15. Januar 2020 Joachim Bischoff: Die deutsche Wirtschaft wächst kaum noch

Konjunkturflaute und Überschuss im Staatshaushalt

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Die deutsche Wirtschaft hat wie erwartet im abgelaufenen Jahr 2019 weiterhin nur ein minimales Wachstum realisiert. Im Gleichklang mit der abgeschwächten Weltkonjunktur hat das Bruttoinlandsprodukt (BIP) laut Angaben des Statistischen Bundesamts nur noch um 0,6% zugelegt.

Die herrschende Allianz aus ökonomischer Wissenschaft und Politik verweist auf die üblichen Faktoren: Handelskonflikte, kriselnde Autobranche, Brexit-Chaos – wegen dieser Faktoren sei die deutsche Wirtschaft so langsam gewachsen wie seit sechs Jahren nicht mehr. 2018 hatte es noch zu 1,5% gereicht, 2017 sogar zu 2,5%.

Solche Wachstumszahlen gehören Experten zufolge vorerst der Vergangenheit an, auch wenn die zwischenzeitlich drohende Rezession ausblieb. 2019 war jedoch das zehnte Wachstumsjahr in Folge seit 2010; 2009 steckte Europas größte Volkswirtschaft wie die gesamte kapitalistische Welt in einer tiefen Rezession infolge der globalen Finanzkrise.

Gestützt wurde die Konjunktur im vergangenen Jahr abermals von den kauffreudigen Verbrauchern. Die privaten Konsumausgaben legten mit 1,6% spürbar stärker zu als in den beiden Vorjahren. Dass Deutschland »mit einem blauen Auge« davongekommen ist – so die Einschätzung der Liechtensteiner VP Bank – liegt vor allem im privaten Konsum begründet. Dieser wird seit längerem von relativ guten Tarifabschlüssen, niedriger Inflation, geringen Zinsen und einer hohen Beschäftigung getragen.

Der private Konsum steht für mehr als 52% der Wirtschaftsleistung von gut 3,4 Billionen Euro. Die Konsumneigung dürfte nach Einschätzung von Experten der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) auch im Jahr 2020 hoch bleiben. Hinzu kam der anhaltende Bauboom. Auch die Konsumausgaben des Staates, zu denen unter anderem soziale Sachleistungen und Gehälter der Mitarbeiter zählen, legten zu –mit 2,5% (Vorjahr 1,4%) sogar sehr kräftig.

Besonders die exportorientierte deutsche Industrie hat indes ein hartes Jahr hinter sich. Die Handelsstreitigkeiten und das Drama um den Brexit verunsicherten Kunden und bremsten Investitionen. Deutsche Schlüsselbranchen wie der Auto- und Maschinenbau sowie die Elektro- und Chemieindustrie bekamen das deutlich zu spüren. Die Industrie rutschte im Jahresverlauf in eine handfeste Rezession. Der Außenhandel fiel unter anderem deswegen als Wachstumstreiber aus. Nach vorläufigen Berechnungen legten die Importe mit 1,9% stärker zu als die Ausfuhren mit lediglich 0,9%.

Schaut man sich die schwächelnde Wachstumsdynamik genauer an, dann fällt auf: Während es im Dienstleistungssektor gut läuft, steckt die Industrie in einer Rezession. Und diese Entwicklung in Deutschland gilt auch für EU insgesamt.

Industrieproduktion in Europa

In der deutschen Industrieproduktion zeigt der Trend in den letzten Quartalen abwärts, was allerdings keine Besonderheit darstellt. Angeführt von den USA haben die hochentwickelten kapitalistischen Länder in den zurückliegenden Jahren eine ungewöhnlich lange Zyklusphase von ca. 10 Jahren durchlaufen. Doch der Motor, der die Weltwirtschaft ankurbelt, läuft lediglich auf einem Zylinder, dem privaten Konsum. Die Investitionen der Unternehmen hingegen, die für die Kapitalbildung und das Produktivitätswachstum entscheidend sind, kommen nicht in Schwung.

Zahlen zum Bruttoinlandprodukt und zur Industrieproduktion in vielen Ländern, zum Beispiel den Vereinigten Staaten, China und Deutschland, weisen eine Diskrepanz aus: Bei schwachen gesamtgesellschaftlichen Zuwachsraten fällt die Industrieproduktion zurück. Im Euroraum sank die Produktion sowohl von Vorleistungsgütern als auch von Investitionsgütern im Oktober 2019 gegenüber Oktober 2018 um 3,6% und von Energie um 2,5%, während die Produktion von Gebrauchsgütern um 0,9% und von Verbrauchsgütern um 2,7% zunahm. In der EU28 sank die Produktion von Vorleistungsgütern um 3,0%, von Investitionsgütern um 2,8% und von Energie um 2,6%, während die Produktion von Gebrauchsgütern um 1,7% und von Verbrauchsgütern um 2,7% zunahm.

Das Schwächeln der Industrieproduktion führt dazu, dass der Welthandel in den vergangenen Monaten an Schwung verloren hat, und auch die Rohstoffpreise sind als ein weiteres Zeichen für eine schwächere Konjunktur gefallen. In der Konsequenz dieser Investitionsschwäche bleibt es bei einem Investitionsrückstau und einer tendenziellen Stagnation des Industrieanteils.

Der Investitionsstau macht sich deutlich bemerkbar. Seit vielen Jahren sind die Unternehmen extrem zurückhaltend, was Ausgaben für neue Anlagen und Maschinen, aber auch den Ersatz von veraltetem Material betrifft. Es ist zu erwarten, dass sich die schwache wirtschaftliche Dynamik mindestens bis in das kommende Jahr hinzieht und das Wachstum auch im Jahr 2021 schwach bleiben wird.

Der entscheidende Grund dafür ist also eine länderübergreifende Schwäche der Industrie. Sie dürfte zum Teil auf einen zyklischen Abschwung zurückzuführen sein, der mit dem Rückgang der Investitionen der Unternehmen einhergeht. Für die weitere Entwicklung ist entscheidend, inwiefern der bislang noch solide Arbeitsmarkt und die Binnennachfrage von dieser Entwicklung erfasst werden.

»Die Konjunktur wird sich auch 2020 seitwärts bewegen«, in dieses Bild kleidet der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben, seine Prognose. Belastungsfaktoren wie die schwache Weltkonjunktur dürften nicht so schnell verschwinden. Die OECD-Ökonomin Nicola Brandt sieht »die große Frage: Wie lange trägt die Binnenwirtschaft noch?« und knüpft daran die These: »Wenn es nicht gelingt, die Unsicherheiten zu beseitigen, kann das auf die Binnenkonjunktur überschwappen.« Ihre Organisation rechnet mit einer Dauer-Flaute: Für 2020 erwartet die OECD ein Konjunkturplus von 0,8%, für 2021 von 0,9%. Der Chefvolkswirt des Bankhaus Lampe, Alexander Krüger, spitzt zu: »Hält der Reformschlaf der Bundesregierung an, bleibt die Wachstumsrate niedrig.«

Die Wirtschaftsleistung der Industrie, die gut ein Viertel der Gesamtwirtschaft ausmacht, brach ohne den Bau um 3,6% ein. Insbesondere die schwache Produktion in der Automobilindustrie, die der größte Teilbereich der Industrie ist, trug zu diesem Rückgang bei, bilanzierte Albert Braakmann vom Statistischen Bundesamt. Nach Schätzung des Münchner Ifo-Instituts »dürfte allein der Produktionseinbruch in der Automobilindustrie das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im vergangenen Jahr um 0,75 Prozentpunkte gedämpft haben«. Aber auch andere Schlüsselbranchen wie der Maschinenbau und die Elektro- und Chemieindustrie haben derzeit zu kämpfen.

Ein Faktor sind die Ausfuhren der Exportnation Deutschland, die zurückgegangene Nachfrage nach »Made in Germany« ist eine Folge globaler Krisen und der Handelskonflikte, die derzeit die gesamte Weltkonjunktur bremsen. Unter dem Strich bremste der Außenhandel das Wirtschaftswachstum.

Von der immer noch wachsenden Wirtschaft und den anhaltend niedrigen Zinsen profitiert der Fiskus, wenn auch nicht mehr so stark wie noch 2018. Der deutsche Staat konnte nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts 2019 zum sechsten Mal in Folge mehr Geld einnehmen als ausgeben. Der Überschuss von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialkassen betrug 1,5% des BIP, nach 1,9% im Vorjahr – er belief sich auf insgesamt 49,8 Milliarden Euro. Ein Defizit hatte Deutschland zuletzt 2011 verbucht; danach gab es zwei Jahre mit einer ausgeglichenen Bilanz.

In der Politik wird darüber gestritten, ob der überraschende Geldsegen für mehr Investitionen in Schulen, Kitas, Straßen und Digitalisierung, für Steuererleichterungen wie die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags oder für die Unterstützung von überschuldeten Kommunen genutzt werden soll. Selbst Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer appellierte an den Staat, er solle die hohen Überschüsse »in die darbende Infrastruktur stecken, wenn er schon nicht die Steuern senken will« und fügte nicht ganz uneigennützig hinzu: » Damit könnte sie die Qualität des Produktionsstandorts Deutschland mittelfristig verbessern und in einer schwierigen konjunkturellen Situation Vertrauen bei den Unternehmen schaffen.«

Die Politik hätte also die Mittel, um neue Impulse zu setzen, auch wenn im achten Jahr in Folge das Plus unter dem Rekordüberschuss von gut 62 Milliarden Euro aus dem Jahr 2018 blieb. Deutschland ist mit dem Überschuss weit entfernt von der Defizit-Grenze des Maastricht-Vertrages, in dem sich die Europäer ein Haushaltsdefizit von 3,0% der Wirtschaftsleistung erlauben. Gestützt von niedrigen Zinsen hatte allein der Bund im vergangenen Jahr trotz der schwachen Konjunktur einen Rekordüberschuss von 13,5 Milliarden Euro erzielt. Dazu kommen 5,5 Milliarden, die anders als geplant nun doch nicht aus einer Rücklage entnommen wurden. Zum dritten Mal seit 2015 weist der Bund damit ein Haushaltsjahr mit zweistelligem Überschuss aus. Der bisherige Rekord lag 2015 bei 12,1 Milliarden.

Angesichts der Überschüsse des öffentlichen Sektors ist nicht nachvollziehbar, warum die Chance zu einer öffentlichen Investitionsinitiative nicht genutzt wird. Der Übergang in einen neuen Wachstumszyklus ist angesichts des überalterten privatkapitalistischen und öffentlichen Kapitalstocks irritierend. Die Weltwirtschaft wächst seit einiger Zeit deutlich langsamer als früher, nicht nur der Euroraum, auch Amerika, Japan und China sind davon betroffen. Die wirtschaftliche Dynamik bleibt hinter den Erwartungen zurück, und die Unternehmen scheuen Investitionen.

Diese Problemkonstellation – einerseits Übergang in einen neuen Akkumulationszyklus, andererseits tendenzielle Investitions- und Akkumulationsschwäche – wird verschärft durch die Disruption bei den gesellschaftlichen Produktivkräften (fossile Energie, Digitalisierung) sowie die Zerstörung des Stoffwechsels zwischen Natur und kapitalistischen Gesellschaften (Klimawandel), beides kann jedoch nur durch eine massive Investitionsoffensive überwunden werden.[1]

Die bürgerliche Gesellschaft hat die historische Funktion, die gesellschaftliche Arbeit in Verbindung mit der Verwissenschaftlichung zu entwickeln und auf diese Weise die Produktivkräfte beständig zu entfesseln. Dieser Vorgang ist keine punktuelle Umwälzung, sondern ein Prozess, der sich durch die ganze kapitalistische Epoche hindurchzieht. Zugleich ist diese Entfaltung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit kein Fortschrittsautomatismus, sondern, wie schon Karl Polanyi nachwies, auch einer großen Transformation ausgesetzt.[2]

In der aktuellen Situation ist die Frage aufgeworfen, ob der Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen, überhaupt noch für eine beständige Umwälzung der Produktivkräfte steht. Das haben selbst kluge ideologische Repräsentanten der herrschenden Wirtschaftsweise erkannt und plädieren für eine andere Therapie: mit höheren Staatsausgaben (für investive Zwecke) und/oder Steuersenkungen gegen den chronischen Nachfragemangel und die stagnative Produktivkraftentwicklung.

Dieses komplexe Problem umreißt etwa der Chefkommentator der »Financial Times«, Martin Wolf: »Wir brauchen eine dynamische kapitalistische Wirtschaft, die jedem den berechtigten Glauben gibt, an den Vorteilen teilhaben zu können. Stattdessen scheinen wir zunehmend einen instabilen Rentierkapitalismus, einen geschwächten Wettbewerb, ein schwaches Produktivitätswachstum, eine hohe Ungleichheit und nicht zufällig eine zunehmend deformierte Demokratie zu haben. Dies zu beheben, ist eine Herausforderung für uns alle, insbesondere aber für diejenigen, die die wichtigsten Geschäfte der Welt führen. Die Funktionsweise unserer wirtschaftlichen und politischen Systeme muss sich ändern, sonst gehen sie zugrunde.«[3]

Anmerkungen

[1] Siehe hierzu Redaktion Sozialismus, Green New Deal und System Change, in: Sozialismus,de, Heft 9-2019, S. 2ff.
[2] Siehe hierzu ausführlicher: Joachim Bischoff/Christoph Lieber, Die »große Transformation« des 21. Jahrhunderts. Politische Ökonomie des Überflusses vs. Marktversagen. Eine Flugschrift, VSA: Verlag Hamburg 2013.
[3] Martin Wolf, Why rentier capitalism is damaging liberal democracy. Economies are not delivering for most citizens because of weak competition, feeble productivity growth and tax loopholes, in: Financial Times vom 18.9.2019

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