2. Juli 2020 Joachim Bischoff/Norbert Weber: Weiterungen des Wirecard-Skandals

Komplettes Kontroll-Versagen

Der bislang DAX-gelistete Finanzdienstleister Wirecard hat die vorläufige Insolvenz beantragt. Über Jahre wurden in der Bilanz Einlagen über 1,9 Mrd. Euro ausgewiesen, die nicht auffindbar sind und vermutlich seit Jahren auf Luftbuchungen beruhen. Es gibt sie schlichtweg nicht.

Da diese ca. 25% der Bilanzsumme ausmachen, musste der Betrug über Jahre aufrechterhalten werden. Seit der großen Finanz-und Wirtschaftskrise 2008 sollten die Aufsichts- und Kontrollregeln so ausgebaut sein, dass solche Fehlentwicklungen ausgeschlossen sind. Für größere Unternehmen sollten interne und externe Kontrollen sicherstellen, dass solche Entwicklungen nicht möglich sind.

Grundlage ist die unternehmensinterne Kontrolle der Geschäftsoperationen durch entsprechende Abteilungen, das Risikomanagement und die Revision. Gerade diese internen Kontrollen waren bei Wirecard unzureichend. Dies ist das Ergebnis einer Sonderprüfung, die letzten Herbst vom Wirecard-Aufsichtsrat bei den Buchprüfern von KPMG in Auftrag gegeben wurde.

Die Sonderprüfung sollte den von der »Financial Times« wiederholt gemachten Vorwürfen zu Scheingeschäften und obskuren Geschäftspartnern in Asien nachgehen. Der im April veröffentlichte KPMG-Bericht war deutlich: Es gab Defizite bei der Kooperationsbereitschaft, Wirecard habe Dokumente teilweise nicht bzw. erst mehrere Monate nach deren Anforderung geliefert.

Zudem seien einzelne vereinbarte Interviews mit wesentlichen internen Ansprechpartnern mehrfach verschoben worden. Die internen Kontrollen seien »nicht vollumfänglich ausreichend, um Höhe und Existenz der Umsatzerlöse« von 2016 bis 2018 mit Partnerfirmen sicherzustellen. Die unternehmensinternen Reaktionen blieben aus.

Auch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) musste sich mit den unklaren Strukturen auseinandersetzen. Letztlich konnte EY die Unklarheiten im Asiengeschäft nicht aufhellen und hat das Testat erteilt. Dabei hatte die Prüfung ergeben, dass die Bankbestätigungen über Guthaben bei philippinischen Banken und weitere Unterlagen gefälscht waren. Die 1,9 Mrd. Euro auf diesen Konten hat es wohl nie gegeben. Es gebe Hinweise, dass es sich um einen umfassenden Betrug handle, an dem mehrere Parteien rund um die Welt und in verschiedenen Institutionen mit gezielter Täuschungsabsicht beteiligt gewesen seien – so EY am Donnerstag.

Eine Meldung der »Financial Times« bringt allerdings den Abschlussprüfer selbst in Erklärungsnot. Demnach hat EY in den Jahren 2016 bis 2018 gar keine Originalbestätigungen von einer Bank in Singapur eingeholt, auf der angeblich eine Mrd. Euro deponiert waren. Alle diese Unklarheiten hat der Vorstand ignoriert und die externen Kontrollen durch die BaFin waren gleichfalls wenig griffig.

Die BaFin hat erst aufgrund der Hinweise Anfang 2019 einen Prüfauftrag an die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR, auch »Bilanzpolizei« genannt) gegeben. Die DPR prüft im Auftrage des Bundes seit Jahren Bilanzen, ist aber offensichtlich diesen Hinweisen nicht ausreichend nachgegangen. Mehrere Medien berichten, die DPR hätte einen einzigen Mitarbeiter für Wirecard abgestellt.

Nun will der Bund den Vertrag mit dem privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen DPR kündigen, die Restlaufzeit des Vertragsverhältnisses betrage noch 18 Monate. Damit wäre jedoch nicht das Problem gelöst. Viele Fragen bleiben:

  • Wieso fasst die BaFin nicht nach und lässt fast 18 Monate verstreichen?
  • Wer trägt die Verantwortung?
  • Wieso agiert die BaFin nicht selbst?
  • Aus welchem Grund sind die Staatsanwaltschaften auf recherchierende Journalist*innen und Hinweisgeber*innen angesetzt worden und nicht gegen die verantwortlichen Wirecard-Vorstände oder gar den Wirtschaftsprüfern von EY, die über Jahre die die Luftbilanz testiert hatten, vorgegangen?

Auch jenseits der jetzt strafrechtlichen Ermittlungen gibt es Hinweise, dass es auch die Wirecard-Manager Markus Braun und Jan Marsalek zumindest an der Affäre um mutmaßliche Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Mrd. Euro Mitverantwortung tragen. Beide wurden vom Aufsichtsrat fristlos entlassen. Üblicherweise gehen fristlosen Kündigungen Vorwürfe gravierenden Fehlverhaltens voraus.

Allerdings sind sowohl der Aufsichtsrat als auch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die die Jahresbilanzen von Wirecard testierte, selbst mit Klagen und Klagedrohungen wütender Anleger*innen konfrontiert. Unangenehmen Fragen musste sich auch Felix Hufeld, der Präsident der Bafin, im Finanzausschuss des Bundestags stellen, dort sollte er erklären, warum die mutmaßlichen Scheingeschäfte bei Wirecard unentdeckt blieben.

Bisher hat lediglich die Konzernmutter Wirecard Insolvenz angemeldet, es gibt viele Tochterunternehmen, die bisher nicht in das Insolvenzverfahren einbezogen sind. Dazu zählt auch die Wirecard-Bank. Mit einer Vollbanklizenz verwaltet sie nahezu zwei Mrd. Euro an Kundeneinlagen, die über viele Kreditkartenanbieter gestreut sind. Vermutlich ist vielen Kund*innen gar nicht klar, dass auch sie möglicherweise Verluste hinnehmen müssen. Dummerweise sind hauptsächlich Debit-Karten-Anbieter betroffen, also Kreditkarten auf Guthabenbasis, aber auch große Unternehmen wie z.B. Aldi, das seit einigen Monaten den gesamten Visa- und Mastercard-Zahlungsverkehr über die Wirecard-Bank abwickelt.

Irritierend ist auch, dass ausgerechnet die bundeseigene KfW-Bank zu den Gläubigern Wirecards mit einer Forderung über 100 Mio. Euro gehört. Diese Linie sei vollständig gezogen worden, Sicherheiten brauchten nicht gestellt zu werden. Warum haben die Banker nicht die Zahlen ausreichend geprüft?

Wer als kleines Unternehmen oder als Selbstständiger schon mal einen kleineren Kredit beantragt hat, weiß, wie weit »er die Hosen runterlassen musste«. Da wird alles doppelt und dreifach geprüft. Aber die alte Weisheit gilt nach wie vor: Es ist deutlich einfacher, 10 Mio. Euro als 10.0000 Euro von Banken zu bekommen, da halten die Teppichetagen-Banker sogar noch die Tür auf. Der mögliche Totalverlust des KfW-Linien-Kredites würde übrigens komplett zu Lasten des Steuerzahlers gehen – eine wirklich reife Leistung!


Wie wird es weitergehen?

Der vorläufige Wirecard-Insolvenzverwalten Michael Jaffé hat Erfahrung mit großen Firmenpleiten – in der Vergangenheit unter anderem mit dem Kirch-Medienkonzern. Einer eigenständigen Abspaltung von Wirecard-Tochterfirmen will Jaffé vorbeugen: »Dazu soll ein von der Muttergesellschaft konzertierter, strukturierter Transaktionsprozess unter Einschaltung auf verschiedene Bereiche spezialisierter Investmentbanken durchgeführt werden.« Die US-Tochter Wirecard North America – eine Gesellschaft, die ehedem der US-Großbank Citibank gehörte und erst 2016 von Wirecard übernommen worden war – hatte sich am Dienstag selbst zum Verkauf gestellt und ihre Autonomie betont.

Der Aktienkurs der Wirecard schlägt derzeit Kapriolen. Nachdem der neue Vorstand erklärte, die Geschäfte würden weitergehen, verdoppelte sich sofort der Aktienkurs. Die Wirecard-Aktie ist zu einem absoluten Zockerpapier verkommen.

Auch die Wirecard-Bank wird vermutlich nicht ungeschoren davonkommen, Medienberichten zufolge wird die BaFin kurzfristig ein »Moratorium« eröffnen. Eine denkbare Folge wäre der Eintritt der Einlagensicherung der Privatbanken, die die Wirecard-Bank ebenfalls in die Insolvenz schicken könnten. Abgesichert wären jedoch zumindest teilweise Einlagen von Kund*innen.

Nach den Erfahrungen seit der großen Finanz- und Wirtschaftskrise muss man skeptisch bleiben, ob das neue Riesendesaster zum Anlass genommen wird, die Organisation der externen Kontrollorgane auf den Prüfstand zu stellen und mit einem generellen Umbau für die unverzichtbare Professionalität zu sorgen.

Auf der letzten Sitzung des Verwaltungsrats der Finanzaufsicht verteidigte sich BaFin-Chef Felix Hufeld, die BaFin hätte gar nicht selbst eingreifen dürfen und sich auf die DPR verlassen müssen. In der vergangenen Woche klang das noch ganz anders, da hatte er erklärt: »Wir sind nicht effektiv genug gewesen, um zu verhindern, dass so etwas passiert.«

Nun erläutert er, dass es an der Europäischen Zentralbank gelegen habe, die Wirecard nicht als Finanz-Holding eingestufte. Nur bei einer solchen Einstufung hätte die BaFin selbst eingreifen und sonderprüfen dürfen. Hufeld kämpft um seinen Job, es werden bereits Rufe nach einem Rücktritt laut.

Es ist vieles völlig ungeklärt. Jan Pieter Krahnen, Professor für Kreditwirtschaft und Finanzierung an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Center for Financial Studies sowie des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung SAFE, beschreibt es so: »Wir in Deutschland lieben Selbstregulierung. Aber das funktioniert nur bei schönem Wetter. Kapitalmarktüberwachung genießt in Deutschland eine niedrigere Priorität.«

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