2. Juni 2023 Phil Burton-Cartledge: »Reevenomics« als später Nachhall von New Labour

Konturen der Wirtschaftspolitik einer Labour-Regierung

Raches Reeves (Foto: Labour Party)

Rachel Reeves ist seit Mai 2021 finanz- und wirtschaftspolitische Sprecherin im Fraktionsvorstand der Labour Party im Unterhaus des britischen Parlaments in London. Als designierte Schatzkanzlerin einer Labour-Regierung umriss sie jetzt in Washington Konturen ihrer Wirtschaftspolitik.

Reeves war in die Schlagzeilen geraten, weil sie auf dem Flug nach New York demonstrativ ihr First-Class-Ticket zur Schau gestellt hatte. Der Grund ihrer Reise war jedoch von größerer politischer Bedeutung. In einer Rede vor dem Peterson Institute in Washington erläuterte Reeves, wie die Wirtschaft unter einer neuen Labour-Regierung aussehen würde.[1]

Ähnlich wie jüngst bei der Rede des Labour-Vorsitzenden Keir Starmer über die Perspektiven des nationalen Gesundheitssystems NHS ging es auch hier eher darum, die künftige Politik nur vage zu skizzieren, als konkrete Versprechungen zu machen. Dieser Ansatz wird sich bei der sozialen Sicherheit, der Bildung und den anderen »Missionen« Starmers wiederholen, bevor vor den nächsten Parlamentswahlen handfestere Versprechungen gemacht werden.

Was hatte Reeves zu sagen? In ihrer Rede, die in ihrer von Labour Together (dem Think Tank der Labour-Mehrheitsströmung) herausgegebenen Broschüre weiter ausgeführt wird,[2] nennt sie ihren Ansatz »Securonomics« – Sicherheitsökonomie. Dieser basiert auf zwei Säulen: einer Rückbesinnung auf den Nationalstaat als Zentrum der Wirtschaftspolitik und einer Abkehr von der deregulierten Phase der Globalisierung hin zu einer stärker staatlich gelenkten Phase, die auf multilateralen Abkommen und insbesondere auf Konvergenz und verstärkter Kooperation zwischen liberal-demokratischen Staaten beruht.

Sie lobt die Wirtschaftspolitik von Joe Biden und stellt mit Genugtuung fest, dass die Vereinigten Staaten »ein aktiverer Staat geworden sind, der eine moderne Industriestrategie verfolgt, die Bereiche auswählt, in denen Amerika seine Fähigkeit sicherstellen muss, das zu produzieren, was Amerika braucht«. Die Biden-Administration »arbeitet in Partnerschaft mit einem dynamischen, offenen Markt, in dem der Staat das tut, was eine Regierung am besten kann. Er schafft und gestaltet Märkte, die für die Widerstandsfähigkeit und den künftigen Wohlstand Amerikas unerlässlich sind. In der Zwischenzeit macht der freie Markt das, was nur er tun kann – Innovation, Wettbewerb und Schaffung von Wohlstand.«

Übersetzt man dies auf das Vereinigte Königreich, bedeutet das: »Gute Arbeitsplätze, anständige Löhne, starke öffentliche Dienstleistungen und ein Ende des unaufhaltsamen Anstiegs der Lebenshaltungskosten.« Nun gut, aber worin unterscheidet sich das von den Tories? Sind die auf den ersten Blick nicht auch für diese Dinge?

Reeves’ Wirtschaftsmodell, so ihre Argumentation, mache vor allem deshalb einen Unterschied, weil es dort ansetze, wo Britannien heute stehe und wo seine Stärken lägen. Das Modell sei weder das von den Tories geliebte Modell eines Singapur an der Themse noch das Modell Deutschland, das der von 2010 bis 2016 amtierende Tory-Schatzkanzler George Osborne so verlockend fand. Ihr Modell heißt Britannien – eben nur besser. Um die Stärken des Landes auszubauen, müsse der Staat grüne Energie, Biowissenschaften, professionelle Dienstleistungen, Universitäten und andere strategische Industrien fördern und die »finanzielle Widerstandsfähigkeit« aller Haushalte unterstützen.

Dies erfordert staatliches Handeln. Reeves sprach über die Industriestrategie und ihren »Green Prosperity Plan« sowie über Institutionen wie den »National Wealth Fund« nach norwegischem Vorbild und das viel gepriesene angekündigte Unterfangen GB Energy, das oft als staatliches Unternehmen für erneuerbare Energien verkauft wird, in Wirklichkeit aber eine Neuauflage der Private Finance Initiative ist – nur eben für die Erzeugung von grünem Strom.

Hier kommt auch Starmers Vorschlag zur Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen ins Spiel: Reeves verkauft das vermeintliche Programm als »Beseitigung von Hindernissen, die Menschen daran hindern, sich zu entfalten«. Dazu müssten der NHS, die Kinderbetreuung, die Berufsausbildung und die Beschäftigungsförderung verbessert werden, »um die Menschen wieder in Arbeit zu bringen«. Vor diesem Hintergrund würde sich eine Labour-Regierung für einfachere und bessere Handelsbeziehungen mit der EU einsetzen, wenn das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich 2025 überprüft wird.

Die Rede stieß bei vielen auf Begeisterung. Martin Kettle, Mitherausgeber des Guardian und dort Kolumnist, schwärmte von einer Vision für die Sozialdemokratie und einem Bruch mit dem Blairismus.[3] Die Idee, dass die Politik die Wirtschaft gestalten sollte, stützt sein Argument, auch wenn für Reeves staatliche Eingriffe nur eine technokratische Normalität darstellen. Für sie braucht es keinen sozialistischen Anstrich wie einst bei Anthony Crosland. Es geht schlicht um ökonomische Effizienz und hat wenig mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, die selbst die Blairisten für ihre Zwecke zu beschwören pflegten.

Multilaterale Kooperation klingt auch gut, bis man sich die außenpolitische Praxis ansieht und erkennt, dass der Westen (und Japan) ihre Kräfte bündeln, um in der Weltwirtschaft führend zu bleiben. Zu Reeves’ Plan gehört auch – was Kettle nicht erwähnt, ich aber schon vor einiger Zeit angemerkt habe[4] – der Übergang zu einer tripartistischen Industriepolitik, in der Staat, Unternehmen und Gewerkschaften jeweils ein gewichtiges Wort in der Wirtschaftspolitik mitreden. Reeves fügt diesem korporatistischen Mix allerdings noch die Universitäten als weiteren »Partner« hinzu. Interessant.

Es gibt noch weitere Punkte in der Rede von Reeves und in ihrer Broschüre, die deutlich nach Blair klingen. Sie will »dynamische Märkte« und mehr Wettbewerb, was bedeutet, dass Konzerne und Monopole zerschlagen werden sollen. Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Sie will eine gewisse Deregulierung, zum Beispiel eine Reform des Planungsrechts – ganz im Sinne von Starmers jüngstem Wunsch nach mehr Bebauung im Grüngürtel. Sie verspricht eine Reform der Corporate Governance, um die kurzfristigen Shareholder-Value-Ziele zu bekämpfen, und eine Änderung der Unternehmensbesteuerung, um längerfristige Investitionen zu fördern. Letzteres klingt wie ein Schildbürgerstreich.

Aber die vielleicht wichtigste Aussage, die das britische Wirtschaftsestablishment beruhigen wird, ist das Festhalten an der Unabhängigkeit der Bank of England. Das wird wie Musik in den Ohren der City klingen. Als ehemalige Bankvolkswirtin wird sie natürlich ihre Frau in Downing Street Nr. 11, der Adresse des britischen Finanzministeriums, sein. Das bedeutet vor allem, dass die grundlegenden Beziehungen zwischen der Zentralbank, dem Finanzministerium und der City auch unter der nächsten Labour-Regierung bestehen bleiben werden, und dass die Prioritäten des Finanz- und Handelskapitals weiterhin die politischen Präferenzen, das Personal und die Gewohnheiten des zentralen Staatsapparats dominieren werden, unabhängig davon, was mit der Regierungsführung, den Regierungsstrategien und den Wirtschaftsräten geschieht.

Um die Dinge ins rechte Licht zu rücken: Sogar ein so schrecklich schwaches Kabinettsmitglied wie Kemi Badenoch, die derzeitige Wirtschafts- und Handelsministerin der Tory-Regierung, plädierte dafür, diese kuschelige Beziehung zu beenden. Aber selbst als die Bank of England unter politischer Kontrolle stand, haben die Labour-Regierungen der Nachkriegszeit die Macht der City in Frage gestellt oder ihr Bestes getan, um sie zu kultivieren?

Wenn die Labour Party ihre Umstrukturierung des Staates durchsetzt (oder zumindest halbherzig, was angesichts der Praxis wahrscheinlicher ist), ergeben sich daraus politische Chancen und Gefahren für die Arbeiterbewegung. Reeves scheint einer Rückkehr zu Tarifverhandlungen und einer Ausweitung der Arbeitnehmerrechte gelassen entgegenzusehen, aber wie wir bei den Gewerkschaften der Nachkriegszeit gesehen haben, fördert die teilweise Integration in den Staat das Wachstum der Arbeiterbewegung und bindet gleichzeitig die Gewerkschaftsfunktionäre eng an die Prioritäten der Industrie.

Um es klar zu sagen: Für die Gewerkschaften ist diese Position besser als die jetzige. Sie schafft Raum für die Konsolidierung der Gewerkschaftsbewegung, und allein aus diesem Grund gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen Labour und den Tories. Aber machen wir uns nichts vor: Was die Reevenomics bieten, ist ein günstigeres Terrain für den Kampf, kein Schlaraffenland.

Phil Burton-Cartledge ist Dozent für Soziologie an der University of Derby. Seine Untersuchung zur Konservativen Partei »Falling Down. Parliamentary Conservatism and the Decline of Tory Britain« (Verso Books 2021) erscheint im Sommer 2023 in einer überarbeiteten Taschenbuchausgabe unter dem Titel: »The Party’s Over. The Rise and Fall of the Conservatives from Thatcher to Sunak.« Der hier dokumentierte Beitrag ist zuerst am 28.5.2023 unter dem Titel »Untangling Reevenomics« auf seinem Blog All That Is Solid… erschienen. (Übersetzung: Hinrich Kuhls).

 

Anmerkungen

[1] The UK's Shadow Chancellor Rachel Reeves on her vision for Britain’s economy (»Securonomics« speech), Rede am 24. 5. 2023, Peterson Institute for International Economics, Washington DC. Video und Redemanuskript.
[2] Rachel Reeves: A New Business Model for Britain. Building Economic Strength in an Age of Insecurity. Labour Together, May 2023.
[3] Martin Kettle: Pay attention to Rachel Reeves: her economic thinking is a return to sanity. The Guardian, 24.05.2023.
[4] Phil Burton-Cartledge: Starmerism and Trade Unionism, All that is solid, 14.11.2022.

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