25. Februar 2019 Joachim Bischoff/Björn Radke

Kein überzeugender Kompromiss in der Europa-Frage

Die neuen Spitzenkandidaten Martin Schirdewan und Özlem Alev Demirel. Foto: Dirk Anhalt/DIE LINKE/Flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)

Mit großer Mehrheit haben nach mehr als neunstündiger Debatte die Delegiert*innen des Europaparteitags der LINKEN das Wahlprogramm mit dem Arbeitstitel »Für ein solidarisches Europa der Millionen, gegen eine Europäische Union der Millionäre« zu den bevorstehenden Europawahlen verabschiedet.[1]

Im Entwurf des Vorstands wird die EU nicht abgelehnt, sondern ein »Neustart« mit umfassenden Reformen hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit gefordert. »Gemeinsam mit anderen linken Parteien stehen wir für einen grundlegenden Politikwechsel in der Europäischen Union.« Diese proeuropäische Tendenzaussage ist ein Fortschritt. Innerhalb der sozialistischen Linken – nicht nur in der Linkspartei – dominierte längere Zeit die These, dass mit dem vorliegenden Institutionengerüst keine Zukunft mehr zu gewinnen sei. Die auf dem Parteitag in Bonn mehrheitlich bekräftigte Auffassung von grundlegenden öko-sozialen und antimilitaristischen Reformen eröffnet den Weg, sich in Anknüpfung an frühere Konzeptionen eines sozialistischen Europas (Manifest von Ventotene 1941) an der Seite der demokratischen Kräfte im Sinne des Antifaschismus für ein gemeinsames Europa einzusetzen.

Die vom »linken« Flügel vertretene These, die EU sei »militaristisch, undemokratisch und neoliberal«, war zurecht beim »Reformflügel« aus Partei und Fraktion auf Ablehnung gestoßen und wurde vom Parteivorstand nicht unterstützt. DIE LINKE ist mehrheitlich nicht unkritisch gegenüber den Institutionen der EU und der politischen Praxis, betont aber das Veränderungspotenzial und will sich klar gegenüber rechten Positionen abgrenzen. »Die Europäische Union ist nicht so, wie wir sie wollen«, heißt es in dem Wahlprogramm. »Gemeinsam mit anderen linken Parteien stehen wir für einen grundlegenden Politikwechsel in der Europäischen Union.« Dabei müssten »die vertraglichen Grundlagen revidiert werden, die zur Aufrüstung verpflichten, auf Militärinterventionen orientieren, die Anforderungen der demokratischen Gestaltung entgegenstehen und die neoliberale Politik wie Privatisierung, Sozialabbau oder Marktradikalisierung vorschreiben.«

Im Vorfeld des Parteitages gab es heftige Auseinandersetzungen um den vom Parteivorstand im Top-Down-Verfahren entwickelten, sehr umfangreichen Programmentwurf, dessen Kernbotschaft aber schwer dechiffrierbar war. Der Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch hatte dazu öffentlich erklärt, er habe »den Entwurf mit etwas Verwunderung wahrgenommen«. Zum einen werde darin »abermals die Bezeichnung ›militaristisch, neoliberal und undemokratisch‹ für die EU gewählt, die bereits aus dem Wahlprogramm 2014 konfliktreich gestrichen werden musste und die auch fünf Jahre später so schlicht nicht richtiger ist«. Bei dem Entwurf handele sich um »antieuropäische Plattitüden, die der komplizierten Situation nicht angemessen sind«. Zudem, so Bartsch weiter, weise der Entwurf »analytische Mängel« auf. So würden die demokratischen Fortschritte durch den realen Zuwachs an Möglichkeiten für das Europäische Parlament nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. Gleiches gelte für »die Aushebelung demokratischer Institutionen der EU durch ESM, Fiskalpakt und Eurogruppe«.

Dieser pointierten Kritik widersprach der Ko-Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger: »Ich teile die Kritik am Programmentwurf nicht«, denn das Programm unterscheide sich vom Programm der letzten Europawahl. »Es ist sehr viel hoffnungsvoller, und es geht sehr viel mehr darum, die EU zu verändern. Wir verbinden klare Kritik mit Vorstellungen, wie man es anders machen könnte.« Es sei so, »dass die EU undemokratisch ist. Man kann nicht bestreiten, dass die EU aufrüstet. Und dass sie eine neoliberale Politik macht, kann ebenfalls niemand in Zweifel ziehen.« Sicher, die europäische Konstruktion wird von den etablierten Kräften beherrscht, aber dies gilt auch für die meisten europäischen Mitgliedsstaaten, in denen sich zudem unübersehbar die rechten Kräfte breit machen.

Auf der letzten Parteivorstandsitzung vor dem Parteitag wurde der Entwurf dann in seinen zentralen Aussagen fortgeschrieben. Die Parteivorsitzende Katja Kipping bemühte sich am Vorabend des Parteitages um die Einstimmung auf diese Kompromisslinie. Sie gab ein klares Bekenntnis zur Europäischen Union ab, forderte aber auch umfassende Reformen. »Wir wollen kein Auseinanderbrechen der EU«, sagte sie in Bonn. »Wenn wir die konkrete EU-Politik kritisieren, dann niemals mit dem Ziel, dass es zurück in das Nebeneinanderher von Nationalstaaten geht.« Auf eine andere EU hinzuarbeiten, sei »die größere Liebeserklärung an Europa als zuzulassen, dass alles so bleibt, wie es ist«, sagte sie. Die heutige EU spiele Rechten und Marktliberalen in die Hände. »Und das dürfen wir nicht zulassen.«

Im Interesse der Kompromisslinie des Vorstands wurden Anträge des linken Flügels für eine entsprechende Verschärfung des Wahlprogramms abgelehnt. Die umstrittene Formulierung, die EU sei »militaristisch, undemokratisch und neoliberal« schaffte es nicht in die Präambel. Aber auch der Parteiflügel der Reformer erlitt eine Niederlage: Seine Vision von einer »Republik Europa« mit weitreichenden Kompetenzen erhielt mit immerhin 44% ebenfalls keine Mehrheit. Es handelt sich also eher um einen Formelkompromiss: Die linken EU-Kritiker*innen können sich durchaus mit einem Austritt oder einem kompletten RE-Start des europäischen Projektes anfreunden, weil für sie der Nationalstaat die wichtigere Bezugsebene ist. Die Reformkräfte unterstreichen gerade angesichts der immer deutlicher hervortretenden Weltunordnung die Notwendigkeit des Agierens eines demokratischen Europas. Eine Zerstörung des gegenwärtigen Europas wäre aus dieser Sicht ein Rückfall in eine chaotische Konkurrenz der Nationalstaaten.

Der in der Linkspartei beschlossene Kompromiss verdeutlicht, dass DIE LINKE derzeit keine überzeugende linke Erzählung für eine Perspektive jenseits des Nationalstaates mehr anbieten kann. Und es gibt kaum Verständigung darüber, wie dieses Defizit zu beheben ist. Das gilt eben auch für die ungeklärte Frage nach der politischen Grundposition im anlaufenden Europawahlkampf.

Trotz der demonstrierten Gemeinsamkeit bestehen die inhaltlichen Differenzen fort und werden auch in der Öffentlichkeit so wahrgenommen. »Die Linke muss es endlich schaffen, ihre Idee eines sozialen und friedlichen Europas, einer EU mit einem gestärkten Parlament positiv unters Volk zu bringen, sonst droht ihr erneut ein enttäuschendes Wahlergebnis wie 2014«, kommentiert zu Recht die »tagesschau«. Aber schon mit der Einordnung in die gegenwärtige Ausgangslage tun sich die Akteure der Linkspartei schwer. Für Linken-Chef Bernd Riexinger ist die Europawahl nichts anderes als eine Richtungswahl. Es stehe am 26. Mai viel auf dem Spiel, sagte er kurz vor Beginn des Europa-Parteitags. »Wir (müssen) zwischen den Blöcken Macron und Merkel auf der einen Seite und den Rechten auf der anderen Seite eine eigene linke Alternative sichtbar machen.«

Der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, forderte seine Partei auf, die Europäische Union gegen ihre Gegner zu verteidigen. »Das Ziel der Rechten ist, sich dieses Europa anzueignen, um es zu zerstören«, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Für DIE LINKE müsse es darum gehen, »die ursprünglich positiven Grundideen, die mit Europa verbunden sind, in den Vordergrund zu stellen: das Friedensprojekt, das kulturelle Projekt, den sozialen Ausgleich«.

Der »Rhein-Neckar-Zeitung« sagte Bartsch: »In Europa tobt ein Kulturkampf von Rechts, die Linke muss ein Bollwerk der Menschlichkeit sein gegen die Kräfte von Rechts.« Der erste Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, fordert vom Parteitag ein geschlossenes Bekenntnis zur EU. »Wir müssen klar sagen: Wir stehen zu dieser Europäischen Union«, sagte er der »Neuen Osnabrücker Zeitung«. Die EU, die von Rechten und Rechtsradikalen unter Beschuss stehe, »müssen wir verteidigen«.

Das EU-feindliche Lager in der Linkspartei konnte sich nicht durchsetzen. Vielmehr wurde der Satz eingefügt, es sei gerade angesichts des Brexits Aufgabe der Linkspartei, die EU zu retten. Eine Beschreibung des EU-Parlaments als »machtlos« wurde gestrichen. Eine eu-weite solidarische Arbeitslosenversicherung wurde als Forderung in das Programm aufgenommen. Entsprechend waren die EU-Gegner vom Ausgang der Programmdebatte entsprechend enttäuscht. Das sei »ein politisch entkernter Parteitag« gewesen, sagte Alexander Neu, der zum ultralinken Flügel der Partei gehört. Mit »so wenig politischem Profil« verliere die Linke ihre Daseinsberechtigung. »Da reichen Grüne und SPD aus«, sagte der verteidigungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion.

Zugegeben: Der Parteiführung ist es mit ihrer Parteitagsstrategie gelungen, einen Bruch mit den europafeindlichen Positionen zu vermeiden, zumal für das Schlüsseljahr 2019 mit der Europawahl und vier Landtagswahlen weiterer Streit in der Öffentlichkeit nicht hilfreich wäre. Aber um bei den kommenden Wahlen mehr Zustimmung zu erhalten – zumindest in der Öffentlichkeit – müsste das Bekenntnis zu Europa – bei aller Kritik – doch eindeutiger ausfallen. Unterdessen hat Linken-Chef Bernd Riexinger für die Europawahl mindestens zehn Prozent der Stimmen als Ziel ausgegeben. »Bei den Europawahlen wollen wir ein zweistelliges Ergebnis«, sagte er. DIE LINKE sei »Teil einer Bewegung für ein besseres Europa«. Mit ihren Spitzenkandidaten Martin Schirdewan und Özlem Alev Demirel setze die Partei bewusst auf eine neue Generation, die Europa selbstverständlich lebe. Trotzdem wollten die beiden nicht beim Status quo verharren, sondern glaubhaft einen Politikwechsel.


[1] Eine ausführliche Analyse und Bewertung der Debatten auf dem Parteitag findet sich in bei Alban Werner in seinem Beitrag Fünfjährlich grüßt das EU-Murmeltier auf Sozialismus.deAktuell.

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