14. März 2024 Bernhard Sander: Neue Regierungsverhandlungen in den Niederlanden

Kein Grund zur Entwarnung

Der Wahlsieger der niederländischen Parlamentswahl Geert Wilders und seine Ein-Mann-Partei PVV verzichtet nach mehrmonatigen Verhandlungen zur Regierungsbildung auf seinen Anspruch, Ministerpräsident zu werden.

Wilders ließ seit dem Wahlsieg keine Gelegenheit aus, sich als Ministerpräsident aller Niederländer*innen darzustellen. Als Vorsitzender der größten Partei im Parlament habe er jetzt eine andere Rolle und eine andere Verantwortung – auch gegenüber Muslimen, wird er nicht müde zu betonen. Er habe nie verlangt, sie abzuschieben, beteuert er.

Anscheinend hat er vergessen, dass er im März 2014 bei einer Veranstaltung in Den Haag seine Anhänger*innen suggestiv fragte: »Wollt ihr in dieser Stadt und in den Niederlanden mehr oder weniger Marokkaner?« Der ganze Saal skandierte »Minder, minder, minder« (»weniger, weniger, weniger«). Wilders versprach grinsend: »Na, dann werden wir das regeln.«

Das NRC Handelsblad fühlte sich seinerzeit in einem Kommentar an die Sportpalastrede von Joseph Goebbels erinnert: »Mit dem Mobilisieren eines Saales für ›weniger Marokkaner‹ schafft Wilders eine Atmosphäre von Deportation.« Wilders wurde 2020 von einem Gericht in Den Haag wegen Beleidigung einer gesellschaftlichen Gruppe für schuldig befunden.

Für das Scheitern der bisherigen Verhandlungen wird von jedem zweiten Befragten die neue Partei NSC (Neuer Gesellschaftsvertrag) unter der Führung des ehemaligen Christdemokraten Pieter Omzight verantwortlich gemacht, die in Umfragen von den realen 24 Abgeordneten-Mandaten nun demoskopisch 7 verlieren würde. Wilders wiederum würde 4 Sitze gewinnen und damit noch mehr zur stärksten politischen Kraft des Landes aufsteigen. Die 49 Mandate wären die höchste Anzahl von Sitzen, die seit ihrer Gründung im Jahr 2006 für die PVV ermittelt wurden. Tatsächlich war seit 2006 keine Partei mehr so stark.

Vollmundig kann Wilders verkünden: »Vergesst nicht: Ich werde noch Premier der Niederlande werden«, schrieb er kurz nach der Ankündigung auf X. »Mit der Unterstützung von noch mehr Niederländern. Und ist es nicht morgen, dann übermorgen.« Da auch seine Verhandlungspartner – Dilan Yesilgöz von der rechtsliberalen VVD, Pieter Omtzigt vom NSC und Caroline van der Plas von der rechtspopulistischen Bauern-Bürger-Bewegung (BBB) – bereits im Wahlkampf ihren Verzicht auf das Ministerpräsidentenamt erklärt hatten, läuft es auf die Nominierung eines Ministerpräsidenten durch Wilders hinaus.

An den grundsätzlichen Inhalten und Differenzen hat sich durch Wilders Rückzug nicht wirklich etwas geändert. Der entsprechend die niederländischen Gepflogenheiten von Wilders unmittelbar nach den Wahlen nominierte Informator für das Parlament, der rechtssozialdemokratische Kim Putters, hat bisher die Gespräche moderiert und wird nun eine »außerparlamentarische Regierung« vorschlagen, für die die Beteiligten sogenannte Expert*innen als Ministerkandidat*innen benennen können. Die vier Parteien wollen den Berichten zufolge keinen umfassenden Koalitionsvertrag schließen, sondern sich nur auf Grundzüge einigen.

Der Zustand der Staatsfinanzen war für Omtzigt die Begründung für den vorübergehenden Auszug aus den Verhandlungen. In einem Brief an die Parteimitglieder schrieb er, »sehr erschrocken« über die Finanzlage zu sein. Auf keinen Fall wolle man der Bevölkerung »Versprechen machen, von denen man schon zuvor weiß, dass es leere sind. Existenzsicherheit erschafft man nicht aus Luftschlössern.«

Im Parteiprogramm des NSC ist das Thema »Existenzsicherheit« zentral, wobei Bürger*innen ein Recht auf die Erfüllung von Grundbedürfnissen wie medizinische Versorgung, Energie und gesunde Ernährung haben. Es ist einer der Gründe für den schnellen Aufstieg der Partei und ihren Zulauf aus allen Ecken des politischen Spektrums. Omtzigt ist zugleich aber kein Verfechter von Schulden.

Im Wahlprogramm der PVV forderte Wilders wiederum ein Verbot von Moscheen, Referenden über einen EU-Austritt der Niederlande und ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine. Zwei der möglichen Partner, die rechtsliberale VVD des kommissarischen Ministerpräsidenten Mark Rutte sowie die Mitte-Rechts-Partei NSC, hatten es deshalb schon bald nach der Wahl im November abgelehnt, Minister in ein Kabinett Wilders zu entsenden.

So hat Wilders im Laufe der Verhandlungen seine Gesetzesvorschläge zu einem Verbot des Korans und von Moscheen sowie den Entzug von Bürgerrechten für Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit wieder zurückgezogen. Auch gab er seinen Widerstand gegen weitere Militärhilfe für die Ukraine auf. Konsens der vier Rechts-Parteien bleibt die deutliche Reduzierung von Migration und Asyl.

Das ausschlaggebende Motiv für die Wahlentscheidungen im letzten November war, laut Nachwahlbefragungen bei PVV-Wähler*innen, war nicht die Inflation. Die PVV-Wähler*innen erwähnten Geldsorgen selten als Thema und das drängende Problem fehlenden Wohnraums nur im Zusammenhang mit Einwanderung. Migration und Flüchtlinge waren »ganz klar« die häufigsten Motive, sagten Forscher*innen.

Die Wähler*innen kommentierten ihre Entscheidung damit, dass der PVV sicherstellen würde, dass »die Niederlande wieder für die Niederländer« da sind, und dass die Partei »es wagt, die Wahrheit zu sagen«. Die PVV wurde auch als eine Partei angesehen, die Veränderungen vorantreiben konnte, und als Protestabstimmung gegen die etablierte Ordnung. Dies galt laut Forscher*innen sowohl für traditionelle als auch für neue PVV-Wähler*innen. Die Untersuchung fand heraus, dass rund ein Drittel der gesamten niederländischen Wählerschaft Einwanderungsbeschränkungen wünscht und kein Vertrauen in die Politik hat. Rund 23,5% der Menschen mit Wurzeln in Asien, Südamerika und Suriname stimmten für PVV, was ungefähr dem Rest der Bevölkerung entspricht.

Derzeit erwartet ein Zehntel der niederländischen Wähler*innen (11%), dass sich die allgemeine wirtschaftliche Situation des Landes in den nächsten zwölf Monaten verbessern wird, und zwei Fünftel (40% ) gleich bleiben. Es gibt auch einen signifikanten Anteil von 38%, der erwartet, dass sich die wirtschaftliche Situation in den nächsten zwölf Monaten verschlechtert. Im Januar 2023 – vor genau einem Jahr – waren noch mehr Niederländer*innen (50%) pessimistisch über die wirtschaftlichen Aussichten, 32% erwarteten, dass die Situation gleichbleiben würde und ein Zehntel (11%) glaubte, dass sich die wirtschaftliche Situation verbessern würde. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Niederländer*innen nicht unbedingt optimistischer geworden sind, sondern weniger pessimistisch. Dieser Rückgang des Pessimismus begann erst nach den Parlamentswahlen.

Ein ähnliches Muster ist bei den Erwartungen hinsichtlich der persönlichen finanziellen Situation festzustellen. Im Vergleich zum Januar 2023 ist der Pessimismus von 33% im Januar 2023 auf 23% im Januar 2024 gesunken. Der Pessimismus in Bezug auf die persönliche finanzielle Situation hat nach den Parlamentswahlen vom 22. November zwar abgenommen – und ist seitdem konstant geblieben.

Rechtsorientierte Niederländer*innen stehen ihrer zukünftigen persönlichen finanziellen Situation häufiger negativ gegenüber. Etwas mehr als ein Viertel der rechten Niederländer*innen (27%) erwartet eine Verschlechterung ihrer persönlichen finanziellen Situation, verglichen mit einem Fünftel der mittel- und linksgerichteten (beide 20%).

Die Links-Parteien konnten von den festgefahrenen Koalitionsverhandlungen nicht profitieren, da sie zwar existenzielle Alltagsthemen bearbeiten, aber dem Spruch vom versagenden politischen System und der Konkurrenz durch die Migrant*innen und ihrer fremden Lebensweise (Religion) nicht begegnen. Die Sozialistische Partei verliert sogar nach dem Wahldesaster in den Umfragen weitere Zustimmung. Je länger sich die Regierungsbildung hinzieht, wo doch »in der wahlentscheidenden Frage ›Die eigenen Leute zuerst‹ alles klar« zu sein scheint, wird sich der Unmut über das Versagen der Eliten da oben aufstauen und Neuwahlen die Chancen nicht verbessern. Aber zu keinem Zeitpunkt stand eine Regierung der linken Mitte zur Debatte. Eine Aufheizung der »Atmosphäre der Deportation« erscheint jedoch jederzeit möglich.

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