29. April 2022 Redaktion Sozialismus.de: Der Kampf gegen die türkische Diktatur

»Keine Regierung kann sich gegen leere Kochtöpfe behaupten«

Ein türkisches Gericht hat den Kulturmanager und Unternehmer Osman Kavala nach vier Jahren Untersuchungshaft zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt. Dieser skandalöse Prozess ist symptomatisch für die Politisierung der türkischen Justiz.

Erschwerte Haftbedingungen bedeuten, dass eine vorzeitige Entlassung nicht möglich ist. Kavala wurde für schuldig befunden, die sogenannten Gezi-Proteste von 2013 organisiert und damit versucht zu haben, die Regierung zu stürzen. Sieben Mitangeklagte erhielten wegen Beihilfe eine Haftstrafe von jeweils 18 Jahren.

Der Kulturmanager wurde im Oktober 2017 verhaftet und saß seither in einem Hochsicherheitsgefängnis in Untersuchungshaft. In den viereinhalb Jahren seit seiner Festnahme brachte die Staatsanwaltschaft nie stichhaltige Beweise oder auch nur halbwegs glaubwürdige Indizien für ihre Vorwürfe vor.

Im Februar 2020 war auch ein türkisches Gericht zu diesem Schluss gekommen, und hatte Kavala von allen Vorwürfen freigesprochen. Noch am selben Tag wurde aber ein neues Verfahren gegen ihn eröffnet, diesmal wegen seiner angeblichen Verstrickung in den Putschversuch von 2016, der Beschuldigte musste in Haft bleiben. Auch der Freispruch wurde später wieder kassiert und das Verfahren neu aufgerollt. Und als Kavalas Untersuchungshaft die maximal zulässige Dauer zu überschreiten drohte, wurde rasch ein neuer Anklagepunkt hinzugefügt, diesmal wegen Spionage.

Diese Abläufe haben den letzten Schein eines leidlich fairen Verfahrens zerstört. Die türkische Justiz ist in den vergangenen Jahren immer stärker politisiert worden. Der Wechsel zum Präsidialsystem hat die Gewaltenteilung weiter unterminiert. Heute laufen viele politische Auseinandersetzungen oder Abrechnungen im Präsidentenpalast zusammen.


Scharfe internationale Kritik

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er Kavala hinter Gitter sehen will. Mit seiner Vision einer pluralistischen, rechtsstaatlich gefestigten Türkei präsentiert dieser die demokratische Zivilgesellschaft gegen die Politik von Erdoğans AKP und ihres nationalistischen Koalitionspartners MHP.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sprach bereits vor zweieinhalb Jahren von einem politisch motivierten Verfahren und ordnete die sofortige Freilassung Kavalas an. Weil Ankara dieser Aufforderung nicht nachkam, eröffnete der Europarat im Dezember 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei. An dessen Ende kann die Suspension oder sogar der Ausschluss aus der Organisation stehen. Als Mitgliedsstaat des Europarats ist die Türkei an die Beschlüsse des EGMR gebunden.

Mit dem Justizverfahren ist ein weiterer Skandal verbunden. Im Oktober 2021 forderten zehn westliche Botschafter in einem gemeinsamen Schreiben Kavalas Freilassung, worauf Erdoğan die Diplomaten sofort des Landes verweisen wollte. Diese Ausweisung konnte abgewendet werden. Denn der türkische Präsident war Ende des Jahres wegen der ausufernden Wirtschaftskrise um eine Verbesserung der Beziehungen zu den traditionellen Partnern im Westen bemüht.


Seit Monaten ist der türkische Diktator als Vermittler im Geschäft

In der Ukraine-Krise hat sich Erdoğan als Vermittler zwischen die Fronten gestellt. Dass dieser wiederum ein internationales Gewicht erhält, spricht nicht für das westliche Bündnis. Vor seiner Reise nach Kiew und Moskau machte Uno-Generalsekretär António Guterres in Ankara Station. Auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz oder der niederländische Regierungschef Mark Rutte haben seit Kriegsausbruch den türkischen Regierungspalast aufgesucht. Die deutsche Außenministerin, Annalena Baerbock, forderte im Sinne ihrer wertegebundenen Politik, dass Kavala unverzüglich freigelassen werde. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag sagte daraufhin, Deutschland habe »kein Recht«, die Haftstrafe zu kommentieren.

Osman Kavala in Istanbul stellt den Westen vor eine schwierige Entscheidung: Die lebenslange Haftstrafe für den türkischen Kulturförderer ist eine Verhöhnung des europäischen Rechts. Das Urteil ist ein offener Affront gegen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Doch im Krieg ist die türkische Diktatur aufgewertet, weil die Türkei die Ukraine an der NATO-Südflanke mit Kampfdrohnen unterstützt und den Bosporus für russische Kriegsschiffe gesperrt hat. Zugleich spielt sich Erdoğan als Vermittler auf und hat bereits mehrfach Vertreter Kiews und Moskaus zu Friedensgesprächen geladen.


Die türkische Justiz ist politisiert, Osman Kavala kein Einzelfall

Der Prozess gegen den international geschätzten Unternehmer, Verleger und Kulturförderer hat nicht nur die erschreckende Inkompetenz des türkischen Justizapparats gezeigt, der nicht einmal fähig war, eine halbwegs kohärente Beweisführung vorzulegen. Der kafkaeske Prozess belegt zudem, dass die Justiz von Erdoğan dirigiert wird. Um den Willen des Palasts zu erfüllen, sind Richter und Staatsanwälte bereit, alle rechtsstaatlichen Prinzipien über Bord zu werfen, und das Recht zu beugen.

Das Verfahren gegen Kavala ist kein Einzelfall. Seit dem Putschversuch von Juli 2016 hat der Autokrat im Präsidentenamt Zehntausende missliebige Offiziere, Beamt*innen und Staatsanwält*innen unter Missachtung der elementarsten Grundsätze des Rechts zu langen Haftstrafen verurteilen lassen. Auch unzählige kritische Journalist*innen, unabhängige Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft sind unter fadenscheinigen Vorwürfen eingesperrt worden.

Der Präsident hat die internationale Kritik an der Verurteilung Kavalas scharf zurückgewiesen. Die türkische Justiz habe die finale Entscheidung bezüglich einer Person getroffen, woran sich »einige Kreise« störten. »Nichts für ungut, in diesem Land existieren Recht und Gesetz«, ließ er verlauten und bezeichnete Kavala erneut als »türkischen Soros«. Schon in der Vergangenheit hatte der Präsident diesem unterstellt, mit Hilfe des US-Investors und Philanthropen Georg Soros die Gezi-Proteste finanziert zu haben. Die regierungskritischen Demonstrationen im Jahr 2013 seien eine ausländische Verschwörung.


Ausufernde Wirtschaftskrise mit hohen Inflationsraten

Der Krieg in der Ukraine ist zugleich ein Wirtschaftskrieg mit dramatischen Auswirkungen besonders auf afrikanische Länder. Vor allem durch die Beschränkungen im Handel von Agrarprodukten (Weizen, Sonnenblumenöl) ist auch das türkische Alltagsleben tangiert. Die Preissteigerungen befeuern die seit langem drückende Geldentwertung. Die Abhängigkeit von Getreideimport aus Russland und der Ukraine erschwert die Lage wegen stark gestiegener Preise. Starke Preissteigerung für Energierohstoffe, die das Land weitgehend einführen muss, geben der Inflation weitere Nahrung. Die Preise für Verbrauchsgüter stiegen um mehr als 60%. Umfragen besagen, dass 59% der Menschen mit ihrem Geld nicht mehr auskommen, weitere 27% gerade eben noch. Millionen Bürger*innen können die Kosten für Strom und Energieleistungen nicht mehr aufbringen.

Hinzu kommt, dass der Tourismus aus Russland und der Ukraine, die für mehr als ein Viertel der Gäste stehen, in diesem Jahr stark schrumpfen dürfte. Dabei hegte die Türkei gerade hier große Hoffnungen auf einen Aufschwung nach zwei Corona-Jahren. Die Wirtschaft ist stark von Russland abhängig, nicht nur im Tourismus. Vor allem bei der Energieversorgung ist Ankara auf Moskau angewiesen. Rund 40% des Erdgas- und 25% des Ölbedarfs importiert das Land aus Russland. Allein für das russische Gas erwartet die türkische Regierung in diesem Jahr Kosten in Höhe von etwa 40 Mrd. US-Dollar – etwa doppelt so viel wie im Jahr zuvor.

Auch bei landwirtschaftlichen Produkten ist Russland mit großem Abstand der wichtigste Weizenlieferant. 2021 kamen 70% der türkischen Getreideimporte von dort. Dass Russland nun die Ausfuhr von Getreide einschränken will, könnte für viele Türk*innen dramatische Folgen haben. Wegen der großen Abhängigkeit im Tourismus, bei Energie und Lebensmitteln ist es kaum verwunderlich, dass die Türkei bislang als einziges NATO-Land keine Sanktionen gegen Russland verhängt hat.

Die türkische Wirtschaft befindet sich seit Jahren in einer historisch tiefen Krise. Die türkische Lira hat in den vergangenen zwölf Monaten offiziell über 60% ihres Werts verloren. Allein seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs rutschte die Währung über 5% ab. Die Schwäche der Lira heizt auch die Inflation in der Türkei immer weiter an. Das unabhängige Institut ENAG geht sogar von 124,8% Inflation aus. Die Folgen sind dramatisch: Laut einem Bericht des türkischen Sozialministeriums sind inzwischen mehr als 11 Mio. Menschen in der Türkei auf staatliche Hilfe angewiesen, also etwa 13% der Bevölkerung.


Wird die Bevölkerung Erdogan glauben?

Die türkische Regierung versucht die Wirtschaftskrise seit vergangenem Herbst mit mehreren Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Die Notenbank setzt vor allem auf einen niedrigen Leitzins – eine Taktik, die Erdoğan immer wieder angemahnt hatte, die aber nach nahezu einhelliger Meinung von Ökonom*innen kontraproduktiv ist. Eigentlich wären höhere Zinsen für ein Gegensteuern notwendig.

Der Präsident und AKP-Führung bringen die steigende Inflation, das Handelsdefizit, die stagnierende Wirtschaft und die hohe Arbeitslosigkeit mit dem Krieg in Verbindung. Aber diese Probleme haben schon lange vor dem Krieg den Alltag geprägt. Für den Diktator und seine Regierungsparteien ist die Wirtschaftskrise zu einem ernsten Problem geworden. 2023 wird in der Türkei gewählt. Der Zustand der Wirtschaft und die Verteilungsverhältnisse dürften im Wahlkampf eine entscheidende Rolle spielen.

Die Beseitigung des Abwärtstrends der Ökonomie, vor allem die Stabilisierung des Geldwertes, war das zentrale Ziel eines neuen Programms, das der türkische Präsident im Dezember 2021 verkündete. Dieses Ziel ist haushoch verfehlt worden – nicht wegen der internationalen Umstände, sondern wegen einer Fortführung der abenteuerlichen Politik. Mit einem innovativen Versicherungsangebot hatte die türkische Regierung ihre Staatsbürger*innen Ende vergangenen Jahres dazu ermuntert, ihre US-Dollar- und Euro-Guthaben in türkische Lira umzutauschen. Dabei gab sie das Versprechen, etwaige Kursverluste der Lira auszugleichen. Faktisch ist damit die Wertentwicklung dieser mit 14% und mehr verzinsten Einlagen an den US-Dollar gekoppelt.

Als Folge des Überfalls Russlands auf die Ukraine hat sich die Währung aber wieder massiv abgewertet. Sie ist, nach dem Rubel, unter den Währungen der Schwellenländer, diejenige mit der schlechtesten Entwicklung in diesem Jahr. Die staatlichen Behörden zeigen sich nervös: Die Bankenaufsicht warnte nach einem Bericht der Finanzagentur Bloomberg Kreditinstitute davor, gegen die Lira zu spekulieren oder andere dabei zu unterstützen. Zentralbankgouverneur Şahap Kavcioğlu erklärte, die Bank beobachte die Risiken für die Leistungsbilanz, die sich aus den steigenden Energiepreisen im Zusammenhang mit Russlands Invasion der Ukraine ergäben.

Gegenüber dem Kurs bei Einführung der Währungsversicherung beträgt der Abschlag nun mehr als 12%. Aktuell müssen für den Dollar 14,84 Lira gezahlt werden, eine Lira ist aktuell nur noch 6,7 US-Dollar-Cent wert. Entsprechend hoch fällt nun der Ausgleich für die Sparer aus, die dem Ruf – und in Teilen der Wirtschaft dem Druck – der Regierung gefolgt waren. Laut Finanzmarktaufsicht halten türkische Anleger*innen umgerechnet 236 Mrd. US-Dollar auf Fremdwährungskonten. Die Zeitung Sabah zitiert das Finanzministerium mit der Aussage, in der dritten Märzwoche hätten 591 Mrd. Lira (40 Mrd. US-Dollar) auf den Konten gelegen, die bis zu zwölf Monate gegen Abwertungsrisiken geschützt sind. Es seien mehr als eine Million Konten eröffnet worden. Ein Teil der eingezahlten Gelder dürfte auch aus dem Verkauf von Gold stammen, zu dem die Regierung die Bürger*innen ermutigt hatte.

Da die Versicherung gegen den Wertverlust bis zu einem Jahr läuft, bilden die bisher bekannten Auszahlungen nur einen Teil des Risikos ab. Bezogen auf den Gesamtbestand der geschützten Konten belief er sich demnach auf bis zu 35 rd. Lira, was 2,4 Mrd. US-Dollar entspräche. Allerdings ist die Umrechnung für die Devisenposition der Türkei irrelevant, weil die Differenz in Lira ausgezahlt wird. Der Leitzins in der Türkei steht bei einer Inflationsrate von 60% immer noch bei 14% und die Notenbank macht unter dem Druck von Erdoğan keine Anstalten, ihre Politik zu ändern. Der Präsident will seinem »türkischen Wirtschaftsmodell« Exporte ankurbeln und so das traditionell hohe Leistungsbilanzdefizit der Türkei schließen und auf diese Weise den Bedarf nach Devisen senken.


Ein Strich durch Erdogans Lira-Rechnung

Der Überfall Russlands und dessen Folgen für die Weltwirtschaft haben Erdoğan einen Strich durch die Rechnung gemacht. Da die aus dem Tourismusgeschäft erhofften Deviseneinnahmen von 35 Mrd. US-Dollar kaum mehr erreichbar sind, öffnet die Türkei ihre »Devisenversicherung« nun für alle Anleger*innen aus dem Ausland, auch jene ohne türkische Staatsbürgerschaft.

Wie wichtig es für die Regierung wäre, dass die Leute ihre Devisen wieder in den Wirtschaftskreislauf einspeisen, machen die Zahlen der türkischen Bankenaufsicht deutlich. Danach sind von den insgesamt umgerechnet 349 Mrd. Euro, die von allen türkischen Banken gehalten werden, zwei Drittel Devisen.

Mittlerweile ist die Wirkung der Zentralbankintervention vom 20. Dezember 2021 schon fast wieder verpufft. Für einen Euro müssen statt 13 bereits wieder knapp 16 Lira bezahlt werden, ähnlich sieht es beim US-Dollar aus. Und die Inflation steigt weiter. Anfang Januar hatte die staatliche Statistikbehörde zugegeben, dass die Preise 2021 nicht wie von ihr lange behauptet um 20%, sondern um 36% gestiegen sind.

Zusammen mit den Steuererhöhungen, die Anfang Januar in Kraft getreten sind, sind beispielsweise die Preise für alkoholische Getränke geradezu explodiert. Eine Dose Bier kostet jetzt nicht mehr einen Euro, sondern 1,50 Euro. Keine guten Aussichten für Präsident Erdoğan und seinen Finanzminister Nureddin Nebati.

Die Regierung setzt auf Linderung der Preisgewegung. Die Mehrwertsteuer für Grundnahrungsmittel wurde gesenkt, die Progression bei den Stromkosten gestrafft. Den massiven Wohlstandsverlust kann sie aber nicht auffangen. Umso wichtiger ist für die Regierung die andere Säule ihrer Popularität: der ideologische Rückhalt in den konservativen Landesteilen.

Ende letzten Jahres hielt der Oppositionsführer, Kemal Kilicdaroglu, von der Republikanischen Volkspartei (CHP) im Parlament eine weithin beachtete Rede, in der er um Vergebung für früheres Unrecht bat. Eine säkulare Gegenrevolution, so die Botschaft, werde es nach einem Machtwechsel nicht geben. Dennoch ist das Misstrauen groß. Über die Frage, mit welchem Spitzenkandidaten die vereinte Opposition am meisten Wechselwähler*innen gewinnen kann, wird seit Wochen hitzig debattiert.

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