Euro auf nun zwei Mrd. Euro auf. Der Großteil des Geldes soll an die Ukraine fließen.

Lindner hatte Mitte März betont, dass mit dem Ergänzungshaushalt nur Ausgaben finanziert werden sollten, die im Zusammenhang mit der Ukraine stehen. Zwar konnte das Finanzministerium viele andere Begehrlichkeiten in den vergangenen Wochen abwehren – »es ist ein punktueller Eingriff geblieben«, wird in Regierungskreisen betont. Allerdings gibt es im Ergänzungshaushalt auch einige Milliarden Euro für die Corona-Pandemie.

Insgesamt seien 14 Mrd. Euro als Vorsorge enthalten, mit denen auch Zusatzausgaben für Impfzentren und Coronatests finanziert werden sollen, die teilweise schon in den vergangenen Monaten genehmigt wurden, aber bisher nicht im Haushalt berücksichtigt waren. Zudem dient der Vorsorgeposten auch dazu, sich gegen weitere Auswirkungen des Krieges abzusichern, etwa sinkende Steuereinnahmen.

Zu den 138,9 Mrd. Euro Kreditaufnahme im Haushalt kommt auch noch das geplante Sondervermögen von 100 Mrd. Euro für die bessere Ausrüstung der Bundeswehr hinzu. Damit liegt die Verschuldung bei knapp 240 Mrd. Euro – und damit höher als der bisherige Rekord von 215 Mrd. Euro im vergangenen Jahr unter dem damaligen Finanzminister und heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).

Aus all diesem folgt: Nach den 138,9 Mrd. Euro Neuverschuldung im Jahr 2022 wird es im kommenden Jahr schwierig, die Schuldenbremse wieder voll greifen zu lassen. Dazu müssten die Verbindlichkeiten drastisch reduziert werden, bisher plant Lindner mit 7,5 Mrd. Euro für 2023. Das Ziel, die Schuldenbremse einzuhalten, gelte weiterhin, wird im Finanzministerium betont.

Vor dem Hintergrund einer durch Corona-Krise, Ukraine-Krieg, aber auch Unterbrechungen in den internationalen Wertschöpfungsketten nur schleppend in Fahrt kommenden wirtschaftliche Erholung auch in Deutschland werden die Verteilungsspielräume immer enger. Der Beschäftigungssituation ist zwar noch erfreulich gut und hat im April das Vor-Corona-Niveau wieder erreicht.

Die Gewerkschaften aber werden Mühe haben, die durch hohe Energie- und Lebensmittelpreise bedingten Kaufkraftverluste in Tarifverhandlungen deutlich zu mildern. Notwendig wären hier zudem weitergehende staatliche Entlastungsmaßnahmen vor allem auch für die Empfänger*innen von staatlichen Sozialleistungen, die aber, wie auch die anstehende sozial-ökologische Transformation, nur durch eine deutliche Erhöhung der Einkommens- und Vermögenssteuern finanziert werden können.

Davor steht der eiserne Lindner, auch wenn er im nächsten Jahr erneut die Schuldenbremse aussetzen muss. Die Republik steuert also auf massive Verteilungsauseinandersetzungen zu, bzw. befindet sich schon mittendrin.

Anmerkungen

[1] Sebastian Dullien, Silke Tober: IMK Inflationsmonitor – Hohe Unterschiede bei haushaltsspezifischen Inflationsraten: Energie- und Nahrungsmittelpreisschocks belasten Haushalte mit geringem Einkommen besonders stark (pdf), IMK Policy Brief Nr. 121, April 2022 [https://www.boeckler.de/data/Impuls_2022_08_S1.pdf]
[2] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/04/PD22_182_611.html
[3] Stefan Bach und Jakob Knautz, Hohe Energiepreise: Ärmere Haushalte werden trotz Entlastungspaketen stärker belastet als reichere Haushalte, DIW Wochenbericht 17/2022.

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