1. Dezember 2016 Hinrich Kuhls: Haushaltsdebatte nach der Brexit-Entscheidung

Konservative Industriepolitik?

In der letzten Novemberwoche stand im britischen Unterhaus die Haushaltsdebatte auf der Tagesordnung, in der Schatzkanzler Philip Hammond in einem »Autumn Statement« die haushaltspolitischen Eckpunkte der Regierung May für das nächste Jahr und die laufende Legislaturperiode des britischen Parlaments bis 2020 bekannt gegeben hat.

Nach der Brexit-Entscheidung im Juni war jetzt von der konservativen Regierung Aufschluss darüber erwartet worden, wie sie in den nächsten beiden Jahren versuchen will, der zunehmenden Unsicherheit in Wirtschaft und Gesellschaft entgegenzusteuern. Premierministerin Theresa May hatte einen harten Brexit angekündigt, aber bisher offen gelassen, wie die zugleich angedeuteten industrie- und sozialpolitischen Korrekturen innerhalb der Austeritätspolitik fiskal- und wirtschaftspolitisch flankiert werden sollen.

Die juristische Auseinandersetzung über die Frage, ob die Regierung allein oder erst nach Zustimmung des Parlaments den Austrittsantrag nach Artikel 50 des EU-Vertrags auf den Weg nach Brüssel bringen kann, hat May bisher gelassen hingenommen. Selbst wenn Mitte Dezember höchstgerichtlich dem Parlament ein Mitspracherecht zugesprochen werden sollte, geht sie davon aus, dass sie bis spätestens Ende März nächsten Jahres das Austrittsschreiben absenden kann – also rechtzeitig genug, um vor den für Anfang Mai anberaumten Kommunalwahlen in den großen Stadtregionen in England (ausgenommen London) vermelden zu können, dass der entscheidende Schritt zum Vollzug des Brexit-Volksentscheids gemacht worden sei.

Die Akzentverlagerung konservativer Wirtschaftspolitik, die Zuweisung der »neuen Rolle der Wirtschaft in einem gerechten Britannien«, fasste May vor der Haushaltsdebatte in einem Artikel in der Financial Times (21.11.16) zusammen. »Durch uns könnte die Welt verstehen lernen, warum und in welchem Ausmaß Menschen, vor allem jene, die mit mittleren und niedrigen Einkommen in reichen Ländern wie unserem leben, sich von den Kräften des Kapitalismus im Stich gelassen fühlen. Mit unserem neuen Ansatz stellen wir sicher, dass alle an den Vorteilen des Wirtschaftswachstums teil haben werden. Diese neue Richtung wird der Schatzkanzler in seiner Herbstbudgetrede vortragen.

Diese Regierung wird weiterhin an der Aufgabe festhalten, das Defizit zu verringern und die Schulden zu senken, so dass wir nicht über unsere Mittel leben. Zugleich werden wir mehr tun, um langfristig Britanniens wirtschaftlichen Erfolg zu steigern. Wir werden Reformen vorschlagen, um die geringe Produktivität anzupacken, und – was entscheidend ist – gezielte Hilfen für normale im Arbeitsleben stehende Familien zur Verfügung stellen, die kaum über die Runden kommen. Wir sind eine Regierung, die nicht davor zurückscheut sicherzustellen, dass die Vorteile des Wirtschaftswachstums von allen geteilt werden.

Wir werden zeigen, dass der Kapitalismus und die freien Märkte nach wie vor der beste Weg sind, Wohlstand zu schaffen, Glück zu verbreiten und den Menschen die Chance auf ein besseres Leben zu geben. Aber wenn wir an den Kapitalismus, die freien Märkte und den freien Handel glauben, dann müssen wir uns anpassen.«

Ein Schlüssel dieser Anpassungspolitik soll eine neue Industriepolitik sein, für deren Unterstützung May bei der Jahrestagung des Verbands der britischen Industrie warb. Sie versucht, die britischen Unternehmer für einen Pakt zur Verbesserung der Produktivität zu gewinnen. Die britische verarbeitende Industrie trägt etwa 10% zum Bruttoinlandsprodukt bei, so wenig wie in keinem anderen G7-Land. Durch eine jahrzehntelange De-Industrialisierungspolitik zugunsten der Stärkung der Finanzmärkte und durch ausbleibende Investitionen in die Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur sind weite Landstriche in Industriebrachen verwandelt worden. Eine offensive Industriepolitik samt einer Wohnungsbauoffensive müsste in eine Gesamtkonzeption regionaler Strukturpolitik eingebettet sein.

Mit den bisher bekannt gewordenen Großprojekten, die von der Regierung May beschlossen oder favorisiert werden, wird jedoch die Leuchtturmpolitik fortgesetzt. Hier ein neues Atomkraftwerk, dort der milliardenschwere Ausbau des Londoner Zentralflughafens Heathrow; hier ein neues Hochgeschwindigkeits-Bahnprojekt und der »weltlängste« Autobahntunnel statt Instandsetzung der vorhandenen Verkehrsnetze, dort die Erneuerung des Atomwaffenträgersystems mit geschätzten Gesamtkosten von mehr als 100 Mrd. £.

Konkret angeboten worden ist der britischen Industrie, dass in dieser Legislaturperiode die Ausgaben für Forschung und Entwicklung jährlich aufgestockt werden, so dass im Haushaltsjahr 2020 zusätzlich zwei Mrd. £ zur Verfügung stehen im Rahmen »eines Industrial Strategy Challenge Fonds zur Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung und Entwicklung von Technologien wie Robotik, künstlicher Intelligenz und industrieller Biotechnologie sowie eine Überprüfung der bisherigen steuerlichen Begünstigung bei der Förderung und Unterstützung von Innovationen«.

Der Aufstockung dieses Etats steht allerdings ein Betrag in gleicher Höhe gegenüber, der mit dem Austritt aus der EU ab 2019 nicht mehr aus dem EU-Haushalt ins Vereinigte Königreich für Forschung und Entwicklung in Wissenschaft und Industrie überwiesen wird. Es verwundert daher nicht, dass Mays Lockrufe zu einem industriepolitischen Pakt bei den britischen Industriellen wenig Gehör gefunden haben, zumal May sich den Forderungen des CBI nach einer Brexit-Übergangsregelung, einem »sanften Brexit«, unzugänglich zeigte.

Wie ordnet sich nun die industriepolitische Neuausrichtung in den Gesamtrahmen der im Herbstbudget umrissenen Haushalts- und Wirtschaftspolitik ein? Der harte Brexit wird das Wirtschaftswachstum massiv beeinträchtigen. Neben niedrigeren Einkommen der privaten Haushalte wird ein reduziertes Steueraufkommen von 100 bis 120 Mrd. £ prognostiziert.

Diese enorme Belastung von Unternehmen, Privathaushalten und Staat wird in dem Herbstbudget, in dem traditionell nicht die Einnahmeseite, sondern die Ausgabenseite fokussiert wird, nicht adressiert. Die Ausführungen des Schatzkanzlers liefen darauf hinaus, dass die zunehmende Unsicherheit wegen der weitgehend unklaren Ausgestaltung des Austritts aus der EU in den nächsten beiden Jahren beherrschbar und die zunehmende Verunsicherung der Eliten unbegründet sei, da die Korrekturen an der bisherigen Austeritätspolitik den Konsens einer neoliberal geprägten Fiskalpolitik nicht tangieren werden.

So schlug die Spannung, mit der die Herbstbudgetrede erwartet worden war, in »Langeweile« (NZZ 24.11.16) um. Die wirtschaftlichen Rahmendaten für die nächsten beiden Jahre wurden gesenkt, für 2017 wird nur noch ein Wirtschaftswachstum von 1,4% statt bisher 2,2% prognostiziert. Am Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts hält der Schatzkanzler fest, doch den bisher fixierten Termin 2020 verschiebt er auf ein unbestimmtes Datum, nachdem das jährliche Staatsdefizit in Höhe von 10% des BIP 2010 bis 2015 auf 4% reduziert worden war.

Die gesetzlich vorgeschriebene Erhöhung des Mindestlohns wird dem Umfang nach mehr als moderat festgesetzt, eine Aufstockung um 30 Pence auf 7,50 £ (8,75 Euro). Die bisher vorgesehenen Kürzungen des Sozialgelds (Universal Credit) werden leicht gekappt, die Mineralölsteuer (fuel duty) wird nicht erhöht. Die Ausnahmeausfälle sollen ausgeglichen werden durch eine höhere Besteuerung von geldwerten Einkommensbestandteilen, die bisher nicht dem vollen Einkommenssteuersatz unterlagen, was hauptsächlich die mittleren Nettoeinkommen schmälert. Darin erschöpft sich Mays Vorgabe, Familien, die gerade so über die Runden kommen (just about managing families), besser zu stellen.

An den Kürzungen der Zuweisungen an die kommunalen Gebietskörperschaften um 56% (von 2015 auf 2020) wird festgehalten, die Mittel für den nationalen Gesundheitsdienst werden nicht aufgestockt, die finanzielle Ausstattung des Bildungswesen stand nicht zur Diskussion, sodass für alle Sozialleistungen und für die gesamte Infrastruktur des maroden Gesundheits-, Pflege- und Bildungssystems an der bisherigen Austeritätspolitik festgehalten wird. Für das staatliche Rentensystem sind mit dem Jahr des EU-Austritts Einschränkungen angekündigt.

Für die Errichtung von 40.000 Wohnungen wird ein Bauprogramm in Höhe von 1,6 Mrd. £ aufgelegt. Dieser Betrag wird wie die Technologieförderung von jährlich bis zu zwei Mrd. £ in den Industrial Strategy Challenge Fonds (Nationaler Produktivitätsinvestitionsfonds) eingebracht, der für die nächsten fünf Jahre mit 23 Mrd. £ (jährlich 4,6 Mrd. £ bei einem Gesamtetat von 772 Mrd. £ in 2016) ausgestattet werden soll, die außer für Forschung und Entwicklung sowie Hausbau für Straßenbau und  Telekommunikation eingesetzt werden sollen.

Dem größten britischen Automobilhersteller Nissan hatte May im Oktober zugesagt, dass dieser Branche durch den Brexit keine Standortnachteile entstehen oder gegebenenfalls ausgeglichen werden. Da werden Zahlungen aus dem Investitionsfonds nicht ausreichen. Die angekündigte Reduktion der Unternehmenssteuer von jetzt 20% auf 17% mit dem Ausblick auf weitere Reduzierungen ist da schon eher geeignet, die Zusage einzulösen.

Steuerliche Regelungen für die Finanzmärkte wurden nicht thematisiert. Mit der faktischen Abkehr von der Schuldenbremse verschaffte sich Schatzkanzler Hammond vor allem eine gewisse Flexibilität für die Kreditfinanzierung der zusätzlichen Belastungen des Staatshaushalts für die Zeit der Brexit-Verhandlungen und des tatsächlichen Austrittsvollzugs.

Allein der Ausblick auf die Senkung der Gewinnsteuern hat auf dem internationalen Parkett einige Wellen geschlagen. Der angekündigte britische Sprung auf den Zug des nationalen Steuerwettbewerbs war für den deutschen Finanzminister Anlass genug daran zu erinnern, dass die britische Regierung trotz des EU-Austritts an die G20-Vereinbarung zur Unterbindung weiterer Steuerwettbewerbe gebunden sei – zumindest moralisch, womit schon ein Thema des Hamburger G20-Finanzministertreffens im März feststehen dürfte.

May hatte in ihren Parteitagsreden Anfang Oktober angekündigt, auf die »stille Revolution«, die sich im Brexit-Votum politisch Bahn gebrochen hat, mit einer abrupten Kurskorrektur der konservativen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik zu antworten. In der Fiskalpolitik, so wie sie jetzt im Herbstbudget für die Zeit der Austrittsverhandlungen offen gelegt worden ist, ist die neue konservative Programmatik nicht abgebildet.

Das Koordinatenkreuz der britischen Regierung bilden

  • die Forcierung des Freihandels für Waren, Dienstleistungen und Kapital bei gleichzeitiger protektionistischer Regulierung der Arbeitsmärkte;
  • die Propagierung geringerer Einschnitte in der Sozial- und Bildungspolitik, ohne dass die mittelfristige Haushaltspolitik angepasst wird;
  • den Eintritt in den nationalen Steuerwettbewerb;
  • die Fortsetzung der Laisser-faire-Politik für die Finanzmärkte und die Perspektive einer Förderung industrieller Innovation und Investition bei Aufgabe der bisherigen Ansätze einer regionalen Strukturpolitik.

Der Ausblick auf staatliche Interventionen im Rahmen einer neuen konservativen Industriepolitik öffnet eine Perspektive, die den politischen Handlungsraum für Reformalternativen von links erweitert. Ob der industriepolitische Impuls der britischen Konservativen sich in einer Reduktion der Unternehmenssteuern und branchenbezogener Subventionen erschöpft, oder Elemente einer abgestimmten regionalen Strukturpolitik aufgreift, ist unentschieden.

Die oppositionelle Labour-Party hat in ihrer Reaktion auf das Herbstbudget die Halbherzigkeit der Industriepolitik hervorgehoben. Jeremy Corbyn stellte in seiner Rede auf der CBI-Jahrestagung als Antwort auf Mays Grundsatzrede der unzureichenden, »schlechten Interventionspolitik« der konservativen Regierung die Elemente einer auf »das Gemeinwohl gerichteten Interventionspolitik« vor, in der staatlichen Investitionsprogrammen erste Priorität eingeräumt werden. Als Finanzierungszentrum für die Erneuerung und Transformation der britischen Ökonomie schlägt Labour eine Nationale Investitionsbank  vor. Die Konkretisierung des Investitionsprogramms im Volumen von 500 Mrd. £ erfolgt derzeit im Diskussionsprozess zur Erstellung des Berichts zu »Labour’s Industrial Strategy«.

Die Durchsetzung einer Industriepolitik im Rahmen einer Anti-Austeritätspolitik und eines öffentlichen Infrastruktur- und Investitionsprogramms im Verbund mit einer inklusiven Sozial- und Bildungspolitik sowie einer regionalen Strukturpolitik ist ein Schlüssel für eine progressive Wende in Wirtschaft und Gesellschaft. Gleich ob in einem Post-Brexit-Britannien außerhalb der EU oder in der Europäischen Union mit den ökonomischen Ungleichgewichten zwischen den Mitgliedsstaaten – die Konkretisierung von Investitionsprogrammen und einer progressiven Industriepolitik ist eine Kernaufgabe der politischen Linken.

Die Frage, ob der Rechtspopulismus dem konservativ-bürgerlichen Lager eine Politik zur Ausweitung der industriellen Basis aufzwingen kann oder womöglich in die Lage versetzt wird, das Heft selbst in die Hand zu nehmen, ist offen. Dass die Vorteile einer erweiterten Basis der materiellen Reproduktion unter einer konservativen oder rechtspopulistischen Vorherrschaft, die mit nationaler Abschottung, ethnischer und rassischer Diskriminierung und einem nationalen Steuerwettbewerb verbunden ist, allen Klassen, sozialen Schichten und Einkommensgruppen zu Gute kommen werden, ist hingegen wenig wahrscheinlich.

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