5. Dezember 2019 Alban Werner: Zwischen Mitgliedervotum und Parteitag

Kann die SPD sich neu erfinden?

Foto: dpa

Vom Ergebnis der Stichwahl unter den SPD-Mitgliedern über die künftige Führung der Partei wurden nahezu alle überrascht: die parteipolitische Konkurrenz, die Medien und nicht zuletzt, vielleicht am meisten, die Partei selbst.

Die verschnupften Reaktionen beim Koalitionspartner, als auch bei den wichtigsten Presseorganen bezeugen, wie wenig damit gerechnet hatten, dass nicht Finanzminister Olaf Scholz und die ehemalige brandenburgische Landtagsabgeordnete Klara Geywitz, sondern stattdessen der frühere nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans (NoWaBo) und Saskia Eskens (zusammen: »EskaBo«) die Abstimmung gewinnen würden.

Damit ist letztlich nahezu die gesamte Parteispitze blamiert, hatten sich doch SPD-Mitglieder des Bundeskabinetts und etliche prominente Genoss*innen für Scholz und Geywitz ausgesprochen. Inzwischen soll Geywitz der stellvertretende Parteivorsitz in Aussicht gestellt worden sein, um den Anschein eines zu starken Bruchs zwischen beiden parteiinternen »Lagern« zu vermeiden.

Dabei kann man kaum zu deutlich betonen, welche Reichweite diese Abstimmung für die SPD selbst hat, unbeschadet der weiteren Folgen außerhalb der Partei: »Das Votum für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ist ein historischer Einschnitt. Denn es gehört zur DNA der Sozialdemokratie, dass die Basis am Ende immer murrend der Führung folgt. Doch die SPD-Basis glaubt den Glaubenssätzen des Weiter-so und den rituellen Beschwörungen der Verantwortungsethik nicht mehr.« (Stefan Reinecke in der taz).

Mit ihren Reaktionen auf Forderungen EskaBos nach Nachverhandlungen des Koalitionsvertrags vor allem in den Bereiche Investitionen, Mindestlohn und Klimaschutz verrät das deutsche Kommentariat mehr über die eigenen Befindlichkeiten und sehr beschränkten Beobachtungs- und Bewertungshorizonte, als dass es wirklich zur Aufklärung beitragen würde. Weder ist Norbert Walter-Borjans ein ausgewiesener Linker – er war Regierungssprecher unter Johannes Rau, Dezernent der Stadt Köln und an der Regierung Hannelore Krafts beteiligt, die 2012 die Gunst günstiger Umfragewerte nutzte, um DIE LINKE aus dem NRW-Landtag zu verdrängen und fortan bis 2017 mit sicherer rot-grüner Mehrheit weiter zu regieren.

Dass er dennoch als »links« tituliert wird, liegt an bornierter Weigerung der Meinungsspalten, die außerhalb der Berliner Regierungskreise inzwischen immer deutlicheren, bis in die Etagen der Unternehmensverbände und ihnen nahestehender Intellektuellen erschallenden Rufe nach Abkehr von »schwarzer Null« und »Schuldenbremse« zur Kenntnis und ernst zu nehmen. Ebenso kann sich die Forderung nach Verschärfung klimaschutzpolitischer Maßnahmen und Erhöhung des Mindestlohns inzwischen auf breite Kreise der Bevölkerung stützen, die weit über ein linkes Elektorat hinausreichen.

Es fällt dem politischen Spitzenpersonal schwer zu akzeptieren, dass die sozialdemokratische Parteibasis sich für zwei Träger*innen sozialdemokratischer Glaubwürdigkeit entschieden hat. Die Forderung, den Koalitionsvertrag nachzuverhandeln, ist daher keinesfalls als Akt staatspolitischer Verantwortungslosigkeit zu deuten, als der er derzeit von vielen Kommentator*innen gerne hingestellt wird. Man erinnere sich zudem daran, dass Gerhard Schröder beim Durchboxen seiner »Agenda 2010« gegen Versprechen und Wortlaut von Wahlprogramm und Koalitionsvertrag des Jahres 2002 keine derartige Schelte, sondern im Gegenteil der Applaus des Kommentatorenpublikums sicher war.

Ein Führungswechsel allein kann der SPD nicht aus ihrem wahlpolitischen Tief heraushelfen, weil dies wiederum der Reflex eines seit langem wirkenden Glaubwürdigkeitsverlustes ist. Das galt bereits für die zahlreichen Wechsel im SPD-Vorsitz von Gerhard Schröder zu Franz Müntefering, von Müntefering zu Kurt Beck, von Beck wiederum zu Müntefering, von diesem zu Sigmar Gabriel, von diesem zu Martin Schulz und zuletzt von Schulz zu Andrea Nahles, auf deren Rückzug nach den Europawahlen der nun zu Ende gegangene Mitgliederentscheid folgte. Der fulminante, alle Struktur- und Strategieprobleme überdeckende »Schulz-Hype« und sein ebenso sang- wie klangloses Zusammenfallen sollte auch allen fortschrittlichen Sozialdemokrat*innen Warnung sein, zu schnell zu große Hoffnungen auf die frisch gewählten Führungsfiguren zu projizieren.

Der Glaubwürdigkeitsverlust der SPD setzt sich heute unter anderen Bedingungen verschärfter fort als vor der letzten Bundestagswahl. Vor 2017 lag aus fortschrittlicher Sicht das Ärgernis darin, dass die SPD rechnerische rot-rot-grüne Mehrheiten für eine linkere Politik nicht nutzen wollte, heute liegt sie darin, dass die SPD eine linkere Politik nicht ohne Weiteres mehr über die parlamentarische Arena durchsetzen kann.

Der Aufstand der Basis, vor allem von den Jungsozialist*innen angetrieben, gegen die vierte schwarz-rote Bundesregierung (von »Großer« Koalition kann man angesichts ihres Stimmengewichts nicht mehr sprechen), wirkte auf linke Beobachter*innen bizarr. Hatte die SPD-Basis doch nach 2004 bis dahin ohne nennenswertes Aufbegehren nahezu alle kritikwürdigen Entscheidungen ihrer Partei in Bundestag und Regierung hingenommen (Rente ab 67, Eurokrisenpolitik, Asylrechtsverschärfungen usw.), rebellierte sie nun ausgerechnet in einer Konstellation, in der nach dem Scheitern von »Jamaika«-Koalitionsgesprächen keine andere als eine schwarz-rote Regierungsmehrheit im Parlament verfügbar war.

An dieser Konstellation hat sich nichts geändert, zumal sie durch einen immer »bunter« zusammengesetzten Bundesrat zusätzlich kompliziert wird. Jeder Versuch, eine fortschrittlichere Politik parlamentarisch durchzusetzen, muss eine Antwort finden auf den Korridor, den die Stimmengewichte in beiden Kammern dafür hergeben.

Nicht weniger bedrückend ist für die SPD (aber auch für DIE LINKE) die gesellschaftspolitische Polarisierung zwischen »blau« und »grün«, die absehbar die politische Aufmerksamkeit bestimmt und viele zur Stimmabgabe motiviert. Es ist insofern kein Zufall, dass die ehemaligen Volksparteien und DIE LINKE Wähler*innen an AfD und Bündnisgrüne verlieren. Man kann von einer Art Teufelskreis sprechen: Weil die institutionell-parlamentarischen Spielräume derzeit größere Sprünge nicht ohne Weiteres zulassen, vermittelt das Bild der Regierungsparteien ein Bild der Unbeweglichkeit.

Originär »soziale« Fragen scheinen so auf einem Verschiebebahnhof von zwischen den Koalitionspartnern kleingearbeiteten Forderungen zu landen. Man könnte auch sagen: Deutschland wird mehr denn je nach der »Methode Merkel« regiert, nur hat sie an gesellschaftlicher Ausstrahlungskraft eingebüßt, da von grüner und blauer Seite Kräfte auf deutlich mehr Bewegung drängen (wenn auch in entgegengesetzte Richtungen).

Mit einem weiteren wichtigen Hindernis gegen schnellen Erfolg des neuen SPD-Führungsduos wird zu rechnen sein: Die bislang innerparteilich dominanten Strömungen, Netzwerke und Leitfiguren sind nicht plötzlich verschwunden und werden sich bemühen, einen allzu deutlichen rhetorischen und programmatischen Kurswechsel in ihrer Partei auszubremsen oder abzuwürgen. Man sollte nicht vergessen,

  • wie oft unter dem Kommando der SPD-Rechten diese Partei auf Staatskanzleien verzichtet hat, weil sie partout keine tatsächlich konfliktwillige sozialdemokratische Politik mit der LINKEN als Regierungspartnerin machen wollten
  • wie oft mit mitunter alles andere als solidarischen Methoden damalige Parteivorsitzende abserviert wurden (Beck, Schulz, Nahles)
  • und wie oft die SPD sich ohne Not neoklassischer Doktrin und/oder Merkels Führungsanspruch unterworfen hat (etwa bei der Schuldenbremse und in der Eurokrise), sofern und weil es eine Abkehr von dem bedeutet hätte, was der Seeheimer Kreis und seine innerparteiliche wie gesellschaftliche Entourage für akzeptable sozialdemokratische Politik halten.

Es ist damit zu rechnen, dass innerparteilich alle erdenklichen »Heckenschützen« auf EskaBo aktiviert werden, um das neue Sprecher*innen-Duo im Dauerbeschuss zwischen Medien, CDU/CSU und Freund/Feind/Parteifreund zu zermürben.

Die vielversprechendste Vorgehensweise für EskaBo bestünde deswegen darin, die SPD auf einen konfliktfähigen Kurs gegenüber der Union auch außerhalb der Parlamente, in der Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft zu bringen, weil das (neben der wünschenswerten Erweiterung von Klimaprotesten, der Wiederbelebung sozialer Fragen als wichtigen Streitthemen in gesellschaftspolitischen Debatten) auch die möglichen innerparteilichen »Dolchstöße« erschweren würde: Wenn alle nach vorne laufen, fällt auf, wer stehen bleibt.

Sich am eigenen Schopfe aus dem selbst angelegten Sumpf zu ziehen, erfordert heute für die SPD, aus der Komfortzone herauszutreten, die das rhetorische Zurückweichen neoliberaler Politik nach der Finanzkrise von 2008ff. und die günstige Konjunkturlage für eine vorsichtige, sozialere Gesetzgebung eröffnet hatten, und sich in die gesellschaftspolitische Konfliktzone hineinzuwagen. Die ätzenden Medien-Kommentare, die innerparteilichen Ordnungsrufe und die prompt gezeigte kalte Schulter des Koalitionspartners vermitteln bereits einen Eindruck davon, welcher Gegenwind die Sozialdemokratie begrüßte, begäbe sie sich auf einen konfliktwilligen Kurs.

Die Tragik besteht nun darin, dass die SPD keine Tradition der gesellschaftlichen (allenfalls hinterzimmer-politischen) Konfliktwilligkeit und -fähigkeit hat. Ihr Politikverständnis ist das Gegenbild von »Bewegungslinken«, die jegliches Verhandeln und Mitregieren für Teufelszeug halten: Es ist durch und durch »verstaatlicht« und gezähmt.

1981 schrieben Volker Gransow und Claus Offe über »Politische Kultur und Sozialdemokratische Regierungspolitik«, dass sozialdemokratische Parteien nicht bloß »die wohlfahrtsstaatliche Parteiendemokratie als die definitive politische Ordnung anerkennen und programmatisch darauf verzichten, Veränderungen der verfassungsmäßigen Freiheitsgarantien (z.B. Eigentumsgarantie) bzw. der Verfahren politischer Willensbildung und Entscheidung (etwa im Sinne rätedemokratischer Konzepte) anzustreben«, sondern »von einer bedingungslosen Anerkennung der parlamentarisch-demokratischen Verfassungsordnung zu einer alternativlosen Beschränkung der reformistischen Politik auf etatistische Formen und Verfahrensweisen« übergingen: »Salopp gesagt, lautet die methodische Prämisse sozialdemokratischer Politik: ›Wir machen das schon!‹«

Nicht nur bleibt diese Diagnose 38 Jahre später ernüchternd aktuell, sondern es zeigt sich, dass die apriorische Selbstbeschränkung auf konfliktarme und »verstaatlichte« Vorgehensweisen nur noch marginale Verbesserungen abwirft, wenn das wirtschaftliche und politische Umfeld sich dazu ungünstiger darstellt als erhofft. Solange sich also ihr Politikverständnis schlechthin nicht ändert, bleibt eine SPD selbst gegenüber einer desorientierten Kramp-Karrenbauer-Union »Feldherrin ohne Truppen« – ganz gleich, wer an ihrer Spitze steht.

Alban Werner ist Mitarbeiter der Sozialistischen Studiengruppen, lebt in Aachen.

Zurück