3. August 2024 Redaktion Sozialismus.de: Russlands Ökonomie bleibt relativ stabil

Krieg und »Wirtschaftskrieg« um die Ukraine

Die Ukraine erlebt das härteste Jahr in dem Stellungs- und Abnützungskrieg nach dem Angriff Russlands auf das Land am 24. Februar 2022. Die russische Armee verfügt über mehr Panzer, mehr Artillerie, mehr Flugzeugbomben. Die dieser Tage vom Westen gelieferten F 16-Kampfflugzeuge werden das Kräfteverhältnis nach Einschätzung von Militärexperten nicht einschneidend verschieben.

Die russischen Vorstöße der letzten Wochen haben in Teilen des Donbass eine kritische Lage geschaffen. Bedrohlicher noch ist die Abschwächung des Kampfeswillen der Ukrainer und die Kriegsmüdigkeit bei den westlichen Alliierten. Selbst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj musste unlängst einräumen, dass wohl nicht alle besetzten Gebiete »mit der Waffe in der Hand« zurückgeholt werden könnten. Realistisch war die Vorstellung von einer vollständigen Rückeroberung allerdings nie, die Ressourcen waren zu begrenzt.

Die Ukraine hat zwar aktuell den Willen, für ihr Überleben weiterzukämpfen, aber es fehlen ihr die Ressourcen und Ansätze der Übermüdung sind unübersehbar. Schließlich gibt es in vielen westlichen Unterstützungsländern gleichermaßen aufkeimenden Widerstand gegen die hohen Belastungen für Rüstungshilfe und die Hilfszahlungen für die ukrainischen Flüchtlinge.

Und auch die Bilanz im »Wirtschaftskrieg« ist eher ernüchternd. Gegen Russland wurden tausende Sanktionen wegen des völkerrechtswidrigen Angriffs verhängt. Sie betrafen die Finanzwirtschaft und den Handel sowie die Sektoren Energie, Verkehr, Technologie und Verteidigung. Im Energiesektor verfolgen sie zwei Zwecke: einerseits Russland finanziell zu schaden, andererseits Schaden für die Weltwirtschaft und die Sanktionskoalition zu verhindern – indem dafür gesorgt wird, dass russisches Öl weiterhin auf dem Markt bleibt.

Das unterscheide das Sanktionsregime gegen Russland von anderen – so Benjamin Hilgenstock, Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik: »Es werden hier sehr komplexe Eingriffe in globale Märkte vorgenommen, eben um diese verschiedenen Zielsetzungen gleichzeitig zu realisieren.«

Fakt ist, dass die politischen Ziele bislang nicht erreicht wurden. Russland führt noch immer den Krieg gegen die Ukraine fort, und Wladimir Putin autoritäres Regime ist im Inneren kaum geschwächt. Entgegen den immer wieder verkündeten politischen Erklärungen von westlichen Politikern kann für Mitte des Jahres 2024 festgestellt werden, dass sei die russische Wirtschaft weiterhin in überraschend gutem Zustand ist.

Das jüngste Sanktionspaket der EU ist zwar gerade auf den Weg gebracht, doch Russlands Wirtschaft zeigt sich überraschend robust. Der IWF verdoppelte sogar gerade seine Wachstumsprognose für das Land auf 2,6%. Die Hoffnung auf eine langfristige Schwächung von Russlands wirtschaftlicher Substanz ist wenig begründet.

Es gibt keine Anzeichen für einen wirtschaftlichen Kollaps und in dessen Gefolge breite gesellschaftliche Proteste gegen den Krieg. Das liegt wohl an drei Faktoren. Den ersten bezeichnet der Politikwissenschaftler Alexander Libman von der Freien Universität Berlin wie folgt: »Größere staatliche Militärausgaben führen dazu, dass die inländische Nachfrage steigt und auch die Löhne steigen.« Das stärke wiederum die private Nachfrage und die russische Binnenökonomie läuft rund.

Auch einen zweiten Faktor hat Libman ausgemacht: Weil viele westliche Firmen Russland verlassen haben, haben sich Marktnischen geöffnet, die nun russische Unternehmen besetzen. Hinzu kommt drittens: Die Wirksamkeit der Sanktionen wird reduziert, weil große Volkswirtschaften weiterhin Geschäfte mit Russland machen. Das Land verkauft nach wie vor Öl unter anderem nach China und Indien. Allerdings musste es niedrigere Verkaufspreise hinnehmen. Bei Gas ist es schwierig, die Transporte nach Asien umzuleiten, weil es nicht genug Pipelines gibt. Das hat zwar zu Ausfällen bei den Einnahmen geführt, diese waren aber nicht dramatisch. Russland kann die Belastungen durch den Krieg wohl tatsächlich noch einige Jahre aufrechterhalten, solange China und Indien weiter Rohstoffe dort einkaufen.

Diese Gesamteinschätzung wird durch eine neue Studie von Forschungsinstituten in Kiel, München und Wien bestätigt. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass die Sanktionen den Krieg nicht aufhalten können. Nach Ansicht von Vasily Astrov, Russland-Experte des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), haben westliche Politiker ihren Einfluss auf die Drittländer überschätzt.

Zur Wirksamkeit der Sanktionen gegenüber Drittstaaten merkt das wiiw an: »Die in Aussicht gestellten US-Sanktionen gegen Banken in Drittstaaten wie China, der Türkei oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Russland bisher bei der Umgehung der westlichen Sanktionen geholfen haben, zeigen zunehmend Wirkung. So sanken beispielsweise die russischen Warenimporte aus China im März und April des laufenden Jahres massiv. […]

Vor allem bei Dual-Use-Gütern, also Produkten, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar sind – beispielsweise Mikrochips –, war der Einbruch dramatisch«, konstatiert Astrov, schränkt aber ein: »Letztlich werden sich auch hier wieder Wege finden, diese Sanktionen zu umgehen, allerdings verteuern und erschweren sie für Russland die Beschaffung der so wichtigen Hightech-Komponenten aus dem Westen.«

Kurz nach der Invasion in die Ukraine kam es in Russland zu einer Rezession von einem Prozent. Nun befindet sich die russische Wirtschaft seit Herbst 2022 wieder im Aufschwung, im vergangenen Jahr wuchs sie um 3,6%. Das wiiw veröffentlichte am 2. Juli seine »Sommerprognose« zur Entwicklung der Volkswirtschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Seine Voraussage für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft erhöhte es auf 3,2%.

Einen Tag später veröffentlichte das russisches Statistikamt Rosstat weitere wichtige Konjunkturdaten für Mai, unter anderem zur Entwicklung von Verbrauch und Einkommen. Das reale Wachstum der Einzelhandelsumsätze schwächte sich im Vorjahresvergleich im Mai zwar weiter ab, erreichte aber noch 7,5&. In den ersten fünf Monaten war der reale Einzelhandelsumsatz 9,3% höher als im Vorjahreszeitraum. Die Reallöhne waren im April 8,5% höher als ein Jahr zuvor. In den ersten vier Monaten übertrafen die Reallöhne ihr Vorjahresniveau um 10,5%. Die Arbeitslosenquote stagnierte im Mai auf dem im April erreichten historischen Tief von 2,6%,

Die enormen staatlichen Ausgaben für den Krieg – rund ein Drittel des föderalen Budgets oder 6% des BIP – befeuern die Konjunktur und kommen auch vielen anderen Sektoren zugute. Der gravierende Mangel an Arbeitskräften durch den Fronteinsatz hunderttausender Männer und Emigration ins Ausland treibt die Löhne und den privaten Konsum. Die Bauwirtschaft hat massiv vom Ausbau der Militär- sowie der Transport- und Logistikinfrastruktur Richtung Asien profitiert.

Dazu kommen sehr hohe Löhne für Frontsoldaten und Entschädigungen an Kriegsversehrte und Hinterbliebene von Gefallenen, die zusätzliches Geld in die Wirtschaft pumpen. »Das führt zu einer Umverteilung von oben nach unten, was leider auch die Sympathien für den Krieg in der Bevölkerung fördert«, sagt Vasily Astrov. Allerdings wird auch eingeschätzt, dass aufgrund dieser Faktoren das Wachstum nicht nachhaltig und die russische Wirtschaft überhitzt ist.

Die Inflation liegt bei 8%, die Zentralbank versucht, sie mit einem hohen Leitzins zu bekämpfen. Der Handelsüberschuss ist massiv geschrumpft, was die für makroökonomische Stabilität und auch für den politischen Spielraum einen erheblichen Unterschied ausmacht. Eine weitere Einschränkung gibt es durch die Einfrierung von Vermögen seitens des Westens, darunter vor allem die Tatsache, dass die russische Zentralbank auf Reserven von 300 Milliarden Dollar nicht zurückgreifen kann. Ein Teil der Zinsen wird von der EU zum Ankauf von militärischer Ausrüstung für die Ukraine eingesetzt.

Auch Russlands Reserven zum Ausgleich der Haushaltsdefizite schwinden nach und nach. Aus dem Wohlfahrtsfonds musste das Land dafür bereits ein Viertel entnehmen. Das staatliche Unternehmen Gazprom hat 2023 mehr als sechs Milliarden Euro Verluste gemacht. Die russische Regierung gibt 38% für Militär, Geheimdienst und Polizei aus. Der Präsident und die Regierung haben bereits die Steuern auf hohe Einkommen und die Körperschaftssteuer erhöht. Die russische Ökonomie ist von Produktion, über den Einsatz von Arbeitskräften bis hin zu Umschichtung im Warenangebot auf einen Kriegsmodus ausrichtet.

Die gewaltigen Ausgaben des russischen Staatshaushaltes für die Verteidigung sind eine gewaltige Hypothek für die wirtschaftliche Zukunft darstellt. Branchen wie der IT-Sektor, künstliche Intelligenz, aber auch Gesundheit und Wissenschaft leiden darunter, die aber von zentraler Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit sind.

Zu den kritischen Wirkungen auf die russische Wirtschaft gehört auch die tendenzielle Abkoppelung von der westlichen Produktivitätsentwicklung. Russland hat aber nach wie vor Zugang zu Technologiegütern dank China, Indien, einigen arabischen Staaten, der Türkei, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Armenien. Und wenn das Land keine Mikrochips kaufen darf, werden Waschmaschinen aus westlicher Produktion bestellt, um die nötigen Bauteile für die Steuerung von Drohnen zu bekommen.

Laut dem ukrainischen Präsidialamt beliefern etwa 250 westliche Unternehmen Russland indirekt mit Komponenten für Waffen. Das geschieht meist verdeckt, da die Hersteller nicht nachvollziehen können, wohin die Kunden die Produkte weiterverkaufen. Das neue EU-Sanktionspaket sollte das verhindern, 26 Mitgliedsstaaten wollten die »No-Russia«-Klausel auf Tochterunternehmen ausweiten, die sich nicht in der EU befinden.

Die deutsche Bundesregierung hat das abgelehnt, weil der Aufwand zu hoch sein soll. Für eine Verschärfung der Sanktionen sehen die meisten Experten kaum Potenzial. Erstens weil China und Indien sie wahrscheinlich nicht mittragen werden, und zweitens, weil unklar ist, ob die Sanktionen nicht auch den Westen selbst treffen können. Ein größerer Realismus in Sachen Sanktionen könnte politisch hilfreich sein.

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