31. März 2023 Redaktion Sozialismus.de: ver.di erklärt Tarifverhandlungen für gescheitert

Kampf um Begrenzung der Kaufkraftverluste

Die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen sind gescheitert. Die staatlichen Arbeitgeber und die Gewerkschaften ver.di und DBB konnten sich auch in der dritten und letzten Verhandlungsrunde nicht auf einen neuen Vertrag einigen.

Bund, Länder und Gemeinden wollten zuletzt einen Inflationsausgleich von 3.000 Euro, 8% mehr Lohn und einen monatlichen Mindestbetrag von 300 Euro zahlen. Doch für die Gewerkschaften blieb damit der Reallohnverlust zu hoch.

Die Tarifrunde für die rund 2,5 Mio. Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen spitzt sich nach langwierigen Verhandlungen aus der Sicht von ver.di weiter zu. »Für uns steht nach wie vor ein sozial gerechter Abschluss im Mittelpunkt. Die Arbeitgeber waren trotz deutlicher Bewegung nicht bereit, den Beschäftigten beim Mindestbetrag ausreichend entgegenzukommen«, konstatierte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke. »Die Vorschläge der öffentlichen Arbeitgeber hätten nicht sichergestellt, dass die Kaufkraft insbesondere für die unteren und mittleren Einkommensgruppen erhalten bleibt. Die Bundestarifkommission von ver.di hat deshalb das Scheitern der Verhandlungen erklärt.« Der Interessenkonflikt habe sich am Verhandlungstisch nicht auflösen lassen.

Der Beginn der dritten Verhandlungsrunde wurde von einem bundesweiten Mobilitäts-Warnstreiktag im ÖPNV, Bahn-Nah- und Fernverkehr sowie an Flughäfen begleitet, der gemeinsam mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) durchgeführt wurde, die ebenfalls in einer Tarifrunde steht. Insgesamt hatten sich in den vergangenen Wochen mehr als 500.000 Beschäftigte an ver.di-Warnstreiks und Aktionen beteiligt.

Bundesweit war es zu massiven Mobilitäteinschränkungen gekommen, weil die EVG und ver.di gleichzeitig Warnstreik durchführten. Bundesweit standen alle Fernzüge still, im Regionalverkehr kam es zu Zugausfällen und auch der Nahverkehr kam vielerorts zum Erliegen.

Die Unternehmerverbände bezeichneten wie kaum anders zu erwarten die Streiks als »scham- und maßlos«. Sie werfen den Gewerkschaften vor, es gehe ihnen nur darum, neue Mitglieder zu gewinnen. »Die Tarifpartner im öffentlichen Dienst verbrennen im Warnstreik mehrere Millionen Euro«, heißt es in einer Mitteilung. »Geld, das sie eigentlich dringend für die Modernisierung der maroden öffentlichen Verwaltung bräuchten.«

Die öffentliche Unternehmerseite hat offenkundig den Ernst der Lage und damit den Unwillen und den Kampfgeist der Beschäftigten unterschätzt. »Die öffentlichen Arbeitgeber haben die Lage vieler Beschäftigten nicht hinreichend aufgegriffen. Das Signal der Beschäftigten insbesondere mit niedrigeren und mittleren Einkommen ist eindeutig: Wir brauchen einen echten Inflationsausgleich«, betonte Werneke. Forderungen nach einer weiteren Verhandlungsrunde erteilte der ver.di-Vorsitzende eine Absage: »Es gibt nichts, was wir nicht in den zurückliegenden drei Tagen hätten besprechen können.«

ver.di fordert für die Angestellten von Bund und Kommunen 10,5% mehr Gehalt, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Das Tarifergebnis soll zeit- und wirkungsgleich auf Beamt*innen, Richter*innen, Soldat*innen sowie auf Versorgungsempfänger*innen übertragen werden. ver.di führt die Tarifverhandlungen gemeinsam für GdP, GEW, IG BAU sowie mit dem Beamtenbund und Tarifunion (DBB).


Es geht um die Sicherung der Realeinkommen

Die Inflationsrate in Deutschland wird nach Auskunft des Statistischen Bundesamts im März 2023 voraussichtlich immer noch +7,4 % betragen – nach 8,7% im Januar und Februar 2023. Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine sind insbesondere die Preise für Energie und Nahrungsmittel merklich angestiegen. Im März 2023 stiegen die Nahrungsmittelpreise im Vergleich zum Vorjahr mit +22,3 % weit überdurchschnittlich. Dagegen verlangsamte sich der Anstieg der Energiepreise mit 3,5%, liegen aber noch immer deutlich gegenüber dem Vorjahr (Februar 2023: +19,1% gegenüber Februar 2022).

Die zentrale Herausforderung für die Tarifpolitik besteht darin, angesichts dieser starken Preissteigerungen für Produkte des täglichen Gebrauchs die Realeinkommen der Beschäftigten und ihrer Familien zu sichern. Im Jahr 2022 ist dieses Ziel verfehlt worden, weil die Reallöhne um 3,1% gegenüber 2021 gesunken sind.[1] Sie hatten sich bereits in den letzten beiden Krisenjahren rückläufig entwickelt.

Für die Gewerkschaften stehen deshalb Forderungen nach tabellenwirksamen und damit dauerhaften Tariferhöhungen im Zentrum. Nachdem die Tarife in den Jahren 2021 und 2022 zusammen um 5% bis 7% hinter der Inflationsrate zurückblieben, und für 2023 insgesamt erneut Preissteigerungen um 6% erwartet werden, sind die aktuellen Tarifforderungen notwendig, um Reallöhne und Kaufkraft zu sichern.

Auch der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, hält die Forderung von ver.di für gerechtfertigt. Tatsächlich würden sie immer noch einen Reallohnverlust bedeuten, wenn man die Inflationsrate von 6,9% in 2022 und geschätzten 6,6% in diesem Jahr addiert. Der Staat könne das stemmen.

Faktisch wollen die öffentlichen Arbeitgeber den Beschäftigten wiederum einen Reallohnverlust aufbürden – mit der Begründung, die öffentlichen Finanzen gäben einen vollen Kaufkraftausgleich nicht her. Laut Innenministerin Nancy Faeser belief sich das letzte Angebot der Unternehmerseite auf 8% mehr Einkommen und einen Mindestbetrag von 300 Euro – dazu eine steuerfreie Einmalzahlung von 3.000 Euro mit einer Auszahlung von 1.750 Euro bereits im Mai.

Damit würde vor allem für die unteren Gehaltsgruppen kein Ausgleich der Reallohnverluste erreicht. Die öffentlichen Arbeitgeber bieten keinen Inflationsausgleich an, was ein No-Go für die Gewerkschaften ist: »Die Vorschläge der öffentlichen Arbeitgeber hätten nicht sichergestellt, dass die Kaufkraft insbesondere für die unteren und mittleren Einkommensgruppen erhalten bleibt. (so der ver.di-Vorsitzende Werneke) Deshalb hätten die Gewerkschaftsgremien einstimmig den Abbruch der Verhandlungen beschlossen, was die Bundesinnenministerin Faeser und die Verhandlungsführerin der Kommunen Karin Welge bedauerten. »Ich glaube, das wäre im Sinne der Beschäftigten gewesen, jetzt eine schnelle Lösung zu haben«, sagte Faeser.

Die Arbeitgeber haben nun unabhängige Schlichter beauftragt, nach einer Lösung zu suchen. Den Vorsitz in der Schlichtungskommission haben je ein Vertreter der Arbeitgeber und der Gewerkschaften. Die Schlichtung bedeutet auch, dass ab Sonntag eine Friedenspflicht gilt, während der die Gewerkschaften keine weiteren Streiks durchführen dürfen. Die gilt zumindest bis zum 13. April, dann soll die Schlichtungskommission ihre Lösung präsentieren. Die Tarifparteien werden dann über den neuen Lösungsvorschlag der Schlichter*innen entscheiden. Nehmen beide Parteien den Schlichterspruch nicht an, wird es weitere Streiks geben.

Der öffentliche Dienst gehört eigentlich zu den »wirtschaftsfriedlichen« Sektoren eines »arbeitskampfarmen« Landes wie Deutschland. In der Geschichte der Bundesrepublik fanden lediglich drei große Streiks statt (1974, 1992 und 2006), obwohl die Mehrzahl der Beschäftigten über das Streikrecht verfügt.

Die Schlichtungs-Mediation bringt nicht in jedem Fall ein akzeptables Ergebnis. Die Streikbereitschaft der Arbeitnehmer*innen war in den vergangenen Wochen groß, Warnstreiks gab es im öffentlichen Verkehr, aber auch in Kitas, Kliniken oder bei der Müllabfuhr. ver.di sieht sich durch die große Teilnahme gestärkt, ihr Vorsitzender Werneke sprach von der »größten Warnstreik-Beteiligung seit vielen Jahren und Jahrzehnten«. Die Mitgliederzahl der Gewerkschaft stieg in nur drei Monaten um mehr als 70.000 Arbeitnehmer*innen.

Es geht um das Einkommen von über 2,4 Mio. Tarifbeschäftigten der kommunalen Arbeitgeber und 134.000 Mitarbeiter*innen des Bundes. Der Druck auf einen Abschluss, der einen Ausgleich der Kaufkraftverluste bringt, bleibt groß. Gelingt es nicht, mit einem Schlichtungsergebnis die Reallohnverluste zumindest weiter einzugrenzen, werden die Kolleg*innen ihren berechtigten Forderungen mit neue Streiks Ausdruck verleihen. Zudem stehen dann zeitgleich auch bei der Bahn harte Tarifauseinandersetzungen an. Die Beteiligung von EVG-Kolleg*innen am gemeinsamen Warnstreik am 27. März signalisiert auch dort eine hohe Bereitschaft, für eine notwendige Verbesserung ihrer Einkommen zu kämpfen.

Anmerkung

[1] Siehe hierzu ver.di Bundesvorstand, Bereich Wirtschaftspolitik, Hohe Inflation und stärkere Verteilungskonflikte. Bedingungen der Tarifpolitik in Zeiten erhöhter Inflation, Wirtschaftspolitik Informationen Nr. 01, März 2023.

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