30. August 2023 Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Reallöhne steigen wieder leicht

»Kapital gewinnt, Arbeit verliert«

Es gibt wenig Grund über die leichten Reallohnzuwächse im 2. Quartal 2023 zufrieden zu sein. Reallöhne bilden die tatsächliche Entwicklung der Kaufkraft ab. Diese war in den vergangenen zwei Jahren wegen der galoppierenden Inflation stark gesunken.

Im Gegensatz zum Nominallohn, der nur die Summe des Geldes betrachtet, das am Ende auf dem Konto des Arbeitnehmers landet, wird mit dem Reallohn die tatsächliche Kaufkraft des Geldes gemessen. Faktoren wie die Inflationsrate sind mit einberechnet. Zwar waren die Löhne in diesem und dem letzten Jahr auf dem Papier gestiegen. Beschäftigte konnten sich aber weniger leisten als zuvor, weil Waren und Dienstleistungen sich enorm verteuert hatten.

Die aktuelle Steigerung der Reallöhne hängt zu einem hohen Anteil mit der Inflationsausgleichsprämie zusammen. Diese wird aber nicht dauerhaft, also nachhaltig, bezahlt, sondern ist ein Einmaleffekt. Außerdem ist für Arbeitnehmer*innen nicht die generelle Inflation (6,5%) der Gradmesser, sondern die Inflation der Lebensmittelpreise. Diese sind um 11% gestiegen. Seit Anfang 2021 sogar um 30%.

Die Einkommen sind 2023 durch Tarifabschlüsse, die die Gewerkschaften ausgehandelt haben, deutlich höher gestiegen als in den Jahren zuvor. Ohne die einmalige Inflationsausgleichsprämie liegen sie aber deutlich unter der Preissteigerungsrate. Und viele Menschen in Deutschland werden immer ärmer. Entscheidend im Kampf gegen diese stille Umverteilung sind die Gewerkschaften.

In Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben in diesem Frühjahr Streiks das öffentliche Leben lahmgelegt – und stärkten die seit Jahren schwächelnden Gewerkschaften. Hauptgründe sind das Absinken der realen Einkommen infolge der Preisexplosion, aber auch Proteste gegen die Arbeitsbedingungen und – wie in Frankreich – die Verschlechterungen bei den Altersrenten.

Auch bei den Tarifverhandlungen in Deutschland ist es zu einer starken Mobilisierung gekommen mit häufigen Warnstreiks und Demonstrationen. Auch wenn dadurch mitunter Beeinträchtigungen hingenommen werden mussten, haben diese Konflikte vielfach die Billigung und Unterstützung der Konsument*innen gefunden. Die Tarifauseinandersetzungen fanden vor allem im öffentlichen Dienst, bei der Post und bei der Bahn statt. Industriezweige wie die Metallindustrie und die chemische Industrie hatten ihre Tarifverträge schon gegen Ende des vergangenen Jahres ausgehandelt.

Hintergrund der Mobilisierung ist die ungewöhnlich hohe Inflationsrate in Europa und Deutschland von anfänglich fast 10%, wobei vor allem die Energie- und Lebensmittelpreise steigen. Im Juli dieses Jahres lag die Inflationsrate in der Berliner Republik − gemessen als Veränderung des Verbraucherpreisindex (VPI) zum Vorjahresmonat – immer noch bei +6,2%. Im Juni 2023 hatte die Inflationsrate bei +6,4% gelegen.

»Die Inflationsrate hat sich etwas abgeschwächt, bleibt aber weiterhin auf einem hohen Niveau«, sagt Ruth Brand, Präsidentin des Statistischen Bundesamtes. »Besonders die Preisentwicklung von Nahrungsmitteln treibt die Inflation weiter an. Zudem erhöhten sich die Energiepreise wieder etwas stärker als in den beiden Vormonaten. Hier wirkt ein Basiseffekt durch den Wegfall der EEG-Umlage zum 1. Juli 2022.« Die immer noch hohe Steigerung der Lebenshaltungskosten trifft vor allem die Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen. Dies zeigt die Entwicklung der Nominal- und Reallöhne in den letzten Jahren und Monaten.


Fortgesetzte Wohlstandsverluste trotz Inflationsausgleichsprämie und Mindestlohnerhöhung

So waren die Nominallöhne in Deutschland im 2. Quartal 2023 um 6,6% höher als im Vorjahresquartal. Die Verbraucherpreise stiegen im selben Zeitraum um 6,5%. Damit lagen die Reallöhne im 2. Quartal 2023 um 0,1% über dem Vorjahreszeitraum und sind zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder leicht gestiegen (2. Quartal 2021: +3,2 %).

Zu diesem leichten Reallohnwachstum hat die Auszahlungen der Inflationsausgleichsprämie beigetragen. Diese kann bis zu 3.000 Euro betragen (steuer- und abgabefrei) und ist eine freiwillige Leistung der Arbeitgeber. Auch die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde im Oktober 2022 hatte einen positiven Effekt auf das gesamtwirtschaftliche Lohnwachstum im 2. Quartal 2023.

Betrachtet man die Arbeitnehmer*innen nach ihrer Beschäftigungsart, wiesen geringfügig Beschäftigte mit 9,7% den stärksten Nominallohnanstieg im 2. Quartal 2023 auf. Dies ist vor allem auf die seit dem 1. Oktober 2022 gültige Erhöhung der Minijob-Verdienstgrenze von monatlich 450 Euro auf 520 Euro sowie auf die Mindestlohnerhöhung zurückzuführen. Für Teilzeitkräfte (+7,2%) und Auszubildende (+8,4%) ist ebenfalls ein starker Lohnanstieg zu verzeichnen. Die Nominallöhne von Beschäftigten in Vollzeit stiegen im 2. Quartal 2023 leicht unterdurchschnittlich um 6,3%. Innerhalb der Vollzeitbeschäftigten hatte das Fünftel mit den geringsten Verdiensten mit +11,8 % im Durchschnitt die stärksten Verdienststeigerungen.

Allerdings sind mit dem minimalen Plus die großen Einkommensverluste noch im 1. Quartal 2023 sowie in den Jahren 2021 und 2022 in keiner Weise kompensiert werden. So sind die Nominallöhne im 1. Quartal 2023 zwar um 5,6% gegenüber dem Vorjahresquartal gestiegen. Die Verbraucherpreise stiegen im selben Zeitraum allerdings um 8,3%. Damit sanken die Reallöhne diesem Quartal um 2,3% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Ein Trend aus dem Jahr 2022 setzt sich somit fort: Die hohe Inflation zehrt das Lohnwachstum für die Beschäftigten auch zum Jahresbeginn 2023 mehr als auf.

Im Jahr 2022 sind die Nominallöhne in Deutschland im Jahresdurchschnitt 2022[1] nach revidierten Ergebnissen um 2,6% gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Der Nominallohnindex bildet die Entwicklung der Bruttomonatsverdienste von Arbeitnehmer*innen einschließlich Sonderzahlungen ab. Die Verbraucherpreise erhöhten sich im Jahr 2022 um 6,9%. Damit sanken die Reallöhne um durchschnittlich 4,0% gegenüber 2021, nachdem sie sich bereits in den letzten beiden Krisenjahren rückläufig entwickelt hatten.

Während im Jahr 2020 insbesondere der vermehrte Einsatz von Kurzarbeit zur negativen Lohnentwicklung beigetragen hatte, zehrte 2021 und besonders 2022 die hohe Inflation das Nominallohnwachstum auf. Im Jahr 2022 wurde der stärkste Reallohnrückgang in Deutschland seit Beginn der Zeitreihe des entsprechenden Indexes im Jahr 2008 gemessen.


Wohlstandsverluste der Beschäftigten europaweit

Nicht nur in der Berliner Republik, sondern europaweit haben die Beschäftigten erheblich an Kaufkraft eingebüßt. Schuld ist die Inflation, zu der auch überhöhte Gewinnmargen beitragen.

In 26 von 27 EU-Ländern sind die Reallöhne[2] 2022 nicht gestiegen, im EU-Mittel betrug der Rückgang 4%. Besonders deutliche Verluste gab es in Estland mit 9,3%, Griechenland mit 8,2% und Tschechien mit 8,1%. Deutschland lag mit einem Rückgang von 4,1% nahe am Durchschnitt der EU. Einzige Ausnahme ist das Niedriglohnland Bulgarien, das ein Plus von 4,7% verzeichnete. Das ergibt der Europäische Tarifbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung, für den unter anderem Daten der Europäischen Kommission zur Lohn- und Preisentwicklung ausgewertet wurden.

Verantwortlich für den beispiellosen Einbruch der Reallöhne sind die hohen Inflationsraten. Während diese zunächst von gestiegenen Importpreisen für fossile Energieträger und Nahrungsmittel getrieben wurden, tragen inzwischen steigende Unternehmensgewinne erheblich zum Preisauftrieb bei, erklärt das WSI. EU-weit stiegen die Kapitalstückkosten, gemessen als Bruttobetriebsüberschüsse je produzierter Einheit, im vergangenen Jahr um 7% und damit deutlich schneller als die Lohnstückkosten, die um 3,3% zulegten. Die höheren Gewinne gehen darauf zurück, dass Unternehmen ihre Preise stärker angehoben haben, als dies aufgrund gestiegener Kosten eigentlich notwendig gewesen wäre. Auch in Deutschland haben steigende Gewinnmargen die Inflationsdynamik verschärft.


Umverteilung zulasten der Löhne

Aufgrund des Ungleichgewichts zwischen Lohn- und Gewinnentwicklung ist der Anteil der Löhne am Volkseinkommen spürbar zurückgegangen: EU-weit und auch in Deutschland sank die Lohnquote zwischen 2020 und Ende 2022 um rund zwei Prozentpunkte. Die WSI-Forscher Thilo Janssen und Malte Lübker stellen deshalb fest, dass es »mitten in der Krise zu einer Umverteilung zulasten der Löhne und zugunsten der Kapitaleinkommen gekommen ist«.

Während die Gewinne ein wichtiger Faktor bei der hartnäckigen Teuerung seien, lasse sich der Preisauftrieb nicht auf die Tarifpolitik zurückführen. Nach Berechnungen der Europäischen Zentralbank stiegen die Tariflöhne im Jahr 2022 um 2,8% und bewegten sich damit unterhalb der Schwelle von 3%, die als stabilitätskonform gilt. Auch in Deutschland, wo die Tarifverdienste nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im ersten Quartal 2023 um 2,7% höher lagen als im Vorjahresquartal, hat die Tarifpolitik keinen inflationstreibenden Einfluss gehabt.

Kehrseite der relativ moderaten Zuwächse ist, dass die Tariflohnsteigerungen im Jahr 2022 in allen betrachteten Ländern unter der Inflationsrate lagen und deshalb – wie bei den Löhnen insgesamt – fast überall mit Kaufkrafteinbußen verbunden waren. Nur in Bulgarien sorgten Arbeitskräfteknappheit und Aufholeffekte bei den Löhnen für ein Plus. Für das laufende Jahr rechnet die EU-Kommission mit weiteren Reallohnverlusten: Sie geht davon aus, dass die realen Effektivlöhne EU-weit um 0,7% und in Deutschland um 1,3% sinken werden. Im Gegensatz dazu werden die Unternehmensgewinne vermutlich weiterhin steigen: Die Kapitalstückkosten dürften im EU-Durchschnitt um 7,6% zunehmen, in Deutschland sogar um 8%.


Profite heizen Inflation an

Die jüngste Inflationswelle habe das reale Einkommen von Beschäftigten also deutlich geschmälert. Dagegen seien oft Zweifel, so die Forscher, angebracht, wenn Arbeitgeber über Einbußen durch steigende Kosten klagten. Die Deutsche Bundesbank ist beispielsweise in einer Untersuchung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Unternehmen Kostensteigerungen größtenteils an die Verbraucher*innen weitergegeben haben, während dies bei Entlastungen nicht der Fall gewesen ist. Im Ergebnis konnten deutsche Unternehmen ihre Umsatzrendite schon im Jahr 2021 auf durchschnittlich 5,1% steigern, den höchsten Wert seit 2007. Vorläufige Zahlen legen nahe, dass die Unternehmensgewinne auch im Jahr 2022 weiter gestiegen sind und so zur Inflation beigetragen haben.

Als weiteres Anzeichen für überhöhte Profite bewerten Janssen und Lübker Berechnungen zum BIP-Deflator, der die Preisentwicklung der inländischen Wertschöpfung misst. Hier lag der Beitrag der Unternehmensgewinne 2021 bei 1,5 und 2022 bei 2,3%. Im laufenden Jahr könnten steigende Gewinnmargen nach der Prognose der EU-Kommission abermals 2,5 Prozentpunkte zur inländischen Inflation beitragen. Zwischen 2010 und 2020 waren es im Schnitt 0,5 Prozentpunkte. Das heißt: Aktuell ist der Beitrag der Gewinne zur Binneninflation drei- bis fünfmal so hoch wie im langfristigen Trend.

Während die Beschäftigten in Form von moderaten Tariflohnsteigerungen zur Preisstabilität beigetragen haben und dafür Kaufkraftverluste hinnehmen mussten, habe die Kapitalseite die Krise durch überzogene Preisaufschläge für Umverteilung zu ihren Gunsten ausgenutzt, betonen die Forscher. Immerhin bestehe die Aussicht, dass die Gewinnmargen bald wieder auf ein normales Maß schrumpfen könnten. Dazu beitragen dürften die zu erwartende Entschärfung von Lieferengpässen sowie der Nachfragerückgang angesichts einer schwachen globalen Konjunktur. Die derzeitigen Übergewinne könnten zudem als »Puffer für künftige Lohnsteigerungen« dienen.


Tarifmacht der Gewerkschaften stärken und Mindestsicherungsleistungen anheben!

Um die durch Corona-Krise und den massiven Anstieg der Lebenshaltungskosten eingetretenen Wohlstandsverluste bei der großen Mehrheit der Lohnabhängigen und ihren Familien zu begrenzen bzw. auszugleichen bedarf es zum einen einer deutlichen Stärkung der Gewerkschaften z.B. durch eine Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeitserklärungen und den Ausbau der Mitbestimmungsrechte im Betrieb. Darüber hinaus muss der Mindestlohn weiter deutlich angehoben werden. Schließlich gilt es die Mindestsicherungsleistungen auf ein Niveau anzuheben, das es den Betroffenen ermöglicht, menschenwürdig zu leben.

Die Auseinandersetzung um die Kindergrundsicherung hat allerdings gezeigt, dass die FDP – z.T. mit Unterstützung des Kanzlers, der den Lohnabhängigen einst »Respekt« verspochen hatte – bei allen wichtigen sozialpolitischen Entscheidungen, aber auch bei der Frage einer gerechteren Besteuerung, auf der Bremse steht. Es bleibt zu befürchten, dass mit der von Christian Lindner ausgerufenen angebotspolitischen Zeitenwende alle schlechten Erfahrungen vergangener Sparpolitiken sich wiederholen – auch zulasten der so dringlich erforderlich sozial-ökologischen Transformation.

Für Unternehmer ist es möglich, in Zeiten hoher Inflation die Löhne nicht so stark steigen zu lassen wie anderswo, und so faktisch die Reallöhne zu kürzen, ohne dass es auf dem Papier groß auffällt. Im Schnitt, das zeigen die Zahlen, sind die Reallöhne in Deutschland im vergangenen Jahr um gut 4% gekürzt worden, ohne dass Lohnsenkungen öffentlich skandalisiert worden wären.

Anmerkungen

[1] Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Nr. 166 vom 27. April 2023
[2] Die folgende Darstellung stützt sich vor allem auf »Kapital gewinnt, Arbeit verliert«, in: Böckler Impuls 12/2023, S. 4ff., und Thilo Janssen/Malte Lübker, Europäischer Tarifbericht des WSI 2022/2023: Inflationsschock lässt Reallöhne europaweit einbrechen, WSI-Report Nr. 86, Juli 2023.

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