3. März 2023 Alban Werner (Köln): Widersprüche der (geo)politischen Konstellation und der ›neuen Friedensbewegung‹

(K)ein bisschen Frieden

Anfang März hatte das »Manifest für den Frieden« von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer die Zahl von 700.000 Unterzeichner*innen deutlich übertroffen. Bereits am Samstag zuvor hatten nach Angaben der Ordnungsbehörden ca. 13.000, nach denen der Veranstalter*innen um die 50.000 Menschen an einer Kundgebung unter dem Motto »Aufstand für den Frieden« teilgenommen.

In ihrem Vorfeld wurden diese Kundgebung und der sie begründende Aufruf zum Stein des Anstoßes und neue Wegmarke im innerdeutschen Streit darum, wie richtig auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine reagiert werden solle. Dabei verraten die Leerstellen des »Manifests« mehr über seinen Charakter als seine ausformulierten Aussagen, die aufgebrachte (Vor)Verurteilung der Kundgebung vom 25. Februar mehr über die Unkultur der Verurteilung als über die Verurteilten, und der geringe Stellenwert von Handlungsalternativen in der Diskussion über verriet mehr über die Verfasstheit der deutschen Politik insgesamt.


Der Streit um den Krieg gegen die Ukraine als Kulminationspunkt

In der Debatte verdichten sich mehrere Entwicklungen, die mitunter schon Jahre vor dem russischen Einmarsch am 24.2.2022 ihren Ausgang nahmen. Sie überschritten jedoch mit Beginn der russischen Aggression sowohl eine kritische Schwelle, ab der der Problemdruck für die Politik vieler Länder erheblich zunimmt, als auch eine Wahrnehmungsschwelle. Beides zusammen befeuert, dass dieser Krieg Gesellschaft und Politik auf ihren verschiedenen Aggregationsebenen, aber auch den Alltag der Menschen ganz maßgeblich beeinflusst.

Erstens zeigen sich den Problemdruck verschärfende und krisenhafte gesellschaftliche Entwicklungen nicht nur in kürzeren Intervallen, sondern sie wirken auch stärker grenzübergreifend und verschärfen sich mitunter gegenseitig. So begann die Inflation bei Energieträgern nicht erst durch den Krieg gegen die Ukraine, wurde aber durch diesen und die Reaktionen darauf empfindlich verschärft. Die Tendenzen zur De-Globalisierung gehen nicht alleine auf die Corona-Pandemie zurück, gewannen jedoch damit an Fahrt.[1]

Zweitens wird es auch im globalen Westen weithin so empfunden, dass die Einschläge näherkommen. Die Rückkopplungsschleife weiter entfernter Konflikte und Umbrüche zum Alltag im Westen hat sich verkürzt, als hätten die hiesigen Gesellschaften einen Schutzschirm oder Filter eingebüßt, der zuvor nur die Wohlfahrtsgewinne durch die eigene Position in der globalen Arbeitsteilung, aber nicht die Schattenseiten und unbeabsichtigten Folgewirkungen durchließ. Es zeigt sich nicht nur eine wahrnehmungsnähere materielle Betroffenheit durch höhere Gas- und Erzeugerpreise, Knappheiten bei Material, gestörte Lieferketten u.a. War der Westen beim Syrienkrieg vor allem indirekt durch Aufnahme von Geflüchteten beteiligt, begreift er sich beim Krieg gegen die Ukraine als gefordert und zuständig, wenn er auch nicht direkt Kriegspartei werden mag, worauf die Öffentlichkeiten westlicher Länder reagieren.

Drittens zeigt sich eine zuvor nicht vermutete Bereitschaft auf Seiten Wladimir Putins Russland, seinen imperialistischen Angriffskrieg durch Mobilisierung von immer mehr Soldaten, Feuerkraft und Beschuss ziviler Infrastruktur in der Ukraine sowie nach innen durch erhebliche Repression und Zensur zu eskalieren. Der Westen wiederum, dessen Niedergang als globale politische Bezugsgröße vielfach erwartet worden war, zeigt sich im Angesicht des Krieges unerwartet wiederbelebt.

Diese Wiederkehr geht aber viertens einher mit dem Aufbrechen bzw. einer Verschärfung innerer Konflikte. Sie entzünden sich vor allem daran, dass nun die stofflich-energetischen Grundlagen unseres Lebens und Wirtschaftens aus der Latenz geholt und direkt ins Zentrum politischer Auseinandersetzung katapultiert wurden; dass sich Vereinbarkeitskonflikte ergeben zwischen der Bewältigung innerer Folgewirkungen des Krieges und anderen, gesellschaftlich stark priorisierten Zielen wie dem Klimaschutz; dass diese Problematik wiederum eine starke verteilungspolitische Schlagseite aufweist, und schließlich, dass die Fragen des ›ob‹, ›wie‹, ›wie weit‹, ›wie lange‹ und ›um welchen Preis (noch)?‹ einer Unterstützung der angegriffenen Ukraine die öffentliche Debatte bestimmen.


Leerstellen und Defizite des ›Manifests für den Frieden‹

Diese Erschütterung trifft auf eine bereits mehrfach krisengeschüttelte, politisierte Gesellschaft. Unter ihrem Eindruck werden in der Auseinandersetzung alte Reflexe und Deutungsmuster aktiviert, die bereits bei vorherigen gesellschaftspolitischen Grundsatzdebatten nicht eben zum hohen Niveau der Diskussion beitrugen. Relativ neu ist die Tendenz, auch solche Bedenkenträger*innen mit Beleidigungen zu überziehen, die sich nicht der doppelten Standards zugunsten von Putins Russland schuldig machen. Das »Manifest« verzichtet klugerweise im Unterschied zu diversen anderen Appellen darauf, eine offene oder verdeckte Schuldumkehr zulasten der Ukraine zu betreiben, die eigentliche Ursache für den Krieg in der NATO-Osterweiterung zu suchen oder jegliche Waffenlieferungen zu verurteilen.[2] Es ist mehr vom Impuls einer raschen Kriegsbeendingung als von scharfen Argumenten bestimmt, und gerade diese relative Unbestimmtheit ist mitursächlich für die breite Zustimmung, die ihm lager-übergreifend zuteilwurde.

Allerdings wurde diese Unbestimmtheit erkauft durch erhebliche Defizite und Leerstellen. So kümmert sich auch das Manifest, das auf baldige Friedensverhandlungen drängt, nicht um den himmelschreienden Widerspruch, dass es heute keinerlei Grundlage für Verhandlungen gäbe, hätten nicht Teile des globalen Westens die Ukraine vor dem Einmarsch des 24.2.2022 bereits aufgerüstet, und ab Kriegseintritt verstärkt mit militär-geheimdienstlichen Informationen versorgt, ohne die Kyiv wahrscheinlich bereits gefallen und ein russisches Marionettenregime installiert worden wäre.[3] Das Manifest muss weiterhin eine zweifelhafte Verhandlungsbereitschaft Russlands unterstellen, obwohl dessen Elite mehrfach die Kriegsrhetorik verschärft und bereits annektierte Gebiete als Verhandlungsmasse ausgeschlossen hat. Es schweigt sich weiterhin darüber aus, wie ohne eine durch Waffenlieferungen verteidigungsfähige Ukraine für Putin und die russische Führung Anreize entstehen sollten, überhaupt ernstzunehmende Verhandlungen aufzunehmen. Russland müsste durch Fortsetzung des Krieges merklich viel verlieren, durch seine Beendigung merklich viel zu gewinnen haben, damit sich Verhandlungen aus seiner Perspektive lohnten.

Zur Frage der Sanktionen und anderer, nicht-militärischer Alternativen zu den Waffenlieferungen zum Stopp des russischen Kriegs schweigt der Text komplett. Dass gegen eine Atommacht kein Krieg gewonnen werden könne, wurde zwischenzeitlich schon vielfach mit Verweis auf die USA in Vietnam sowie die Sowjets in Afghanistan widerlegt. Vor allem aber wäre Putin durch die Fallhöhe seiner völkisch-imperialistisch begründeten Kriegsrhetorik faktisch bereits eines Sieges beraubt, blieben seine Gebietsgewinne begrenzt.

Problematisch wird die Ansprache des »Manifests« weiterhin dadurch, dass es die qualitativen Unterschiede hinter Motiven und Ausübung der kriegsbedingten Gewalt einebnet. Denn es macht einen Unterschied, ob sich jemand mangels plausibler Alternativen auch mit tödlicher Waffengewalt nur auf eigenem Territorium gegen einen Invasoren wehrt, oder ob ein Angreifer massiv und wiederholt zivile Infrastruktur beschießt und mit dem Ziel der Zermürbung zerstört; ob Kriegsziele (sprich: »Sieg«) und deren Unterstützung durch Dritte im Einklang mit dem Völkerrecht in Wiederherstellung territorialer Integrität oder in Eroberung und Unterwerfung bestehen; ob ein Kriegsausgang ein mehr oder weniger an massiver Repression und Gewalt erwarten lässt.

Im Lichte dieser, vom Manifest übergangenen oder beschwiegenen Aspekte erscheint der dort zu lesende Satz, »Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten« mindestens zynisch. Dass ein um den Preis von Konzession an Territorium und politischer Selbstbestimmung (bspw. durch ein faktisches Veto-Recht Russlands darüber, welcher supranationalen Struktur und welchem Verteidigungsbündnis die Ukraine beitreten und in welchem Umfang sie sich bewaffnen dürfe) erkaufter Frieden faktisch die Belohnung eines autoritären Herrschers für seine imperialistische Expansionsmission bedeutete, diese Ehrlichkeit sucht man im »Manifest« vergeblich. Deswegen bleibt von der rhetorischen Solidaritätsbekundung zugunsten der Ukraine im Text mindestens ein schaler Beigeschmack.


Elend der hypermoralisierten Debatten

Die veröffentlichte Meinung nahm allerdings hörbar vor allem in einem anderen Sinne am »Manifest« und seinen Autorinnen Anstoß. Wie so oft in der Vergangenheit, wenn eine politische Kraft sich wahrnehmbar einem Deutungsmuster nicht anschließen wollte, das bei den lesenden Ständen und den Meinungsspalten weitgehend unhinterfragt geteilt wurde, fuhr das Kommentariat sein schwerstes Geschütz auf: Es könne sich nur um ein rechtsoffenes, von rechts kontaminiertes oder von einer Rechtsaußen-Deutung nicht zu unterscheidendes Angebot handeln.

Diese infame Diffamierung hat in Deutschland einige Tradition. Als er auf die gerade als Partei zusammenfindende, anti-neoliberale Opposition gegen die Politik der Agenda 2010 zu sprechen kam, wusste der vornehmlichste soziologische Zeitdiagnostiker vom Dienst diese als die »sich jetzt neu formierenden und auftrumpfenden Vertreter eines linksnationalen Sozialsstaats-Protektionismus«[4] abzufertigen. Von ähnlicher Qualität trafen Altermondialisten bzw. Globalisierungskritiker*innen Verdikte der Rückwärtsgewandheit, Kritiker*innen der EU-Verträge das Etikett des »Nationalismus« oder der »anti-europäischen« Gesinnung. Die veröffentlichte Meinung kümmert wenig, wie schlecht diese stereotypen Vorwürfe im Nachhinein gealtert sind, sind doch die damaligen Architekten von den neoliberalen Dogmen abgekehrt, werden heute auf breiter Front De-Globalisierung, »Friendshoring« und (man bedenke den Streit um die Ausgestaltung des US-amerikanischen »Inflation Reduction Act«) keineswegs nur von erklärten Anwälten des »America First« Bevorzugung heimischer Unternehmen betrieben, und wurde die EU-Architektur durch das »Whatever it takes« von Mario Draghi und den Corona-Wiederaufbaufonds in einigen Punkten mitunter stärker revidiert, als linke EU-Kritiker*innen  es sich mitunter erträumt hatten.

Von der Widerlegung ihrer eigenen Vorurteile ließ sich die veröffentlichte Meinung in Deutschland noch nie beirren. Entsprechend gab sie sich ganz einer Hermeneutik des Verdachts hin, und malte im Vorfeld der Kundgebung am 25.2. am Brandenburger Tor deren Kaperung durch extrem rechte Kräfte oder gar eine »Querfront« an die Wand. Es ist banal, dass politische Kräfte hinter der Bannmeile einer Stigmatisierung durch die übergroße Mehrheit der Gesellschaft wie die AfD, Reichsbürger, Jürgen Elsässer oder andere Verschwörungsideologen versuchen werden, jegliche Initiative zu vereinnahmen oder von ihr zu profitieren, wo sie nur können. Es ist aber deutliches Anzeichen für das geringe qualitative Niveau der deutschen Debatte, wenn diese nur selbstbezüglich wie das Kaninchen um die Schlange unerbetener, aber kaum zu verhindernder rechter Kundgebungsteilnehmer*innen kreist.

Diesem Impuls erlag auch DIE LINKE. Obwohl sich ihre eigene Beschlusslage wegen ihres Kompromisscharakters nicht maßgeblich unterscheidet, verweigerte sie die Unterstützung des Manifests und des »Aufstands für den Frieden« am 25.2. mit Verweis auf fehlende Abgrenzung nach rechts. Tatsächlich entscheidender dürfte gewesen sein, dass DIE LINKE anders als ihr immerzu aus der Reihe tanzendes, prominentestes Mitglied Sahra Wagenknecht nicht in der Lage ist, an Unterschriften oder Demonstrierenden relevante Massen für eine gar nicht weit von dieser entfernt liegende Position anzusprechen und zu mobilisieren.


Die alte Friedensbewegung hat sich überlebt

Nicht nur grenzte sich Sahra Wagenknecht am Tag der Kundgebung unmissverständlich von der extremen Rechten und Reichsbürgern ab, durch Ordnungskräfte sowie aktives Zutun bewegungslinker Aktivist*innen wurde das verschwörungsideologische, radikal rechte Umfeld abgedrängt.[5] Bemerkenswerter und bedenkenswerter als die verbliebenen, einzelnen Personen mit explizit brauner Gesinnung bei der Kundgebung ist, wofür diese Veranstaltung sich letztlich als Kristallisationspunkt erwies, was sie über die Zusammensetzung, Reichweite, Ausstrahlungs- und Mobilisierungskraft sozialer Kräfte, deren Kohärenz und deren Aussichten sagt. Die Kundgebung führte verschiedene Motivlagen gegenüber der deutschen Politik um den Krieg gegen die Ukraine zusammen, machte aber auch im Verhältnis zum begründenden Friedensmanifest einige Widersprüche deutlich.

Zunächst war unübersehbar, dass ein Großteil der Demonstrierenden sich ganz deutlich in der späteren Lebensphase befand. »Es sind sehr viele gekommen«, so eine Beobachterin, »vor allem Ältere, die vermutlich noch für eine der Antikriegsdemos der 1980er Jahre auf den Straßen waren. Jüngere Demonstrierende musste man eher suchen«.[6] »Eine Mehrheit war eher reiferen Alters«, registriert auch Spiegel Online.[7] Den Demonstrierenden ist aber nicht ihr Alter vorzuhalten, sondern dass die geringe Teilnahme von Jüngeren sich dem veralteten Weltbild verdankt, das nicht vergehen will.

Wagenknecht, ihre innerparteilichen Verbündeten und die betagten Verbliebenen der Friedensbewegung finden zusammen, weil sie ein überkommenes Deutungsmuster teilen, das zur verfahrenen gegenwärtigen Situation so gar nicht mehr passen will. Die Zitate von Wagenknecht und ihren innerparteilichen Verbündeten von Anfang 2022, die bis zum letzten Moment bestritten, dass es einen russischen Angriff gegen die Ukraine geben würde, sind bekannt. Zu wenig wurde innerparteilich aufgearbeitet, dass hinter diesen Aussagen auch eine Weltanschauung steht, die aufzugeben sich deren Vertreter*innen mit bemerkenswerter Renitenz weigern. Explizit verficht das Weltbild die Ablehnung militärischer Gewalt, die Gegnerschaft zum Imperialismus, die Berufung auf das Völkerrecht, die Forderung nach (auch einseitiger) Abrüstung, Entmilitarisierung und ziviler Konfliktbearbeitung. Nun wird jedoch immer unverkennbarer, dass hinter und neben den offiziellen Losungen mal ausdrücklich, mal unausgesprochen Maximen stehen, die im Lichte des Angriffskrieges auf die Ukraine »zur Kenntlichkeit entstellt« (Ernst Bloch) wurden: nämlich solche, die prinzipiell die Vereinigten Staaten oder den globalen Westen als Schuldigen hinter den wichtigen Übeln der Welt verdächtigen.

Neben der Diskreditierung neoliberaler Deregulierungspolitik durch die Weltfinanzkrise von 2008ff dürfte es kaum eine Weltauffassung geben, die sich deutlicher bis auf die Knochen blamiert hat als dieser altlinke Antiimperialismus am 24.2.2022.[8] Daraus erklären sich zum einen aus diesem Spektrum die Versuche, die russische Verantwortung für den Angriffskrieg durch zweifelhafte bis abenteuerliche Anrufungen seiner Vorgeschichte zu relativieren. Darin sind auch die erstaunlichen Verrenkungen begründet, die dieses Spektrum am eigenen Weltbild vornimmt, um es angesichts der völlig gegenläufigen Entwicklung nicht aufgeben zu müssen.

Viele Akteure der alten Friedensbewegung sind in einer Schleife kognitiver Dissonanzreduktion gefangen, die zu immer erschreckenderen Blüten treibt. Beliebt wurde zunächst die Berufung auf den US-amerikanischen Denker John Mearsheimer, um die eigentliche Schuld am russischen Einmarsch der NATO zuschieben zu können. Ein Denken in Mearsheimers Kategorien von Großmächten, denen sich kleinere Staaten zu fügen hätten, ist jedoch unvereinbar mit dem Völkerrecht und politischer Selbstbestimmung. Weiterhin findet sich, vermutlich befeuert durch die Wahl der Bündnisgrünen als wichtigstem politischen Feindbild, ein Bekenntnis zur »interessengeleiteten Außenpolitik«, wie es aus Sahra Wagenknechts umstrittener Rede in der Haushaltsdebatte vom vergangenen Jahr sprach. Nicht nur wird damit der normative Anspruch preisgegeben, den fortschrittliche Politik auszeichnet, sondern es wird auch ein fragwürdiges Interessenverständnis unkritisch übernommen.

Schließlich fallen nicht wenige Altlinke auf ein unterkomplexes, flaches Verständnis des Staates als eines Agenten imperialistischer Kräfte und Interessen zurück. Wie die Ausblendung wichtiger Knackpunkte im »Manifest für den Frieden«, aber auch Wagenknechts flache, agitatorische Rhetorik immer wieder bezeugen, kennt oder verträgt dieses Denken keine Ambivalenzen oder Widersprüche, und bleibt daher unter den gegebenen Umständen letztlich politikunfähig.


Eine Kundgebung als mehrdeutiges Symbol

»Die Stärke des ›Aufstands für den Frieden‹«, so eine Beobachtung, liege also darin, »dass er die Bundesregierung und die mediale Kriegsstimmung angreift und dabei gleichzeitig die Angst der Bevölkerung vor einem Atomkrieg adressiert. Immerhin 39 Prozent stimmten laut einer Insa-Umfrage dem Manifest für den Frieden zu. Doch auch die Schwäche dieser Position trat dort zutage, wo die Vehemenz der Forderungen auf die Uneindeutigkeit ihrer Umsetzung trifft, etwa wenn Wagenknecht sagte: ›Es geht darum, Russland ein Verhandlungsangebot zu unterbreiten.‹ Da wurde von Kompromissen gesprochen, obwohl im Unklaren bleibt, von wem die Initiativen ausgehen sollten und an welcher Stelle diplomatische Versuche genau ansetzen könnten.«[9] Vermutlich ist der Zusammenhang sogar noch enger: Gerade weil den Forderungen keine realistische Vorschläge zur Umsetzung folgen und so Menschen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen eines akzeptablen Friedens und des dafür zu zahlenden Preises sich unter einem Dach zusammenfinden können, erzielt das »Manifest« seine große Resonanz.

Umfrage auf Umfrage bestätigt den hierzu widersprüchlichen, gespaltenen und immer wieder hin- und hergerissenen Zustand der öffentlichen Meinung in Deutschland. In einer vom SPIEGEL beauftragten Civey-Umfrage sprechen 66% der Deutschen dagegen, die Ukraine solle »aufhören, sich militärisch zu verteidigen, um den Krieg schnellstmöglich zu beenden«,[10] nur 22% der Befragten stimmen eher oder eindeutig zu. In einer nur kurz zuvor veröffentlichten Allensbach-Umfrage zeigt sich, dass von ostdeutschen Befragten immerhin 41% die Frage »Soll die Ukraine den Widerstand aufgeben?« bejahen.[11] Auf die Frage von Civey, »ob die Gegner der Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine Ihrer Meinung nach von den Medien und der Öffentlichkeit in Deutschland ausreichend wahrgenommen« würden, antworten 46% »eher nein/auf keinen Fall« und 45% »eher ja/auf jeden Fall«. Eine »Begeisterung für Militarisierung, die Sie für falsch halten« sehen 50% eindeutig oder eher nicht, aber 41% eindeutig oder eher doch. Zugleich sprechen sich 68% eindeutig oder eher dafür aus, »die jährlichen Ausgaben für die Bundeswehr im Vergleich zu heute eher zu erhöhen«, nur 13% sich eindeutig oder eher dafür aus, sie zu senken. Viele Unterzeichnende des »Manifests für den Frieden« treibt zweifellos die Angst vor einem Atomkrieg, das Erschrecken über die vielen inzwischen Getöteten und das kriegsbedingte Leid um. Zugleich ist nach einer 16 Jahre währenden Politik der Konfliktabschirmung unter Angela Merkel, die viele Deutsche schätzen gelernt haben,[12] der Vorwurf des SPIEGELs, die ohne Konkretisierungen vorgetragene Forderung nach schnellem Frieden in der Ukraine speise sich auch aus dem Bedürfnis, vom Konflikt in Frieden gelassen werden zu wollen, nicht völlig aus der Luft gegriffen.


Signal gesellschaftspolitischer Umbrüche

Wahrscheinlich sind Manifest und Kundgebung auch Anzeichen eines weitreichenden politisch-gesellschaftlichen Umbruchs. Er betrifft zum einen die Zusammensetzung, Stärke und Ausrichtung politischer Kräfte, vor allem der Parteien, zum anderen, wie sich die Leute zu diesen Parteien und anderen politischen Akteuren verhalten und welche repräsentativen Aufgaben sie an diese delegieren. Hinsichtlich der Zusammensetzung erlebt man aktuell einen Wandel, der mindestens auf einer Stufe mit demjenigen Ende der 1970er-/Anfang der 1980er-Jahre anzusiedeln ist, als sich nicht nur das linksalternativ-ökologische Spektrum in der Partei DIE GRÜNEN sammelte, sondern das originär liberale Spektrum sich anhand der Frage der »Wende« zugunsten einer schwarz-gelben Koalition trennte, die durch das konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt vollzogen wurde.

Heute ist es vor allem die politische Linke links von Sozialdemokratie und Bündnisgrünen, die vom Krieg gegen die Ukraine anhand ihrer lange mitgeschleppten Inkohärenzen aufgesprengt wird. Die innerdeutsche Debatte um den Krieg traf eine bereits zuvor innerlich von Spaltungstendenzen gekennzeichnete Linke. Eine Strömung kultivierte bereits seit geraumer Zeit, gestützt auf zweifelhafte Zeitdiagnosen, eine tiefe Abneigung gegen angebliche »liberale Kosmopoliten« als Wurzel allen politischen Übels.[13] Dass die Annahmen, denen eben jenes Feindbild zugrunde lag, vom Krieg über jedes erwartbare Maß hinaus blamiert wurden, setzte aber keinen Prozess der Selbstkritik in Gang, sondern im Gegenteil eine stärkere Einigelung und Bestärkung des eigenen, von der Realität eigentlich maximal widerlegten Weltbildes. Über die eigentlich falsche Diagnose einer sozialstrukturell begründeten Unversöhnlichkeit hat sich im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung eine tatsächliche, wenn auch vor allem innerparteiliche Unversöhnlichkeit verfestigt, die zu überbrücken derzeit wenig aussichtsreich erscheint.

Beobachtet man das Verhalten der Leute gegenüber Parteien und anderen sozialen Kräften, muss die Kluft zwischen der breiten Unterstützung des »Manifests für den Frieden« auf der einen Seite, und der sich vor allem aus den betagteren »üblichen Verdächtigen« zusammen setzenden Kundgebung auf der anderen Seite ins Auge springen. Der »Aufstand für den Frieden« ist nach dem Scheitern von »Aufstehen« der zweite starke Hinweis darauf, dass eine Wagenknecht-Partei nicht funktionieren wird. Die frühere Fraktionsvorsitzende der LINKEN ist eine Feldherrin ohne Truppen, und ihre breite Zustimmung in Umfragen und bei ihrer Unterschriftensammlung erzielte sie nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Profilierung über Gegnerschaft, Protest und mitunter radikal vereinfachende Elitenschelte. Für eine Verankerung und Mobilisierung in der Breite fehlt ihr jedoch der gesellschaftliche Resonanzkörper. Jede Auseinandersetzung über positiv und konstruktiv bestimmte politische Ziele ließe den beachtlich großen, aber eben auch diffusen Block der Wagenknecht-Unterstützer*innen sehr bald zerfließen.

Dabei wäre gerade jetzt eine politische Kraft wünschenswert, die den verständlichen und legitimen Ruf nach Verhandlungen zur baldigen Beendigung des Krieges mit Konzepten unterfütterte. Paul Schäfer ist unbedingt zuzustimmen: »Eine Friedensbewegung muss eben beides tun – sowohl für Diplomatie werben als auch für konsequente Sanktionen. Trotz der nötigen Waffenlieferung an die Ukraine bleibt es richtig, grundsätzlich eine restriktive Rüstungsexportpolitik zu fordern. Auch muss eine Politik kritisiert werden, die jetzt so tut, als sei das Thema Rüstungskontrolle und Abrüstung im Zuge einer neuen globalen Konfrontation vom Tisch. Das finde ich fatal. Wir brauchen globale Kooperation, keine Blockbildung des Westens gegen China. Nur damit bekommen wir die atomare Gefahr und die Klimakatastrophe in den Griff. Einerseits handfeste Unterstützung der Ukraine – andererseits mehr Kooperation im Rahmen der UNO. Die Friedensbewegung muss lernen, mit diesem Widerspruch umzugehen. Ohne Dialektik geht es nicht.«[14]

Wichtige Vorschläge in diese Richtung kamen bislang von sozialdemokratischen Intellektuellen. Die Politologin und mehrmalige Kandidatin zur Bundespräsidentschaft, Gesine Schwan, schlug etwa vor, durch diplomatische und bündnispolitische Initiativen diejenigen Länder zu umschwärmen, die sich einer Verurteilung des russischen Angriffskrieges bislang – auch wegen materieller Abhängigkeiten zu Russland – verweigern. Im Erfolgsfalle erhöhte dies die wirtschaftlichen und politischen Kosten, die Russland für eine Fortsetzung des Krieges zu zahlen hätte.[15] Ihr Aachener Fachkollege und Russland-Experte Winfried Böttcher reaktiviert die Logik des aus der Spieltheorie bekannten »Tit for Tat«, bei der man mit einem Kooperationssignal gegenüber Russland in Vorleistung ginge, und auf jeden Deeskalationsschritt Russlands einen eigenen freundlichen Schritt folgen ließe, um nach und nach Vertrauen aufzubauen, so dass Verhandlungen an die Stelle tödlicher Kampfhandlungen treten könnten.[16] Beide Vorschläge setzen genau an den Leerstellen an, die das Manifest von Wagenknecht und Schwarzer gelassen hat. Sie sollten von einer Linken aufgegriffen werden, die nicht in Schockstarre, Ratlosigkeit oder überkommenen Denkmustern und Feindbildern verenden will.

Anmerkungen

[1] Adam Tooze, Chartbook #130 Defining polycrisis - from crisis pictures to the crisis matrix, 24.6.2022, https://adamtooze.substack.com/p/chartbook-130-defining-polycrisis.
[2] Manifest für Frieden, online unter https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden.
[3] Diese und die folgenden Kritikpunkte am Manifest für den Frieden übernehme ich von Alexander Recht.
[4] Ulrich Beck, Was zur Wahl steht, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2005, S. 39.
[5] Ines Schwerdtner, Neue alte Friedensbewegung. Auf der Friedenskundgebung in Berlin formierte sich keine Querfront. Doch der große Aufbruch blieb ebenfalls aus, Jacobin, 27.2.2023, online unter https://jacobin.de/artikel/neue-alte-friedensbewegung-friedensdemo-berlin-sahra-wagenknecht-alice-schwarzer-linkspartei-ines-schwerdtner/.
[6] ebd.
[7] Ann-Katrin Müller, Guido Mingels, Timo Lehmann, Malte Göbel und Mitsuo Iwamoto, Protest in Berlin. Die fünf wichtigsten Erkenntnisse von der Schwarzer-Wagenknecht-Kundgebung, Spiegel Online, 25.2.2023, online unter https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/sahra-wagenknecht-und-alice-schwarzer-so-lief-die-kundgebung-in-berlin-a-b7fa4f97-79d1-410f-9b96-b7fca40dc3ee.
[8] Für eine konzise Kritik vieler lang gepflegter linker Lebenslügen zur Weltordnung und zu Russland siehe Paul Schäfer, Ein Jahr russischer Angriffskrieg: Das Elend linker Legenden, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2, 2023, S. 55-62.
[9] Ines Schwerdtner, Neue alte Friedensbewegung, a.a.O.
[10] Melanie Amann, Susanne Beyer, Markus Feldenkirchen, Gunther Latsch, Timo Lehmann, Cordula Meyer, Ann-Katrin Müller, Tobias Rapp, Marc Röhlig, Jonas Schaible, Sara Wess, Ein bisschen Frieden. Wladimir Putins Krieg verunsichert viele Deutsche. Um die Linke Sahra Wagenknecht formiert sich eine neue Friedensbewegung. Was treibt die Menschen an, die dieser Tage auf die Straße gehen? Und welche Rolle spielen Rechtsextremisten?, in: DER SPIEGEL, Nr. 9, 2023, S. 22-25, hier S. 25.
[11] Thomas Petersen, Verunsichert durch den Krieg. Die deutschen sind uneins über die richtige Reaktion auf Russlands Aggression. Deutsche Fragen – Deutsche Antworten, in: FAZ, 16.2.2023, S. 8.
[12] Stephan Grünewald, Rückzug ins Schneckenhaus statt Aufbruch-Stimmung vor der Bundestagswahl – Politiker*innen sollen stellvertretend seelisches Dilemma auflösen, Ergebnisse der tiefenpsychologischen rheingold-Studie zur Bundestagswahl 2021, 17.8.2021, online unter https://www.rheingold-marktforschung.de/rheingold-studien/rueckzug-ins-schneckenhaus-statt-aufbruch-stimmung-vor-der-bundestagswahl/.
[13] Zur Widerlegung dieses Topos vgl. Steffen Mau, Kamel oder Dromedar. Zur Diagnose der gesellschaftspolitischen Polarisierung, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 76, Heft 874, März 2022, S. 5-18.
[14] Paul Schäfer, »Ohne Dialektik geht es nicht«. Aus dem Wagenknecht-Schwarzer-Bündnis wird keine neue Friedensbewegung, glaubt der Linke Paul Schäfer. Waffen und Diplomatie seien kein Widerspruch (Interview), in: taz, 28.2.2023, S. 7.
[15] Gesine Schwan, Putins politische Kosten mehren. Wie der Frieden gefördert werden könnte, ohne die russische Aggression zu belohnen, in: FAZ, 27.2.2023, S. 9.
[16] Winfried Böttcher, Die Denkblockade durchbrechen. Die ›Logik‹ des Krieges lässt nur noch zu, wie man den Gegner am besten vernichten kann, in: Kölner Stadtanzeiger, 23.2.2023, S. 4.

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