23. März 2021 Otto König/Richard Detje: Droht nach staatlichen Repressionen ein Verbot der HDP?

Kriminalisieren, marginalisieren, zerschlagen

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Ein kaum zu überbietender Zynismus: Während der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan großspurig einen umfangreichen »Aktionsplan Menschenrechte«[1] ankündigte, verschärfte die islamitisch, ultranationalistische AKP/MHP-Allianz ihre Politik der Einschüchterung, Verhaftungen und Angriffe gegen Studierende, Journalisten, Aktivisten und insbesondere Politiker:innen der linken »Demokratischen Partei der Völker« (HDP).

Mehr als 700 ihrer Anhänger:innen wurden in den zurückliegenden Wochen festgenommen. Von 28 Abgeordneten der HDP in der Großen Nationalversammlung in Ankara soll die Immunität aufgehoben werden – darunter die Kovorsitzende der Partei, Pervin Buldan.

Erdoğans ultranationalistischer Koalitionspartner, der rechtsextreme Chef der »Milliyetci Hareket Partisi« (MHP), Devlet Bahceli, fordert sogar ein Verbot der HDP und mahnt die Gerichte zur Eile. Seiner »Anweisung« ist der Generalstaatsanwalt des Obersten Gerichtshofs untertänigst gefolgt und hat eine entsprechende Klageschrift mit der Begründung, »HDP-Mitglieder hätten mit Aussagen und Handlungen beabsichtigt, die Integrität des Staates zu untergraben«, beim Verfassungsgericht eingereicht, so die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.

Seit Mitte Januar bei einer fehlgeschlagenen Operation des türkischen Militärs 13 türkische Geiseln im Nordirak zu Tode kamen,[2] machen Erdoğan und Bahceli nicht nur die »Arbeiterpartei Kurdistans« (PKK), sondern auch die HDP als »Handlanger der Terrororganisation« für das Massaker verantwortlich. In den staatlichen Medien trat der türkische Innenminister Süleyman Soylu (AKP) eine Welle der Hetze gegen die HDP, den »Staatsfeind Nummer eins«, los: »Eine Partei, die die PKK nicht als terroristische Organisation definiert und sich nicht von ihr distanziert, kann keine politische Partei dieses Landes sein.« Damit sprach Soylu der HDP das Existenzrecht ab.

Seit die HDP im Juni 2015 bei den Parlamentswahlen 13% der Stimmen erzielen konnte und damit die »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (AKP) ihre Regierungsmehrheit verlor, ist die linke Oppositionspartei Ziel zunehmender staatlicher Repressionen. Aus der von der HDP-Führung im Dezember 2020 vorgelegten »Zwischenbilanz« geht hervor, dass seit Sommer 2015 16.490 HDP-Mitglieder, Abgeordnete, Kreisvorsitzende und einfache Parteimitglieder festgenommen und 3.695 HDP-Mitglieder verhaftet wurden. Darunter der frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş, der selbst nach einem entsprechenden Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) vom türkischen Staat nicht freigelassen wird.

Im Bericht des »Ausschusses für Kommunalverwaltungen« der HDP über die »Folgen der Zwangsverwaltung von Kommunen in Nordkurdistan« heißt es: 48 Gemeinden, darunter drei Metropolregionen, fünf Provinzen und 33 Distrikte, wurden unter Zwangsverwaltung gestellt. 72 Bürgermeister:innen wurden festgenommen und 37 von ihnen, darunter 19 Frauen, inhaftiert. Sieben Bürgermeister:innen wurden unter Hausarrest gestellt, sechs von ihnen sind seit zehn Monaten im Hausarrest (ANF-News, 24.02.2021).

Ein weiteres Vorzeichen für einen größeren Angriff auf die HDP, mit dem Ziel die linke Partei zu marginalisieren bzw. faktisch zu zerschlagen, sind die Anträge an die türkische Nationalversammlung, die Immunität von 28 HDP-Parlamentarier:innen aufzuheben. Die HDP ist mit aktuell noch 56 Sitzen die zweitgrößte Oppositionspartei in der Türkei. Die angeführten Begründungen sind im höchsten Maße absurd bzw. greifen willkürlich auf Vorgänge vor sechs Jahren zurück.

So wirft die Generalstaatsanwaltschaft Ankara dem 49-Jährigen Garo Paylan die »Billigung von Straftaten oder das Loben von Verbrechern« vor, da er im März 2019, wenige Tage vor der Kommunalwahl, auf die »unrechtmäßige Untersuchungshaft« der drei HDP-Politiker:innen anspielend gesagt hatte: »Für den lieben Selahattin Demirtaş, die liebe Figen Yüksekdağ und die liebe Leyla Güven sollten wir den Tyrannen an den Wahlurnen ihre wohlverdiente Lektion erteilen.« Der Arzt und Menschenrechtsaktivist Ömer Faruk Gergerlioglu soll ins Gefängnis, weil er sich mit den Protesten der Lehrenden und Studierenden der Bogazici Universität in Istanbul solidarisiert hat.

Neun HDP-Abgeordneten soll die Immunität wegen des »Kobane-Verfahrens« entzogen werden. Insgesamt sind in diesem Prozess 108 Personen angeklagt. Ein Großteil von ihnen sind HDP-Politiker:innen und Aktivisten der kurdischen Zivilgesellschaft. In diesem Verfahren geht es um Proteste gegen die türkische Unterstützung der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS), die im Oktober 2014 die nordsyrische Stadt Kobane überfallen hat. Die Staatsanwaltschaft fordert wegen »Zerstörung der Einheit des Staates und der Gesamtheit des Landes« lebenslange Haft für die Angeklagten.

Für den Rechtswissenschaftler und Dozenten an der Dicle Universität in der kurdischen Stadt Diyarbakir, Vahap Coskun, stellen die Angriffe gegen die HDP eine Fortsetzung der Politik dar, die Erdoğan seit 2015 verfolgt. Damals hatte er sich bemüht, mit der PKK Frieden zu schließen. Als er dadurch Stimmen im nationalistischen Lager verlor und die HDP ins Parlament einzog, verabschiedete er sich von dem Vorhaben. Die Repressionsschrauben wurden weiter angezogen, nachdem die HDP sich bei den Kommunalwahlen im März 2019 als »Königsmacher« in Position brachte. Sie verzichtete in einigen Städten auf eigene Kandidaten und rief stattdessen ihre Wähler:innen dazu auf, den Kandidaten der kemalistischen »Republikanischen Volkspartei« (CHP) ihre Stimmen zu geben.

Diese wohldurchdachte Strategie führte u.a. in den Millionenstädten Ankara und Istanbul zur ersten Wahlniederlage des autokratischen Präsidenten und der Regierungspartei AKP. Seither erhöhen der Hausherr im »1000-Zimmer-Palast« in Ankara und seine Vasallen stetig den Druck auf die linksgerichtete Partei. Doch selbst die willkürlichen Verhaftungen und die ständige Brandmarkung als »politischer Arm der Terrorgruppe PKK« konnten ihre Erfolge bislang nicht schmälern. In diesem Kontext ist das Drängen des rechtsextremen MHP-Vorsitzenden Devlet Bahceli einzuordnen, die HDP zu verbieten und damit für die Präsidentschaftswahlen 2023 auszuschalten.

Die MHP ist antikommunistisch, antikurdisch und auch antiwestlich. In den 1960er/1970er Jahren war es die Mission der MHP, die türkische Linke, die damals erstarkte, zu bekämpfen. Sie wurde 1969 vom ehemaligen Oberst einer Spezialeinheit, Alparslan Türkes, gegründet, der in den USA ausgebildet worden war. Die mit ihr verbundene rechtsterroristische Organisation der »Grauen Wölfe«[3] überzogen das Land in den 1970er Jahren mit Todesschwadronen. »Die MHP war im Grunde eine faschistische Kampftruppe, die linke Studenten, Hochschullehrer und Gewerkschafter tötete«, so der türkische Politologe Halil Karaveli im Deutschlandfunk (27.01.2021).

So wie der türkische Staat in den 1960er Jahren und danach die Linke als Hauptfeind betrachtete und die MHP als Waffe einsetzte, um sie auszuschalten, sind es heute die Kurden, die dem Staat als Hauptfeind gelten – und wieder wird die MHP als Stoßtruppe eingesetzt, wenn auch etwas weniger brutal als damals. »Die MHP ist der Motor bei dem Versuch, unsere Partei zu kriminalisieren«, so der Co-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar im Interview mit der ARD.

Politisch und ideologisch ist die ultranationalistische MHP der »natürliche« Feind jeglichen kurdischen Bestrebens nach Selbstbestimmung, außerdem fungiert sie als Mehrheitsbeschaffer für Erdoğan. Als die AKP im Juni 2015 ihre parlamentarische Mehrheit verlor, setzte Erdoğan auf eine Allianz mit der MHP, was ihm bei den Neuwahlen im November 2015 wieder zur Mehrheit im Parlament verhalf. Seitdem ist Erdoğan zum Erhalt seiner Macht auf den Rechtsextremen Bahceli angewiesen. Mehr noch, Beobachter wie der im deutschen Exil lebende Journalist Can Dündar sind der Auffassung, Erdoğan sei den Nationalisten inzwischen regelrecht ausgeliefert.

Allerding ist davon auszugehen, dass Erdoğan in der AK/MHP-Allianz weiterhin das Sagen hat und es ihm ganz recht ist, dass Bahceli öffentlich auf ein Verbot der HDP und ein aggressives Auftreten gegen den Westen drängt. So ist auffällig, dass Erdoğan sich beim Thema HDP-Parteiverbot bisher bedeckt hält. Auch der französische Politologe und Fellow des Istanbul Policy Centers, Yohanan Benhaim, schätzt ein, dass es für Erdoğan »viel effektiver« ist, sich die HDP »als Zielscheibe zu erhalten, um den Boden für die Opposition zu verminen«. Ein Verbot würde zwar nationalistische Wähler:innen befriedigen und das Bündnis mit der MHP stärken, aber Erdogan könnte damit konservative kurdische Wähler:innen vergraulen. So ist es eher sein Ziel, die HDP mit allen Mitteln unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken, damit sie bei der nächsten Wahl im Jahr 2023 nicht ins Parlament einzieht. »Es geht darum, uns komplett lahmzulegen, also die politische Arbeit unmöglich zu machen, ohne sich den Vorwurf einzufangen, man würde eine unliebsame Oppositionspartei verbieten«, meint Mithat Sancar.

Zumal es Erdoğan mithilfe seines nationalistischen Kurses immer wieder geschafft hat, die Oppositionsparteien CHP und die iYi-Partei mit ins Boot zu holen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass nationalistische Ideologien und Misstrauen gegenüber der Kurdenbewegung in vielen türkischen Parteien verbreitet sind. Beispielsweise wurde mit den Stimmen der CHP 2016 die Immunität von zwölf HDP-Parlamentariern aufgehoben, darunter die beiden Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, was zur ihrer anschließenden Verhaftung und Inhaftierung bis zum heutigen Tag führte. Auch bei den Abstimmungen in der Großen Nationalversammlung über die türkischen Militärinterventionen in Nord-Syrien und im Nord-Irak gab es über alle Parteien hinweg eine gemeinsame türkisch-nationalistische Front mit Ausnahme der HDP, die gegen die völkerrechtswidrigen Angriffskriege votierte.

In dieser Situation ist es entscheidend, wie sich die übrigen Oppositionsparteien und die Zivilgesellschaft in der Türkei im Zusammenhang mit den aktuellen Repressionsmaßnahmen gegen die HDP verhalten werden. Denn solange die türkische Regierung es schafft, die HDP an den Rand zu drücken und zu isolieren, wird die Opposition nicht erfolgreich sein. Einen kleinen Hoffnungsschimmer kann man darin erblicken, dass sich die anderen Oppositionsparteien gegenüber Begehren nach Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten differenzierter verhalten als vor vier Jahren. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu erklärte, solange es keine unabhängige Justiz gebe, würden Anklagen gegen HDP-Abgeordnete »die Demokratie verraten«. Und selbst Meral Akşener, Chefin der mitte-rechts orientierten IYI-Partei betonte, man werde jede Akte genau prüfen, bevor man für oder gegen eine Aufhebung der Immunität stimme.

Sollte es wirklich zu einem Verbot kommen, sei die HDP »auf alle Eventualitäten vorbereitet und wird einen Weg finden, den politischen Kampf weiterzuführen«, so die Co-Vorsitzende Pervin Buldan gegenüber ausländischen Journalisten in Istanbul. In der Vergangenheit wurden immer wieder prokurdische Parteien verboten, doch deren Mitglieder organisierten sich kurz darauf stets in neuen politischen Formationen. So machte die Parteispitze unmissverständlich klar, dass sie umgehend eine neue Partei gründen werde, sollte die HDP verboten werden.

Nach einem Gespräch mit den Pervin Buldan und Mithat Sancar sowie mit der außenpolitischen Sprecherin der HDP, Feleknas Uca und der ehemaligen HDP-Bürgermeisterin von Cizre, Leyla Imret, äußerte die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, ihre Sorge über die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. »Kriminalisierung von Regierungskritik ist mit EU-Werten unvereinbar, Diffamierung von gewaltfreiem Protest als Unterstützung für Terror ist zynisch«, so Kofler. Doch zu Konsequenzen Deutschlands gegenüber dem Erdoğan-Regime wird dies voraussichtlich nicht führen. So ist es zu verstehen, wenn Mithat Sancar zum Ausdruck brachte, dass »sein Vertrauen in Deutschland« gelitten habe. Die Außenpolitik der Bundesregierung ist von den Themenfeldern Wirtschaft, Sicherheit und Flüchtlinge bestimmt. »Doch im Verhältnis mit der Türkei müssen auch Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Frieden vermittelt werden«, fordert der HDP-Co-Vorsitzende.

Anmerkungen

[1] Zu diesem »Aktionsplan Menschrechte« gehört auch der jetzt vollzogene Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention, in der es um den Schutz von Frauen vor Gewalt geht. Siehe dazu auch: Otto König/Richard Detje: Proteste gegen Femizide (Frauenmorde) in der Türkei, in: Sozialismus.deAktuell 17. August 2020.
[2] Es ist nach wie vor ungeklärt, wie die im Nordirak gefangen gehaltenen 13 türkischen Soldaten und Geheimdienstmitarbeiter starben. Nach Angaben der türkischen Militärs wurden sie getötet, als ein Sonderkommando eine Höhle mit dem Ziel angriff, die Gefangenen zu befreien. Nach Darstellung der PKK hat die türkische Luftwaffe ein Camp bombardiert, von dem sie wusste, dass dort auch Gefangene festgehalten würden. Um herauszufinden, was im Gefangenenlager in den Gare-Bergen tatsächlich passiert ist, fordert die HDP eine unabhängige, internationale Untersuchungskommission vor Ort und die Obduktion der 13 Leichen. Erdoğan bezeichnete alle, die dies fordern, sofort als »Terroristenhelfer«.
[3] Siehe auch Otto König/Richard Detje: Graue Wölfe in Deutschland. Erdoğans rechtsextreme Gehilfen, Sozialismus.deAktuell 25. Januar 2021.

 

 

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